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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Der ländliche Raum und Mittelstädte im demografischen Wandel

 
       
   

Abschied von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse oder Rückbesinnung der Politik auf die Stärkung von Gebieten jenseits der Großstädte und Ballungszentren? Eine kommentierte Bibliografie der Debatte (Teil 7)

 
       
     
   
     
 

Vorbemerkung

Urbanität gilt in der Wissenschaft seit langem als Leitbild und spätestens seit neoliberale Standortortpolitik und Identitätspolitik eine Liaison eingegangen sind, wurde der ländliche Raum abgeschrieben. Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme hat dazu beigetragen, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kein Wert mehr ist, sondern das angeblich Alternativlose wurde auch noch politisch gefördert. Seit jedoch der Rechtspopulismus den neoliberalen Konsens gefährdet, wurde auch in Deutschland der ländliche Raum als Möglichkeit zur politischen Profilierung entdeckt. Die kommentierte Bibliothek soll einen Überblick über diese Debatte ermöglichen.   

Kommentierte Bibliografie (Teil 6: 2019)

2019

LASCH, Hendrik (2019): Schlechte Zeiten für die Regionalbahn 110.
Sachsen: Das sächsische Nossen ist seit 2015 vom Zugverkehr abgehängt, schöpft vor der Landtagswahl 2019 aber Hoffnung,
in:
Neues Deutschland v. 02.01.

RINGLE, Anna (2019): Der Riss geht mitten durch Welzow.
Brandenburg: In der Kleinstadt im Lausitzer Kohlerevier fürchten die einen um ihre Arbeitsplätze und die anderen um ihre Häuser,
in:
Neues Deutschland v. 04.01.

LASCH, Hendrik (2019): Pop-up-Dinner in der Provinz.
Sachsen-Anhalt: Viele Industriebrachen, viel Platz und ein Faible für moderne Kunst: Die Kleinstadt Zeitz bietet sich als Zuflucht für verdrängte Großstädter an - zum Beispiel aus Leipzig,
in:
Neues Deutschland v. 02.01.

CREUTZBRUG, Dietrich (2019): Rente mit 55 für Braunkohle-Beschäftigte?
Gewerkschaft fordert milliardenschweres "Anpassungsgeld". Spitzengespräch im Kanzleramt,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.01.

JUNG, Hagen (2019): Prora nun restlos ausverkauft.
Mecklenburg-Vorpommern: Im ehemaligen NS-Koloss entstehen weitere 200 Wohnungen - Alte Geschichten um U-Bahn und U-Boot,
in:
Neues Deutschland v. 16.01.

DROST, Frank M. & M. STREIT (2019): Gespaltenes Land.
Deutsche Wohnimmobilien bleiben gefragt, allerdings wohl auf Dauer nicht überall. Sorgen machen sich Investoren mittlerweile vor allem über große Markteingriffe in den Metropolen,
in: Handelsblatt
v. 17.01.

"Trends wie eine zunehmende Verstädterung und die Überalterung der Gesellschaft führen Experten zufolge zu einer Spaltung des Marktes in beliebte und weniger beliebte Regionen",

behaupten DROST & STREIT. Belege bleiben sie jedoch schuldig. Vielmehr wird umgekehrt die Demografie dazu benutzt, um Baupolitik zu betreiben:

"Entspannen könnte sich die Lage, wenn die Städte schrumpfen. Der demografische Wandel wird oft als ein Faktor zitiert, warum jetzt trotz aller Wohnungsnot nicht überbordend gebaut werden sollte."

Der Beamte Bernd RAFFELHÜSCHEN, der an einem Forschungsprojekt zu regionalen Wohnungsmärkten arbeitet, sieht nicht die Entwicklung der Bevölkerungszahlen, sondern die Haushaltszahlen als entscheidend an:

"Bundesweit werden bis 2030 bis zu sechs Prozent mehr Haushalte eine Wohnung nachfragen als 2015, obwohl die Bevölkerung bereits 2021 schrumpfen werde."

Ob die Bevölkerung im Jahr 2021 tatsächlich schrumpfen wird, das bleibt abzuwarten. Derzeit wächst sie, obwohl gemäß den Bevölkerungsvorausberechnungen aus den Nuller Jahren längst das große Schrumpfen (Cordula TUTT) hätte beginnen müssen. Eine Bevölkerungsdifferenz von 1,5 Millionen Menschen wie sie der Zensus 2011 mitbrachte, hatte niemand wirklich bemerkt! Ein Singularisierungstrend soll angeblich die Haushaltsgrößen weiter sinken lassen, auch dies ist eher spekulativ. Die Thesen zur Singularisierung, die in den 1990er Jahren die Debatte prägten, haben sich jedenfalls als falsch erwiesen. Zur regionalen Entwicklung der Immobilienmärkte will die Postbank in ihrem Wohnatlas Genaues wissen:

"Bis 2030 steigen demnach die Preise in Heilbronn mit 2,99 Prozent am stärksten. (...). Die größten Wertverluste verbuchen dagegen 34 Landkreise im Osten Deutschlands. Den stärksten Einbruch sagt die Studie der Kreisstadt Suhl in Süd-Thüringen voraus. Dort sollen die Preise um 5,52 Prozent pro Jahr fallen. Der Landkreis Hof in Bayern ist mit einem erwarteten jährlichen Wertverlust von 2,35 Prozent der schwächste Kreis in den alten Bundsländern."

Das Jahr 2030 wird zeigen, ob diese Prognose zutrifft, denn etliche Prognosen sind in der Vergangenheit krass daneben gelegen.    

RADA, Uwe (2019): Ein Dorf gehört sich selbst.
Brandenburg: Nichts ungewöhnliches: Hobrechtsfelde ist eine Siedlung vor den Toren Berlins. Höchst ungewöhnlich: Das Dorf gehört komplett seinen Bewohnern. Die Mieten sind mehr als erträglich. Wie geht so was?
in:
TAZ v. 17.01.

SCHIRRMEISTER, Frank (2019): Im Kaff.
Fotografie: Eine Müdigkeit liegt über dem Land: Ute und Werner Mahler fragen in ihrem Langzeitprojekt nach dem Wesen der Kleinstadt,
in:
Freitag Nr.3 v. 17.01.

Frank SCHIRRMEISTER stellt das Buch Kleinstadt vor und fragt:

"Erinnert sich noch jemand? Vor etwa zehn, 15 Jahren waren die Schrumpfenden Städte der große Hit im akademischen und künstlerischen Diskurs. (...). Man nahm an, dass die Wachstumsepoche seit der Industrialisierung zu Ende gegangen sei und die demografische Entwicklung  zu weiter schrumpfenden Großstädten führen würde. Was für ein Irrtum! Ebenso wie sämtliche Prognosen über das Aussterben der Deutschen, mit denen alle Rentenkürzungen begründet wurden, hat sich auch die Voraussage eines dramatischen Bevölkerungsrückgangs in den großen Ballungsräumen als Humbug erwiesen. Die Metropolen (...) ächzen unter ihren Wachstumsschmerzen und den explodierenden Wohnkosten. (...).
Diese Entwicklung hat freilich eine erhebliche Kehrseite, nämlich das Ausbluten der Klein- und Mittelstädte, von den Dörfern gar nicht zu reden."

Das Fotobuch ist ambitioniert:

"Im Buch gibt es keinerlei Ortsangaben, ihre Arbeit ist vielmehr der Versuch, die Kleinstadt an sich als prototypischen Lebensraum zu skizzieren. Kriterium für die Auswahl der Reiseziele war es, Orte zu finden, die in keinem Reiseführer stehen, weit weg von der Autobahn sind und auch sonst keine Attraktionen oder Unternehmensansiedlungen aufweisen. Die »übersehenen Kleinstädte«, wie Ute Mahler sie nennt."

Es geht also keineswegs um die prototypische Kleinstadt, sondern um die Zuspitzung des derzeitigen demografischen Hypes, das ein Stereotyp der abgehängten Region bedient. Sinnvoller wäre es dagegen die Vielfalt von Kleinstädten bis 20.000 Einwohner aufzuzeigen. Zudem wird der Fokus auf die Jugend gelegt, denn:

"Geht die Jugend, stirbt die Stadt. Jugend steht somit als Metapher für die Hoffnung auf Zukunft."

Als vor Jahren das Aussterben der Deutschen medial inszeniert wurde, waren Kinder die Zukunft, nun also die Jugend. Volk ohne Jugend hieß ein 1932 erschienenes Buch des damaligen Herwig BIRG, der Friedrich BURGDÖRFER hieß. Das Bewusstsein bestimmt das Sein könnte man diese Art der Demografie-Erzählung auch beschreiben. Kaum waren die Nationalsozialisten an der Macht, war das Volk ohne Jugend kein Thema mehr, sondern das Volk ohne Raum. Die neoliberale Erzählung drehte das einfach um: Raum ohne Volk heißt es seitdem in vielen Varianten. Müssen also erst die Rechten ans Ruder?

Für jene, die nur über ein Kurzzeitgedächtnis verfügen: Die Jugend in den 1970er Jahren war in den Kleinstädten genauso öde wie sie hier beschrieben wird. Es war die Zeit bevor jene öffentlichen Räume für Jugendliche entstanden, die nun wieder vermisst werden.      

DEMLING, Alexander & Anna GAUTO (2019): Brückenschmerzen.
Viele Eisenbahnbauten gammeln vor sich hin - auch weil sich der Verfall für die DB lohnt. Der ganze Irrsinn zeigt sich an einer Brücke in der Heimat es Verkehrsministers. Ein Lehrstück über falsche Anreize,
in: Handelsblatt
v. 18.01.

Ein Lehrstück über falsche Anreize? Eher ein Lehrstück über die Berichterstattung in den Medien. Warum kommt gerade jetzt eine Brücke in den Fokus des Handelsblatt, obwohl das Problem nicht neu ist? Man muss bis auf die zweite Seite des Artikels lesen, um zum Anlass zu kommen:

"20 Milliarden Euro fließen im Rahmen der LuFV II zwischen 2015 und Ende 2019 in die Erneuerung des Schienennetzes, 7,5 Milliarden mehr als in der Fünfjahresperiode zuvor. Fas alles Steuergeld, nur einen geringen Teil finanziert die Bahn aus Eigenmitteln. Die dritte LuFV soll dieses Jahr verhandelt werden. Ab 2020 bekommt die Bahn dann frisches Geld, sie selbst fordert, den Betrag von jährlich vier bis 2023 auf 6,4 Milliarden Euro anzuheben. Und einen Teil des Nachschlags wird sie wohl auch bekommen."

Anlass ist ein auslaufender Vertrag zwischen Bund und Bahn, der kurz LuFV genannt wird, was Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung heißt. Auch die betrachtete Brücke ist kein Zufall oder hat etwas mit dem Verkehrsminister zu tun, sondern an der Bogener Brücke zeigt sich exemplarisch ein extremer Interessenkonflikt, der als Normalfall dargestellt wird, aber die derzeitig typische Form der Berichterstattung widerspiegelt.

"Laut einer Untersuchung der Grünen Fraktion aus dem Jahr 2017 haben 1.086 Bahnbrücken in Deutschland so massive Schäden, dass sich eine Renovierung nicht mehr lohnt. Fast die Hälfte der über 25.000 Bahnbrücken ist der Analyse zufolge älter als 80 Jahre. In Bayern weise ein Drittel aller Bahnbrücken teils gravierende oder »umfangreiche Schäden« auf. Eine davon ist die Brücke in Bogen",

berichten DEMLING & GAUTO. In der Pressemitteilung So kaputt ist das deutsche Bahnnetz der Grünen vom 7. September 2017 ist folgendes zu lesen:

"Wie schon im Jahr 2014 haben wir Grüne im Bundestag den Zustand unserer Schieneninfrastruktur in Deutschland abgefragt. In 16 Kleinen Anfragen haben wir uns einen Überblick über alle 25.700 Bahnbrücken verschafft. (...).

• In Brandenburg hat sich der Zustand der Bahnbrücken weiter verschlechtert, inzwischen ist jede zehnte der gut 800 Brücken dringend sanierungsbedürftig.
• Von Berlins 904 Brücken ist jede zwölfte abrissreif.
• In Hamburg ist die hochfrequentierte Brücke an der Sternschanze in solch einem schlechten Zustand, dass auch sie vollständig abgerissen und neuerrichtet werden müsste.
• In Baden-Württemberg sind 101 Brückenbauwerke nicht mehr zu retten – gleich 10 Brücken mehr als noch 2014.
• In Nordrhein-Westfalen haben ganze 40 Prozent aller Brücken umfangreiche, zum Teil gravierende Schäden.
•In Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern sind es jeweils noch immer ein Drittel aller Bahnbrücken.

Im Durchschnitt sind unsere Eisenbahnbrücken 65 Jahre alt. Deutschlandweit sind 1.100 Brücken so stark beschädigt, dass nur noch ein Abriss und Neuaufbau vertretbar ist. (...).
662 Brücken der 1.100 Brücken in der schlechtesten Zustandskategorie 4 der Deutschen Bahn waren auch schon bei unseren letzten Anfragen 2014 in diesem desolaten Zustand. (...).
Das Durchschnittsalter der 1.100 marodesten Brücken Deutschlands liegt schon jetzt bei 86 Jahren. 554 dieser Brücken wurden im Jahr 1927 gebaut und wurden somit schon während des Zweiten Weltkriegs genutzt. Die mit Abstand ältesten Brücken sind in Sachsen und Thüringen zu finden. Die bundesweit älteste Brücke steht in Saalfeld/Saale, unweit vom ICE-Bahnhof entfernt. Sie wurde bereits 1871 in Betrieb genommen und zählt damit stolze 146 Jahre."

Daran fällt auf: Bei der Grünen-Pressemeldung liegt das Durchschnittsalter der 1.100 marodesten Brücken bei 86 Jahren, während bei DEMLING & GAUTO 50 Prozent aller 25.700 Brücken älter als 80 Jahre sein sollen.

Die Grünen haben für jedes Bundesland eine kleine Anfrage durchgeführt. Die Antworten werden nur für das Jahr 2014 aufgelistet. In der Stellungnahme der Bundesregierung für das Jahr 2014 heißt es zum Alter der Brücken in Deutschland:

"Das Durchschnittsalter der Eisenbahnbrücken in Deutschland liegt bei 55,9 Jahren"

Das Durchschnittsalter aller deutschen Eisenbahnbrücken kann also jetzt kaum über 80 Jahre sein wie das Handelsblatt behauptet.

In der Kategorie 4 (marode) heißt es 2014 zu Bayern:

"Nach Mitteilung der DB Netz AG sind im Freistaat Bayern 175 von 4.618 Brücken in der Zustandskategorie 4 eingestuft"

2017 heißt es dann in der Bundestags-Drucksache 18/12243:

"In Bayern gibt es 4.734 Eisenbahnbrücken, davon sind 152 Brücken der Zustandskategorie 4 (dringend sanierungsbedürftig) zuzuordnen"

Das Durchschnittalter der Brücken in Bayern wird mit 61 Jahren angegeben, 2.081 Brücken sind älter 2.081 Brücken sind älter als 80 Jahre. Das heißt, dass ca. 44 Prozent aller Brücken in Bayern älter als 80 Jahre sind. Die Bahnbrücke bei Bogen wurde in die Kategorie 3 eingestuft, heißt es im Handelsblatt. in der Antwort der Bundesregierung gibt es für Straubinger Strecken keine einzige aufgeführte Brücke, die über 100 Jahre alt ist. Für die Strecke Straubing - Bogen werden drei Brücken angegeben: Strecken-Km 5,0 + 33 (7 Jahre), 9,5 + 19 (90 Jahre) und 9,1 + 87 (63 Jahre)

Die vom Handelsblatt auf 124 Jahre alte Brücke wird von der Bahn also mit dem Alter von 63 Jahren angegeben. Des Rätsels Lösung scheint: Die Brücke wurde 1946 nach einer Sprengung der alten Brücke wiederaufgebaut. Der Zeitpunkt der Bahnerhebung wäre dann aber das Jahr 2009 gewesen. Es gibt also merkwürdige Unstimmigkeiten.

Die Brücke bei Bogen wurde deshalb ausgewählt, weil der Bahnstrecke nach Bogen zum einen die Stilllegung droht und zum anderen die Brücke für die Schifffahrt ein Ärgernis darstellt. Damit sind wir mitten im Interessenkonflikt um die Infrastruktur in Deutschland:

"Das 10.000-Einwohner-Städtchen wäre dann vom Zugverkehr abgeschnitten. Bis Anfang der 1990er fuhr die Bahn nach dem Halt in Bogen noch bis Miltach kurz vor der tschechischen Grenze. Heute ist in Bogen Endstation. Die Stadt lebt von der Autozulieferindustrie. Dingolfing mit seinem BMW-Werk ist nur etwa 40 Kilometer entfernt. Würde der Bahnverkehr stillgelegt, wäre Bogen mit einem Mal tiefste Provinz."

Die Kleinstadt Bogen ist durch ihre 77 Ortsteile und die dadurch entstehende Zersiedelung geprägt       

JUNG, Alexander (2019): Ratlos im Rathaus.
Gerechtigkeit: Wie hoch die Lebensqualität in Deutschland ist, hängt vor allem davon ab, wo man wohnt. Reiche Städte überbieten sich mit günstigen Angeboten für ihre Bürger. Arme Städte erhöhen die Gebühren. Der Abstand wächst,
in:
Spiegel Nr.4 v. 19.01.

Während der vom Fälscher-Skandal geplagte Spiegel auf 2058 Städte in Deutschland kommt, listet Wikipedia 2056 Städte auf (Stand: 01.01.2019). Alexander JUNG berichtet über das klamme Hagen, Bünde in Westfalen (Protest gegen Beteiligung von Anwohnern an Straßenbaukosten), Kaiserslautern und Geestland bei Bremerhaven.

In Zeiten, in denen der Soli abgebaut werden soll, wird eine neue Kluft eröffnet:

"Die Trennlinie verläuft nicht (...) zwischen alten und neuen Ländern. (...). Die Problemstädte konzentrieren sich auf den Südwesten - dort, wo früher das ökonomische Kraftzentrum der Republik lag: vom Ruhrgebiet bis ins Saarland."

Als Indikator für die Kluft werden uns die Kassenkredite pro Kopf im Jahr 2016 angegeben. Als klamme Städte werden uns Pirmasens (Rang 1: 8.405 Euro), Oberhausen (Rang 2), Kaiserslautern (Rang 3), Hagen (Rang 4), Mülheim (Rang 5), Zweibrücken (Rang 6), Remscheid (Rang 7), Ludwigshafen am Rhein (Rang 8), Trier (Rang 9) und Essen (Rang 10: 4.183 Euro) aufgelistet.

Die Gemeinde Geestland wird uns als Vorzeigegemeinde vorgestellt:

"Geestland, rund 33.000 Einwohner, ist vor vier Jahren durch die Fusion von Langen und Bederkesa sowie 14 weiteren Ortschaften entstanden. Flächenmäßig ist Geestland die zehntgrößte Stadt in Deutschland, noch vor Dresden oder München: Der geografische Mittelpunkt liegt auf einer Wiese. Es war die Finanznot, die die Orte zusammenbrachte - und aus der sie sich befreien konnten.
Zunächst vereinbarten Langen und Bederkesa sogenannte Zukunftsverträge mit Niedersachsen. Das Land übernahm drei Viertel der Kassenkredite, insgesamt rund 25 Millionen Euro, dafür verpflichteten sich die Städte, zehn Jahre lang keine Schulden zu machen. Dann schlossen sich die Gemeinden zusammen zu »Geestland«, ein Kunstname. So sparen sie Kosten und erhalten höhere Zuweisungen vom Land."

Gemeindefusionen gelten als Nonplusultra des Neoliberalismus. Ostdeutschland zeigt jedoch die Kehrseite solcher "Großgemeinden" und Kreisreformen. Die geplanten Kreisreformen in Brandenburg und Thüringen könnten den Regierungsparteien den Sieg bei den Landtagswahlen kosten und der AfD Stimmengewinne einbringen. Gemeindefusionen per se sind kein Heilmittel, sondern Notoperationen, die durch die neoliberale Politik der letzten Jahre erzwungen werden. Ob Geestland ein Erfolgsmodell ist, das lässt sich nicht schon nach vier Jahren sagen, sondern erfordert langfristige Überprüfungen der Auswirkungen.         

MORGENSTERN, Tomas (2019): Mehr Altstadtleben mit weniger Autos.
Brandenburgs Städte buhlen um Gäste, doch mehr Kraftverkehr wollen sie nicht,
in:
Neues Deutschland v. 19.01.

JUNG, Hagen (2019): Paradies für Autos statt für Urlauber.
Mecklenburg-Vorpommern: Wachsende Verkehrsbelastung auf Usedom - Polen baut Unterquerung zwischen Wollin und Swinousjscie,
in:
Neues Deutschland v. 23.01.

SDIE. (2019): Deutsche Innenstädte sind nur mäßig attraktiv.
Leipzig liegt in der Gunst der Passanten vorne,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.01.

GASSMANN, Michael (2019): Attraktivste Innenstädte liegen im Osten.
Eine große Umfrage zeigt, wo Menschen am liebsten einkaufen und ins Café gehen. Unter den fünf Gewinnern ist nur eine West-Stadt,
in:
Welt v. 24.01.

Im Gegensatz zur FAZ geht Michael GASSMANN auch auf die fünf betrachteten Größenklassen und die jeweiligen Gesamtsieger ein:

Größenklasse Gesamtsieger
Großstadt über 500.000 Einwohner Leipzig
Großstadt mit 200.000 - 500.000 Einwohner Erfurt
Großstadt mit 100.000 - 200.000 Einwohner Trier
Mittelstadt mit 50.000 - 100.000 Einwohner Stralsund
Städte unter 50.000 Einwohner Wismar

Die Auswahl der Studie ist jedoch nicht repräsentativ, weil z.B. München und Berlin fehlen, bemängelt GASSMANN. Besonders wird die Situation in Nordrhein-Westfalen hervorgehoben:

"(U)nter den Gesamtsiegern (findet sich)(...) keine einzige Stadt aus Nordrhein-Westfalen, obwohl das bevölkerungsreichste Bundesland mit 32 teilnehmenden Städten die bei weitem stärkste Gruppe stellt. Lediglich die Kleinstadt Arnsberg-Nelheim aus dem Hochsauerlandkreis ragt in der Unterkategorie »Angebotsvielfalt« in ihrer Größenklasse heraus."

Den Ostländern wird von GASSMANN eine gute Position im "Rennen um die Zukunft der Innenstädte" bescheinigt. Wer da einen Zusammenhang zum geplanten Soli-Abbau sieht, dürfte nicht verkehrt liegen.

ROSS, Andreas (2019): Orte der Rache.
Der größte EU-Verdruss entspringt in deindustrialisierten Regionen - sagt eine EU-Studie,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.01.

Andreas ROSS stellt das Diskussionspapier The geography of EU discontent von Lewis DIJKSTRA, Hugo POELMAN und Andrés RODRÍGUEZ-POSE vor, das die EU-Kommission am 21. Dezember letzten Jahres veröffentlicht hat.

ROSS stellt nur die Sichtweise des Wirtschaftsgeographen RODRÍGUEZ-POSE von der London School of Economics dar, die zugespitzt wird: Den Wählern populistischer Parteien wird unterstellt, dass diese vorwiegend diese Parteien wählen, weil sie ihre Lage als aussichtslos sehen und deshalb die Profiteure des Systems mit in den Abgrund reißen wollen. Als Feindbild wird uns die untere Mittelschicht präsentiert, wobei den deindustrialisierten Zonen das größte Rachepotenzial zugeschrieben wird.

Das Diskussionspapier selber bringt keine überraschenden oder neuen Erkenntnisse, was daran liegt, dass die Untersuchung oberflächlich ist. In Deutschland werden AfD und NPD als europafeindliche Parteien eingestuft. Die Analyse der Bundestagswahl 2017 beschränkt sich in Deutschland auf 299 Gebietseinheiten (Wahlkreise), was weniger als die über 400 Kreise und kreisfreien Städte sind (vgl. Anhang 3). Die Analyse beschränkt sich zudem auf 7 Kennzahlen, deren Einfluss auf die Wahlergebnisse betrachtet wird. Aus deren zugeschriebener Signifikanz bzw. Nicht-Signifikanz werden dann weitreichende Schlüsse auf die Wählerschaft gezogen. Im Grunde hätten die Autoren genauso gut bereits vorliegende nationale Studien zusammenführen können, statt unnötig Geld für diese überflüssige Studie auszugeben.

DREISBACH, Sofia (2019): In Löcknitz ist noch Leben.
Mecklenburg-Vorpommern: Auch im Nordosten Deutschlands kämpfen Städte gegen den Wegzug junger Leute. Aber Löcknitz boomt. Das liegt an der Nähe zur polnischen Grenze,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.01.

BURGHARDT, Peter (2019): Herzlich willkommen.
"Wir sind 'ne blühende Landschaft geworden. Anderswo verfallen Häuser." Aus dem Osten Deutschlands wandern seit Jahren die Menschen ab, und die Alten sterben. Aber Rettung naht. Denn immer mehr Polen leben jetzt hier,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 29.01.

HAHN, Thomas (2019): 4,50 Euro je Quadratmeter, maximal.
Während die Menschen in Ballungsräumen über horrende Mieten klagen, hat Grimmen ein anderes Problem: Leerstand und zu geringe Preise. Soll die Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern ihre verschuldete Wohngesellschaft verkaufen, um marode Häuser zu sanieren?
in: Süddeutsche
Zeitung v. 12.02.

BARTSCH, Michael (2019): Es liegt ein Grauschleier über dem "roten Suhl".
Thüringen: In der DDR war die Kommune im Thüringer Wald Bezirkshauptstadt. Nach der Wende verschwanden erst Arbeitsplätze und dann Einwohner. Wie eine sterbende Stadt versucht, sich trotzdem wieder aufzurichten,
in:
Neues Deutschland v. 25.02.

KNAPP, Gottfried (2019): Willkommen im Drei-Sterne-Dorf.
Baden-Württemberg: In dem kleinen Schwarzwald-Ort Baiersbronn gibt es eine ungewöhnliche Dichte ausgezeichneter Restaurants und Hotels. Und die Welt rätselt: warum gerade hier?
in: Süddeutsche
Zeitung v. 01.03.

IWH (2019)(Hrsg.): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Halle (Saale)

HENGER, Ralph & Christian OBERST (2019): Alterung der Gesellschaft im Stadt-Land Vergleich.
Die Alterung der Gesellschaft in den Großstädten ist vorrübergehend durch die Zuwanderung aus dem In- und Ausland gestoppt. Dabei verstärken die Wanderungen junger Bevölkerungsschichten in die Großstädte die Alterungsprozesse in den Abwanderungsregionen. Auf die zunehmenden regionalen Unterschiede in der demografischen Entwicklung bedarf es fallbezogene und abgestimmte Antworten von Bund, Ländern und Kommunen.,
in:
IW-Kurzbericht v. 04.03.

ECKERT, Daniel (2019): Der neue Riss durch Deutschland.
Während Dörfer und Kleinstädte in der Bundesrepublik vergreisen, ziehen junge Menschen in die Metropolen. Das bringt Probleme mit sich,
in:
Welt v. 04.03.

Die Welt präsentiert eine Tabelle auf Basis eines IW-Kurzberichts mit den 5 ältesten bzw. jüngsten Regionen in Deutschland, wobei ein "mittleres Alter" angegeben wird, das jedoch nicht dem Durchschnittsalter entspricht. Während z.B. das Statistische Landesamt Baden-Württemberg für Baden-Baden 47,4 Jahre im Jahr 2016 angibt, kommt das IW Köln auf 47,1 Jahre. Für Suhl wird für das Jahr 2017 ein mittleres Alter von 50,3 Jahren angegeben, während die Stadt Suhl das Durchschnittsalter sogar mit 50,7 angibt.

Betrachtet man die fünf jüngsten Regionen in Deutschland, dann befinden sich darunter auf den ersten beiden Plätzen Großstädte in Baden-Württemberg mit vielen Studenten (Heidelberg und Freiburg) sowie niedersächsische Landkreise mit hohen Geburtenzahlen (Cloppenburg und Vechta). Die fünf ältesten Regionen liegen dagegen in Thüringen und Sachsen-Anhalt. Hierfür sind Abwanderungsprozesse aufgrund des Zusammenbruchs der Wirtschaft nach der Wende verantwortlich, die durch die neoliberale Politik des "Stärken stärken" zusätzlich befeuert wurden.

EISENRING, Christoph (2019): Aufholprozess gegenüber Westen stockt.
Die ostdeutsche Wirtschaft fällt trotz massiver Förderung nach wie vor ab,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 06.03.

Christoph EISENRING erklärt die neoliberale Standortpolitik zu "mutigen Ansichten", die angeblich Ostdeutschland voranbringen würde:

"IWH-Chef Rein Gropp (...) verweist auf Subventionen, von denen überproportional die ländlichen Regionen im Osten profitiert hätten. Wenn man staatliche Unterstützung daran knüpfe, dass dort Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen würden, schwäche dies die Produktivität. (...) Man habe die Städte vernachlässigt, weshalb der Aufholprozess ins Stocken geraten sei. Er fordert ein Umlenken der Förderung auf die Städte, an denke an Dresden, Leipzig, Halle, Magdeburg, Erfurt, Jena oder Rostock. Dort gelte es die Infrastruktur zu verbessern, um junge Innovatoren anzuziehen. (...).
Man brauche (...) erfolgreiche Städte, damit man dort genug Wertschöpfung erwirtschafte, die man umverteilen könne."

Sachsen ist ein Beispiel für das Scheitern dieser einseitigen Standortpolitik. 

HAHN, Thomas (2019): Landlust, Landfrust.
Deutschland: Wer den  ländlichen Raum aufgibt, stärkt die Wutbürger und schwächt die Optimisten,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 07.03.

Die kosmopolitische Stadtzeitung entdeckt neuerdings die Hinterwäldler. Lange Zeit wurde in Landfragen nur das Reiner KLINGHOLZ-Institut zitiert. Nun ergießt sich die Kritik über das IHW, das auf der gleichen Linie argumentiert. 

LÖHR, Julia (2019): Die Boote des Anstoßes.
Mecklenburg-Vorpommern: Seit alle Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien gestoppt sind, steht Wolgast still. Die Werftarbeiter sind in Kurzarbeit, der Stadt fehlt Geld. Über eine ostdeutsche Kleinstadt, die zum Spielball der Weltpolitik geworden ist,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.03.

HAHN, Thomas (2019): Stadt der Zukunftsangst.
Mecklenburg-Vorpommern: In Wolgast hängen Hunderte Arbeitsplätze an den Ausfuhren nach Saudi-Arabien,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 09.03.

NEU, Claudia (2019): Rettet die Dörfer und Quartiere!
Das Leibnitz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle will ländliche Räume aufgeben - und kritisiert eine Politik, die "gleichwertige Lebensverhältnisse" schaffen will. Das Gegenteil ist richtig. Eine Politik des Zusammenhalts ist kein moralisches Projekt, sondern eine infrastrukturelle Aufgabe,
in: WirtschaftsWoche
Nr.12 v. 15.03.

"Die »kalte Sanierung« ganzer Regionen und Stadtteile durch eine Förderpolitik, die sich vor allem am Leitsatz des »Stärken stärken«, an der dezentralen Konzentration und der medienwirksamen Ausweisung von Modellprojekten orientiert, war lange akzeptiert - bis die Wahlerfolge der AfD in altindustriellen Gebieten des Westens und ländlichen Räumen des Ostens nicht mehr wegzudiskutieren waren. Die Abgehängten und Verbitterten haben nach langen Phasen resignativer Abstinenz wieder den Weg zur Wahlurne gefunden. Die Peripherisierung und Deinfrastrukturalisierung ganzer Räume verläuft offensichtlich doch nicht so folgenlos wie lange Jahre von politischer Seite angenommen",

meint Claudia NEU, die zusammen mit Jens KERSTEN und Berthold VOGEL im Jahr 2012 das Buch Demografie und Demokratie verfasst hat, in dem Horrorszenarien der Schrumpfung als Legitimierung einschneidender Maßnahmen dienen. Nun also schwadronieren die Autoren über eine "inklusive Politik des Zusammenhalts". Wer wie NEU/KERSTEN/VOGEL von demografisch bedingten Verteilungskonflikten ausgeht, statt von politisch und ökonomisch bedingten Verteilungskonflikten, der dreht die Ursachenproblematik um. 

IWD (2019): Hidden Champions: Die Starken aus der zweiten Reihe.
Mehr als 1.300 Hidden Champions – kaum bekannte Weltmarktführer – machen die einzigartige Stärke der deutschen Wirtschaft aus. In anderen Ländern ist dieser exportstarke Unternehmenstypus, der zwischen Mittelstand und Konzern einzuordnen ist, dagegen weniger verbreitet.,
in:
Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft v. 25.03.

MEINHOF, Renate (2019): Bedienung kommt gleich.
Mecklenburg-Vorpommern ist mittlerweile das beliebteste Urlaubsziel der Deutschen. Es gibt nur ein Problem: Kellner, Köche und Zimmerpersonal fehlen. Eine Stellenausschreibung,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 04.04.

BERLIN-INSTITUT FÜR BEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG (2019): Die demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig Deutschlands Regionen sind.

BARTSCH, Matthias u.a. (2019): Ein Land, zwei Welten.
Zukunft: Welche Regionen boomen, welche veröden? Welche Rezepte gibt es gegen den demografischen Wandel? Wissenschaftler haben ins Jahr 2035 geblickt. Ihre größte Sorge: Die Babyboomer gehen bis dahin in den Ruhestand,
in:
Spiegel Nr.15 v. 06.04.

LASCH, Hendrik (2019): Aufbruch an der Blauen Flut.
Thüringen: Wie engagierte Bürger mit dem "Stadtforum Altenburg" ein Gründerzeitviertel beleben,
in:
Neues Deutschland v. 12.04.

JUNG, Hagen (2019): "Lila Bäcker" will über 70 Filialen schließen.
2.700 Beschäftigte stehen bei der Kette in Lohn und Brot,
in:
Neues Deutschland v. 23.04.

WSI (2019): Regionale Einkommen in Deutschland: In einigen Kreisen höher als in Luxemburg, in anderen auf dem Niveau von Korsika.
Daten zu allen 401 Kreisen und kreisfreien Städten,
in:
Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung v. 24.04.

Die Zeitung Neues Deutschland titelte dazu: Arm wie Italien:

"Gelsenkirchen (ist) mit einem durchschnittlichen verfügbaren Einkommen 16.203 Euro die ärmste Gemeinde Deutschlands, gefolgt von Duisburg mit 16.881 Euro (...). Halle (17.218 Euro), der Landkreis Vorpommern-Greifswald (17.303 Euro) und Frankfurt/Oder (17.381 Euro). In diesen fünf Städten ist das Einkommensniveau mit dem Italiens oder Korsikas vergleichbar",

erzählt uns Simon POELCHAU. Tatsächlich geht es in der Studie jedoch nur um einen Vergleich von 401 Regionen, d.h. der Landkreise und kreisfreien Städte in Deutschland. In den rund 11.000 Gemeinden in Deutschland könnte es also jede Menge Gemeinden geben, die ein niedrigeres durchschnittliches Einkommen im Jahr 2016 zur Verfügung hatten.

Hinzu kommt, dass eine paar sehr reiche Bewohner in einer Region das Durchschnittseinkommen stark verzerren können. Dazu heißt es in der WSI-Pressemeldung:

"Den bundesweit stärksten Anstieg gab es in Heilbronn, wo das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen seit der Jahrtausendwende real um 43 Prozent gewachsen ist (in den vergangenen Jahren dann allerdings nicht mehr). Mit 32.366 Euro im Jahr liegt die württembergische Stadt bundesweit an zweiter Stelle. Allerdings dürften das hohe Durchschnittseinkommen und die kräftige Steigerung seit der Jahrtausendwende auch damit zu tun haben, dass in Heilbronn mit seinen etwa 125.000 Einwohnern mehrere sehr reiche Personen gemeldet sind – darunter der Milliardär Dieter Schwarz, dem der Handelskonzern Lidl gehört. Sehr hohe Einkommen von Einzelpersonen erhöhen den allgemeinen Durchschnitt. Grundsätzlich gilt, dass das Durchschnittseinkommen (arithmetisches Mittel) gegenüber Ausreißern nach oben sehr empfindlich ist. Das wirkt sich in kleineren Städten stärker aus als in Metropolen."

Im WSI-Verteilungsmonitor von Eric SEILS & Helge BAUMANN heißt es zur Entwicklung zwischen 2000 und 2016:

"(D)ie realen Durchschnittseinkommen in 33 der 401 Kreise und Städte (sind) heute niedriger als zu Beginn des letzten Jahrzehnts. Besonders bedauerlich ist dies im Falle Offenbachs, wo die Pro-Kopf-Einkommen um 8,7 Prozent gefallen sind. Offenbach (17.687 Euro) hat sich dadurch von einem durchschnittlichen Kreis in eine der ärmsten Regionen Deutschlands verwandelt. Große Abstriche bei den durchschnittlichen Einkommen mussten auch die Einwohner der Stadt Ansbach (-6,25 Prozent) hinnehmen, während der umliegende Landkreis Ansbach kräftige Einkommenszuwächse (23 Prozent) verbuchen konnte. Im Ergebnis ist der Landkreis (22.629 Euro) inzwischen wohlhabender als die Stadt Ansbach (20.737 Euro), während es im Jahre 2000 noch umgekehrt war. In Pforzheim sind die realen Einkommen der privaten Haushalte seit 2000 um durchschnittlich 5,4 Prozent gesunken und liegen aktuell bei 22.882 Euro pro Kopf."

Betrachtet man dagegen die Regionen mit Verlusten genauer, dann fällt auf, dass sich darunter Baden-Baden (- 5,3 %)  und der Landkreis Starnberg (- 4,7 %). Beides kaum Regionen, die zu den Armutsregionen gezählt werden können. Alle Regionen befinden sich zudem in Westdeutschland. Neben den üblichen Verdächtigen gehören auch Schwarmstädte dazu, was wohl daran liegt, dass diese Städte durch einen hohen Anteil von Studenten gekennzeichnet sind, deren Zahl sich erhöht hat. Die Spanne der betroffenen Regionen liegt zwischen 16.203 Euro (Gelsenkirchen) und 34.987 Euro (Landkreis Starnberg)

Bei der Betrachtung der Bundesländer muss zudem die Anzahl der Regionen mitberücksichtigt werden. Bundesländer mit vielen Regionen können scheinbar höhere Spannen zwischen Arm und Reich aufweisen als Regionen mit weniger Regionen. Dies ist nicht nur bei diesem Indikator wichtig, sondern auch bei anderen Rankings wie z.B. dem Zukunftsatlas 2019.

Fazit: Bei der Betrachtung der durchschnittlich verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen in den Regionen ist Vorsicht bei der Interpretation der Fakten angebracht.     

ECKERT, Daniel (2019): Bevölkerungszahl im Osten fällt auf den Stand von 1905.
Zwar hat die ostdeutsche Wirtschaft seit dem Ende der DDR stark aufgeholt. Doch das konnte die Abwanderung von Millionen nicht stoppen. Die "Teilungslücke" wird Forschern zufolge immer größer,
in: Welt
v. 13.06.

Die Welt bläst den dreiseitigen Zeitschriftenartikel Die Wucht der deutschen Teilung wird völlig unterschätzt des Ifo-Instituts Dresden zu einer "wirtschaftshistorischen Studie" auf.

Wie erregt man Aufmerksamkeit? Indem man sich z.B. eine weit zurückliegende Jahreszahl ausdenkt und dann behauptet, dass die Bevölkerung auf den Stand von 1905 zurückgefallen ist. Da denkt doch jeder: Welch ein Wahnsinn? Der Wahnsinn ist jedoch, dass man mit solchen billigen Taschenspielertricks Schlagzeilen machen kann und die Leser nicht merken, dass sie verdummt werden! 2018 = 1905? Was war dann 2013?

Tabelle: Bevölkerungsstand in den ostdeutschen Flächenländern 2013 und 2018
Bundesland Bevölkerung Jahresende in Millionen Veränderung
2013 2018
Brandenburg 2,449 2,512 + 0,063
Mecklenburg-Vorpommern 1,597 1,610 + 0,013
Sachsen 4,046 4,078 + 0,032
Sachsen-Anhalt 2,245 2,208 - 0,037
Thüringen 2,161 2,143 - 0,018
Gesamt 12,498 12,551 + 0,053
Quelle: Statistisches Jahrbuch 2018, Destatis-Pressemeldung v. 27.06.2019

Jetzt könnte jemand einwenden, dass zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nur die Zahlen für 2017 bekannt waren. Ein Jahr zuvor hatten die Flächenländer jedoch noch mehr Einwohner als 2018, weil nur Brandenburg weniger Einwohner zu verzeichnen hatte.

Fazit: Bereits in den vergangenen Jahren hätte man genau die gleiche Schlagzeile veröffentlichen können und sie wäre sogar richtiger gewesen.

ECKERT, Daniel (2019): Warum der Osten nicht mehr aufholt.
In den neuen Bundesländern droht ganzen Landstrichen die Entvölkerung. Ökonomen warnen dennoch vor fehlgeleiteter Förderung,
in: Welt
v. 13.06.

Daniel ECKERT präsentiert uns die Sicht neoliberaler Forschungsinstitute (IW und IWH) und eines FDP-Politikers. Ökonomen und Politikwissenschaftler sprechen gerne von "Pfadabhängigkeit", wenn sie eine Richtungsänderung in der Politik verhindern bzw. betreiben wollen - je nach Interessenlage und Politikfeld. 

WZB (2019): Zuwanderung vor allem in arme Stadtviertel.
WZB-Studie zeigt große Unterschiede bei sozialräumlicher Verteilung,
in: Pressemitteilung Wissenschaftszentrum Berlin
v. 05.07.

Pressemeldung zum WZB-Diskussionspapier Wo findet „Integration“ statt? Die sozialräumliche Verteilung von Zuwanderern in den deutschen Städten zwischen 2014 und 2017 von Marcel HELBIG und Stefanie JÄHNEN. In dem Diskussionspapier heißt es:

"Insgesamt finden wir in 13 der 86 Städte keinen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ausländeranteile von 2014 bis 2017 und der sozialen Zusammensetzung der Stadtteile. Diese Städte befinden sich mit Ausnahme Hamburgs alle südlich der Main-Linie oder direkt am Main. Auch jene Städte, für die mittlere Zusammenhänge nachzuweisen sind (insgesamt 14), befinden sich auf westdeutscher Seite größtenteils südlich des Ruhrgebiets. Städte mit einem starken Zusammenhang liegen im Osten, Norden und Westen." (S.2)

Die Integration der betrachteten Ausländergruppen wurde mittels SGB-II-Quote, also dem Anteil der so genannten "Hartz IV-Empfänger", in sozial segregierten Stadtteilen gemessen. Das Sample bestand aus 3.770 Stadtteilen in 86 Städten. Die Auswahl der Städte ist der Datenlage geschuldet, was die Frage nach der Repräsentativität aufwirft. HELBIG & JÄHNEN sehen einen Zusammenhang zwischen hoher SGB-II-Quote und hohem Leerstand in den Stadtteilen. Den Steuereinnahmen schreiben die Autoren eine wichtige Rolle bei der Vermeidung von Segregationsprozessen, d.h. der Häufung von SGB-II-Empfängern in benachteiligten Stadtteilen zu:

"Zwei Strukturmerkmale spielen bei der sozialräumlich ungleichen Verteilung von Ausländern eine besondere Rolle: die Steuereinnahmen und noch mehr der Wohnungsleerstand in den Städten im Jahr 2014. Der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ausländeranteile und der sozialen Lage der Stadtteile ist vor allem dort stark ausgeprägt, wo viel Leerstand existiert. Dies ist ein Hinweis darauf, dass in Städten mit hohem Leerstand, der wohl überwiegend in Stadtteilen mit niedrigen Mieten und höheren SGB-II-Quoten zu finden ist, Ausländer vor allem in diesen Gebieten Wohnraum gefunden haben."

Die besonderen Probleme in Ostdeutschland sehen die Autoren zudem im Zuzug schlecht integrierter Menschen aus Westdeutschland:

"Vor allem in den ostdeutschen Städten erfolgt der Zuzug in die sozial benachteiligten Gebiete aus anderen deutschen Kommunen" (S.2)

Die Entwicklung in Ostdeutschland beschreiben HELBIG & JÄHNEN folgendermaßen:

"Analog zu Helbig und Jähnen (2018) zeigt sich zunächst, dass die soziale Segregation (gemessen an den SGB-II-Empfängern) in Ostdeutschland bereits 2005 höher als in Westdeutschland war. Die soziale Segregation steigt dann in beiden Landesteilen bis 2010 an und stagniert seitdem in Westdeutschland bzw. geht nach 2015 sogar wieder leicht zurück. In Ostdeutschland hält der Trend einer steigenden sozialen Segregation weiter an. Nach 2015 ist es sogar noch zu einer Beschleunigung dieses Trends gekommen. 2017 befinden sich 9 der 10 Städte mit den höchsten Segregationsindizes in Ostdeutschland (...). Zudem befinden sich 10 von 12 Städten, in denen die soziale Segregation zwischen 2014 und 2017 am stärksten zugenommen hat, im Osten." (S.15f.)

Aus der folgenden Tabelle sind die 12 Städte ersichtlich, in denen die soziale Segregation zwischen 2014 und 2017 am stärksten zugenommen hat:

Tabelle: Die 12 Städte mit dem höchsten Anstieg sozialer Segregation 2014 - 2017
Rang Land Stadt Stadttyp Wohnungsleerstand
im Jahr 2014
SGB-II-Quote
im Jahr 2017
Veränderung
SGB-II-Quote
2014 - 2017
1 Thüringen Jena Großstadt 4 % 39,2 % + 7,3 %
2 Mecklenburg-Vorpommern Schwerin (Landeshauptstadt) Mittelstadt 12 % 45,5 % + 5,5 %
3 Sachsen-Anhalt Halle an der Saale Großstadt 12 % 40,0 % + 4,6 %
4 Mecklenburg-Vorpommern Stralsund Mittelstadt 9 % 24,6 % + 4,3 %
5 Sachsen-Anhalt Magdeburg (Landeshauptstadt) Großstadt 10 % 26,5 % + 3,7 %
6 Brandenburg Potsdam (Landeshauptstadt) Großstadt 3 % 41,5 % + 3,5 %
7 Nordrhein-Westfalen Hagen Großstadt 8 % 33,4 % + 3,3 %
8 Mecklenburg-Vorpommern Wismar Mittelstadt 8 % 21,7 % + 3,2 %
9 Nordrhein-Westfalen Gelsenkirchen Großstadt 8 % 19,4 % + 3,1 %
10 Mecklenburg-Vorpommern Neubrandenburg Mittelstadt 9 % 35,2 % + 2,8 %
11 Sachsen Dresden (Landeshauptstadt) Metropole 4 % 28,2 % + 2,7 %
12 Sachsen Leipzig Metropole 8 % 29,2 % + 2,2 %
Quelle: WZB-Diskussionspapier, Tabelle Anhang, S.52ff.; eigene Berechnungen

Das Diskussionspapier ist nicht zufällig vor der Pressekonferenz zu Maßnahmen zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse erschienen. Die Autoren plädieren für mehr Bundeshilfe für finanzschwache Kommunen, die die hohen Integrationskosten nicht alleine stemmen können. Der Fokus auf Segregationsprozesse blendet den Zusammenhang zwischen den Gentrifizierungsbemühungen der Städte mit  den damit verbundenen Verdrängungsprozessen und den Integrationsproblemen in den benachteiligten Stadtteilen aus. Typisch für die blinden Flecken dieser verengten Sicht sind die Ausführungen von Gerald WAGNER im Artikel Wo Flüchtlinge auf Hilfsarbeiter treffen (FAS 07.07.2019):

"Dass es im Sinne einer erfolgreichen Integration natürlich wünschenswert wäre, Flüchtlinge und andere Zuwanderergruppen räumlich möglichst gleichmäßig zu verteilen, scheitert an der städtischen Konzentration von bezahlbarem Wohnraum. Die Folge ist, dass gerade sozial ohnehin benachteiligte Stadtviertel und deren Bewohner auch noch mit den Integrationsaufgaben im Übermaß belastet werden. Und zwar am deutlichsten in ostdeutschen Städten, weil diese nach der Wiedervereinigung an Bevölkerung verloren haben und deshalb über räumlich konzentrierte Viertel mit großem Leerstand an billigem Wohnraum verfügten - jedenfalls bis vor 2016. Das förderte seither die migrationsbedingte Armutssegregation, während westdeutsche Städte vor einer solchen Armutskonzentration eher verschont geblieben sind, weil es ihnen generell an Wohnungen mangelt."

Zum einen werden Zuwanderergruppen nicht verteilt, sondern suchen sich ihre Wohnquartiere - im Rahmen ihrer Ressourcen- und Informationsausstattung - selber. Die Wohnsituation in Ostdeutschland wurde in den Nuller Jahren per Abrissbirne und Privatisierungsprozessen politisch gerahmt, ist also politisch mit zu verantworten. Die Gentrifizierungsbemühungen der Städte (Zielgruppe: kaufstarke Doppel-Karriere-Familie-Akademiker mit Vorliebe für innenstadtnahe Wohnviertel) trafen zudem auf Fehlprognosen zur angeblich stark schrumpfenden Bevölkerung und eine Politik, die Marktprozesse verstärkte statt gegenzusteuern. Betrachtet man die ostdeutschen Städte, dann handelt es sich vorwiegend um Städte mit pittoresk sanierten Altstädten und innenstadtnahen Wohngebieten mit Gründerzeitbauten, um die herum sich die problematischen Plattenbausiedlungen aus DDR-Zeiten gruppieren. Jena, Potsdam und Dresden hatten im Jahr 2014 einen geringen Wohnungsleerstand, weswegen deren Situation anders zu bewerten wäre. Inwiefern die gefundenen Zusammenhänge  repräsentativ für die Situation in Ostdeutschland ist, wird zu wenig hinterfragt.

RICKENS, Christian (2019): Aufholjagd der Schmuddelkinder.
Titelthema Zukunftsatlas: Der Prognos-Zukunftsatlas zeigt: Die Problemregionen werden stärker, fast überall entstehen Arbeitsplätze, und die Bevölkerung wächst wieder. Der Dauraufschwung gefährdet vor allem alte Gewissheiten,
in: Handelsblatt
v. 05.07.

LACHMANN, Harald (2019): "Eine sehr spezifische Kultur des Miteinanders".
Sachsen: Das ostsächsische Zittau hat die Talsohle durchschnitten und meldet wieder mehr Zu- als Wegzüge,
in:
Neues Deutschland v. 09.07.

BMI/BMEL/BMFSFJ (2019): Deutschlandatlas.
Karten zu gleichwertigen Lebensverhältnissen,
in:
BMEL v. 09.07.

GEIßLER, René (2019): Trotz Milliardenüberschüssen: Finanzkraft der Kommunen driftet immer stärker auseinander.
Die Städte, Gemeinden und Kreise in Deutschland haben in den Jahren 2017 und 2018 historische Überschüsse erwirtschaftet. Dank anhaltend starker Konjunktur steigen Steuern, Investitionen und Rücklagen, während die Kassenkredite schrumpfen. Dennoch nehmen die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen starken und schwachen Kommunen immer größere Ausmaße an,
in:
Pressemitteilung Bertelsmann-Stiftung v. 10.07.

Die neoliberale Bertelsmann-Stiftung stellt ihren neuen Finanzreport 2019 vor. Von einer Annäherung der Regionen kann - trotz lang anhaltendem Aufschwung - keine Rede sein. Steuereinnahmen und Verschuldung führen weiter zu einer Polarisierung. Beim kommenden Abschwung könnte diese Situation eskalieren. Im Zukunftsatlas 2019 gehören 13 westdeutsche Kreise und kreisfreie Städte zu den Klassenabsteigern, die sich unter den 58 strukturschwächsten Regionen befinden. Ein Vergleich mit den 20 Kommunen mit den höchsten Kassenkrediten im Jahr 2017 zeigt, dass sich darunter 6 der 13 Klassenabsteiger befinden.

Tabelle: Die 20 Regionen mit den höchsten Kassenkrediten je Einwohner im Jahr 2017
Rang Land Region Kassenkredit
(Euro je Einwohner)
Klassenstufe
(Rang)
Zukunftsatlas
1 Rheinland-Pfalz Pirmasens (Klassenabsteiger) 8.239 € 7 (376)
2 Nordrhein-Westfalen Oberhausen (Klassenabsteiger) 7.634 € 7 (378)
3 Rheinland-Pfalz Kaiserslautern 6.834 € 5 (221)
4 Nordrhein-Westfalen Mülheim a.d.Ruhr 6.241 € 5 (241)
5 Nordrhein-Westfalen Hagen (Klassenabsteiger) 5.763 € 6 (354)
6 Nordrhein-Westfalen Remscheid 5.314 € 6 (323)
7 Rheinland-Pfalz Zweibrücken 5.228 € 5 (230)
8 Rheinland-Pfalz Ludwigshafen a.Rhein 4.638 € 4 (139)
9 Rheinland-Pfalz Kusel, Lkr (Klassenabsteiger) 4.222 € 7 (387)
10 Rheinland-Pfalz Trier 4.178 € 5 (218)
11 Nordrhein-Westfalen Essen 3.864 € 5 (239)
12 Nordrhein-Westfalen Wuppertal 3.691 € 5 (189)
13 Rheinland-Pfalz Worms 3.630 € 5 (195)
14 Nordrhein-Westfalen Herne (Klassenabsteiger) 3.605 € 7 (357)
15 Nordrhein-Westfalen Solingen 3.374 € 5 (301)
16 Rheinland-Pfalz Frankenthal 3.230 € 5 (210)
17 Saarland Saarbrücken (Regionalverband) 3.151 € 6 (327)
18 Nordrhein-Westfalen Mönchengladbach 3.115 € 5 (249)
19 Rheinland-Pfalz Mainz 3.114 € 3 (45)
20 Rheinland-Pfalz Birkenfeld, Lkr (Klassenabsteiger) 3.028 € 6 (345)
Quelle: Zukunftsatlas 2019: Handelsblatt; Finanzreport 2019, Kapitel D, S.13

Am Beispiel der hochverschuldeten Stadt Pirmasens erklärt der Finanzreport welche vielfältigen Faktoren dazu beitragen, dass eine Region in eine Abwärtsspirale gerät, aus der sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskommt (vgl. S.20f.). Haushaltskrisen nehmen keineswegs ihren Ausgang bei demografischen Entwicklungen, sondern ergeben sich durch ökonomische Strukturprobleme, die durch politische Fehlentscheidungen auf den unterschiedlichsten Ebenen über lange Zeiträume ungelöst bleiben. Demografische Prozesse (z.B. Abwanderung von Fachkräften, vermehrte Zuwanderung von Menschen, die auf soziale Unterstützung angewiesen bleiben) begleiten dagegen nur den Niedergang von Regionen und verstärken damit die politökonomische Problemlage. Der Finanzreport 2019 listet auch die 10 kreisfreien Städte mit der höchsten Quote an Bedarfsgemeinschaften (SGB-II-Quote) als ein Armutsindikator auf:

Tabelle: Die 10 kreisfreien Städte mit der höchsten SGB-II-Quote im Jahr 2017
Rang Land kreisfreie Stadt Anteil an
den bis
65-Jährigen
Klassenstufe
(Rang)
Zukunftsatlas
1 Nordrhein-Westfalen Gelsenkirchen (Klassenabsteiger) 24,7 % 7 (371)
2 Nordrhein-Westfalen Essen 20,2 % 5 (239)
3 Niedersachsen Wilhelmshaven (Klassenabsteiger) 20,1 % 7 (355)
4 Sachsen-Anhalt Halle a.d. Saale 19,7 % 6 (310)
5 Nordrhein-Westfalen Herne (Klassenabsteiger) 19,3 % 7 (357)
6 Nordrhein-Westfalen Duisburg 19,2 % 6 (317)
7 Niedersachsen Delmenhorst 18,8 % 6 (328)
8 Nordrhein-Westfalen Mönchengladbach 18,8 % 5 (249)
9 Nordrhein-Westfalen Dortmund 18,7 % 5 (255)
10 Rheinland-Pfalz Pirmasens (Klassenabsteiger) 18,5 % 7 (376)
Quelle: Zukunftsatlas 2019: Handelsblatt; Finanzreport 2019, Kapitel E, S.7

Die Stadt Pirmasens befindet sich als einzige kreisfreie Stadt sowohl unter den ersten 10 bei den Kassenkrediten als auch bei der SGB-II-Quote. Je weniger Einwohner eine kreisfreie Stadt bzw. je ländlicher eine Region ist, desto mehr Einfluss haben kumulative, negative Risiken. Das Schlagwort vom "demografischen Wandel" verschleiert diese Vielfalt von Faktoren, die für die regionale Auseinanderentwicklung von Regionen verantwortlich sind.

FRÖHLICH, Diana (2019): Genug gelobt.
HB-Serie Zukunftsatlas - Aufsteiger Heilbronn (1): Die Region um Heilbronn ist wirtschaftlich bärenstark - und gilt als ebenso langweilig. Mit dem Geld des Lidl-Gründers wird die Stadt jetzt zum Unistandort geadelt, um junge Talente zu locken,
in: Handelsblatt
v. 10.07.

Diana FRÖHLICH berichtet weniger über die Stadt Heilbronn, deren Profil uns präsentiert wird, sondern über den Regionalverband Heilbronn-Franken. Dieser umfasst die freie Kreisstadt Heilbronn und die umliegenden Landkreise Heilbronn, Hohenlohekreis, Main-Tauber-Kreis und Schwäbisch Hall. 

STERNBERG, Jan (2019): Im Osten was Neues.
Sachsen-Anhalt: Der Bund will den abgehängten Regionen helfen. Die Menschen dort wissen, was für sie am besten ist. Ein Besuch im Städtchen Tangerhütte,
in:
Frankfurter Rundschau v. 10.07.

Jan STERNBERG berichtet über Tangerhütte und den Landkreis Stendal. Aber auch über Wittenberge in Brandenburg:

"Wittenberge (...) 90 Kilometer elbabwärts, Landkreis Prignitz in Brandenburg, Rang 395 im »Prognos Zukunftsatlas«. Wittenberge war Textil- und Nähmaschinenstadt und ist immer noch Eisenbahnknotenpunkt zwischen Hamburg und Berlin. Seit den 1980er Jahren hat die Stadt die Hälfte ihrer Bewohner verloren, 17.000 sind es noch."

Dort arbeitet sich der Bürgermeister Oliver HERMANN am schlechten Image der Stadt ab. Mit dem mit 80.000 Euro aus Landesmitteln geförderten Projekt "Summer of Pioneers" sollen "digitale Nomaden" angelockt werden:

"20 Kreativarbeiter aus den Großstädten sollten ein halbes Jahr nach Wittenberge ziehen, zum Probewohnen und Arbeiten. Für 150 Euro monatlich bekommen sie eine Wohnung und einen Platz im Coworking-Space mit Elbblick (...). 60 Bewerbungen gab es (...). 20 von ihnen wurden ausgewählt, die ersten sind am 1. Juli eingezogen."       

DECKER, Markus (2019): "Wow, hier geht was!"
Brandenburg: Stephanie Auras-Lehmann verließ als Jugendliche ihren Geburtsort in Brandenburg, kam zurück und hilft nun anderen bei der Heimkehr,
in:
Frankfurter Rundschau v. 10.07.

WERMKE, Christian (2019): Karneval im Norden.
HB-Serie Zukunftsatlas - Wachstumsregion Vechta (2): In keinem anderen Landkreis ist der Geburtenüberschuss größer als in Vechta. Mit der Bevölkerung wachsen aber auch die Probleme: Es mangelt an Bauland - und flexiblen Betreuungsangeboten,
in: Handelsblatt
v. 12.07.

Christian WERMKE die Probleme der Wachstumsregion Landkreis Vechta folgendermaßen:

"Galt Vechta im Jahr 2016 noch als Region mit »hohen Zukunftschancen«, ist sie nun nur noch eine mit »leichten«. Um satte 60 Plätze ist der Landkreis im Ranking abgestürzt. Nach wie vor exzellent schneidet Vechta bei der Bevölkerungsentwicklung ab - neben den Städten München, Frankfurt am Main, Freiburg und Offenbach ist Vechta der einzige Landkreis in den Top fünf beim Geburtenüberschuss. Im Jahr 2017 kamen hier 1.547 Menschen zu Welt bei 1.131 Todesfällen. Das macht ein Bevölkerungswachstum von gut 3,6 Prozent. Damit läge der Kreis selbst in Afrika in der Spitzengruppe, weit vor Ländern wie Angola oder Nigeria.
Der Geburtenüberschuss in den Großstädten liegt vor allem daran, dass es überproportional viele junge Menschen in die Städte zieht, die ihre Familiengründung erst noch vor sich haben. In Vechta kommt die ungewöhnlich hohe Geburtenrate hinzu. Sie liegt bei knapp 1,9 Kindern pro Frau - deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 1,57 Kindern pro Frau."

In Niedersachsen hatten von den 45 Landkreisen und kreisfreien Städte nur 4 Regionen einen Geburtenüberschuss: der Landkreis Vechta (+ 416), der Landkreis Cloppenburg (+ 298), die kreisfreie Stadt Osnabrück und das Emsland. in der Prognos-Broschüre Auf einen Blick heißt es dazu:

"In knapp 16 % der 401 Regionen konnte die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung (Saldo aus Geburten und Sterbefällen) gebremst werden. Jede zehnte Region weist einen deutlich positiven Geburtenüberschuss auf. Dazu zählen dynamische Großstädte wie München, Frankfurt am Main, Dresden oder Potsdam, aber auch Landkreise wie Vechta, Erding, Eichstätt oder Osnabrück. Dort führt die positive Bevölkerungsentwicklung und Verjüngung zu einem überdurchschnittlich steigenden Bedarf an sozialer Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Kindertagesbetreuung sowie der Erweiterung von Schulkapazitäten." (S.6)

Die genannten Regionen weisen folgenden Geburtenüberschuss auf:

Tabelle: Regionen mit Geburtenüberschuss im Jahr 2017
Land Region Geburtenüberschuss
(absolut)
Geburtenüberschuss
(in %)
Bayern München (Landeshauptstadt) 6.281 4,3 %
Hessen Frankfurt a/M 3.077  
Sachsen Dresden 999  
Bayern Freising 492 2,8 %
Niedersachsen Vechta, Landkreis 416  
Bayern Eichstätt, Landkreis 343 2,6 %
Brandenburg Potsdam (Landeshauptstadt) 313  
Bayern Erding, Landkreis 298 2,2 %
Niedersachsen Osnabrück, Stadt 77  
Quelle: Statistische Berichte der Landesämter Bayern, Hessen und Niedersachsen

Folgendes Profil wird uns für Vechta präsentiert:

Tabelle: Handelsblatt-Profil von Vechta
Merkmal Zeitpunkt/Zeitraum Wert Deutschlandwert Rang
Einwohnerentwicklung 2014-2017 + 3,6 % + 2,1 % 45
Arbeitslosenquote Ende 2018 3,3 % 4,9 % 137
BIP je SVB 2016 86.407 Euro 99.991 Euro 299
Stärke: Ausbildungsstellen 2015/16 bis 2017/18 4,1 %   28
Schwäche: Veränderung Bedarfsgemeinschaften 2014-2017 26,7 %   308
Immobilienatlas: Wohnbaulücke k.A. 0 % 1,7 %  

Im Zukunftsatlas 2004 bis 2019 wird uns folgende Entwicklung für Vechta präsentiert:

Tabelle: Bewertung des Landkreis Vechta im Zukunftsatlas 2004 bis 2019
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen)
Klassen-
Stufe
Gesamtrang

Bereichsrang

Demografie Lage/Wohlstand Arbeitsmarkt Innovation
2004 (439) 4 58 4 144 97 152
2007 (439) 3 56 8 99 99 182
2010 (412) 3 52 14 97 94 147
2013 (402) 4 88 27 134 117 204
2016 (402) 3 66 13 156 106 111
2019 (401) 4 126 26 199 227 148
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2019: Prognos

Von einem Absturz kann im Grunde keine Rede sein, denn der Landkreis war bereits zwei Mal der Klassenstufe 4 zugeordnet. Es könnte auch sein, dass die Bewertungen des Jahres 2016 nicht der Realität entsprachen, da es Brüche bei den einzelnen Bereichsrängen gibt. Kann also das Indikatorensystem zukünftige Entwicklungen nicht adäquat abbilden?

SEIBEL, Andrea (2019): Leerlaufende Landschaften.
Alle wollen in die Stadt. Damit werden die Dörfer ihrer Lebensgrundlage beraubt. Einigen wenigen gelingt der Selbsterhalt. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aber ist eine Sackgasse, meint der Demograf Reiner Klingholz,
in:
Welt v. 13.07.

"Die Politik hat den schrumpfenden ländlichen Raum lange nicht ernst genommen. Nach dem Motto: Wenn der Letzte das Licht ausgemacht hat, brauchen wir uns ehe nicht mehr kümmern. Aber dann hatte eine bestimmte, neue Partei in diesen Regionen große Erfolge",

erklärt uns Reiner KLINGHOLZ, der uns 2004 noch erklärte:

"Bis 2020 wird das Land etwa 700 000 Einwohner verlieren – nicht einmal ein Prozent also. Doch diese Zahlen täuschen. Sie setzen voraus, dass weiterhin jährlich mindestens 200 000 Migranten zu uns kommen. Und sie sagen nichts über die Dynamik der demografischen Veränderung. Denn ein Schwund, der einmal eingesetzt hat, beschleunigt sich aus mathematischen Gründen immer weiter".

Noch 2009 erklärte uns KLINGHOLZ, dass wir schrumpfen und deshalb die Dörfer aussterben lassen sollen. Der Politiker Wolfgang TIEFENSEE kritisierte diese Position im Artikel Der letzte macht das Licht aus (FAS 04.07.2009). 2011 legte das Berlin-Institut von KLINGHOLZ noch einmal mit der Broschüre Die Zukunft der Dörfer nach. Jetzt gelten Dörfer als Pioniere der Postwachstumsgesellschaft, denn Deutschland wird fälschlicherweise weiterhin als stark schrumpfendes Land beschrieben. 2013 entdeckt KLINGHOLZ dann die Vielfalt (Neoliberale sprechen auch von Diversität) als Gegensatz zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, wobei suggeriert wird, dass Gleichwertigkeit dasselbe sei wie Gleichheit. Tatsächlich ist das ein falscher Gegensatz.

KLINGHOLZ möchte das Ausbluten der Provinz aktiv fördern:

"Was wir schon vor Jahren gefordert haben, war, Umzugswillige dabei zu unterstützen, aus schrumpfenden Dörfern in die nächste mittlere Stadt zu ziehen. Denn in den Dörfern leben häufig noch ein paar ältere Menschen, die es angesichts der desolaten Versorgungslage immer schwerer haben. (...). Viele dieser Menschen würden gerne wegziehen, aber sie können ihr Haus nicht mehr verkaufen, weil es nichts mehr wert ist. Diese »Gefangenen im Eigenheim« sollte man unterstützen, wenn sich dadurch ihre Lebensbedingungen verbessern."

Das erinnert stark an die Abwrackprämie für Autos, von der die Automobilindustrie profitierte. Nun also eine Abwrackprämie für Eigenheime im Interesse der Immobilienwirtschaft? Umzugswillige Alte? Alte Menschen ziehen nicht einmal aus verstrahlten Gegenden ab, selbst wenn das gefördert wird!

Letztlich will KLINGHOLZ nichts anderes als die Abwärtsspirale, die von Demografen und Neoliberalen gerne bemüht wird, zu beschleunigen. Wirklich hilfreich ist dies nicht.       

BOLLMANN, Ralph (2019): Hipster, ab aufs Land!
Die Bundesregierung will benachteiligten Regionen helfen: mit Geld und schnellem Internet. Dabei wäre etwas anderes viel wichtiger,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.07.

Ralph BOLLMANN hält die Vermittlung eines Lebensgefühls für wichtiger als Geld und Infrastruktur, obwohl beides miteinander zusammen hängt. Der US-amerikanische Guru Richard FLORIDA hat diese kosmopolitische Sichtweise mit seinem Bestseller The Rise of the Creative Class im Jahr 2002 popularisiert. Die "Schwarmstadt" Leipzig gilt BOLLMANN als Beispiel für die Richtigkeit dieser Sichtweise. Im Gegensatz zu FLORIDA macht BOLLMANN nicht in erster Linie die Wichtigkeit der Kreativen Klasse ("Akademiker"), sondern den demografischen Wandel für die angebliche Umkehr des Kräfteverhältnisses zwischen Wirtschaft und Arbeitskräften verantwortlich:

"(D)er demographische Wandel hat die Verhältnisse umgekehrt. Nicht die Jobs sind es in erster Linie, die vielerorts fehlen, sondern die Menschen."

Der demografische Wandel ist für BOLLMANN jedoch kein unabwendbares Schicksal, sondern Auswuchs des Lebensgefühls der Arbeitskräfte:

"Viele Berufsanfänger akzeptieren sogar geringere Gehälter, um in der Stadt ihrer Träume leben zu können, und sie nehmen dafür höhere Lebenshaltungskosten als auf dem platten Land in Kauf.
Inzwischen geht der Trend eher dahin, dass die Jobs den Arbeitskräften hinterherziehen und nicht umgekehrt."

Fakten hat BOLLMANN hierzu jedoch nicht zu bieten. In den 1980er Jahren gab es den Begriff "privileged Poor", der Selbstausbeutungsverhältnisse umschrieb, die darauf gründeten, coole Jobs in coolen Städten anzunehmen. Man zog dorthin, wo es coole Arbeit gab. Nun also soll das Flair einer Stadt, d.h. kulturelle Freizeitangebote wichtiger sein als coole Jobs. Man darf das sehr bezweifeln. BOLLMANN behauptet, dass es für den Zuzug nach Leipzig keine rationalen Argumente gibt:

"Das Leipziger Gehaltsniveau liegt noch immer deutlich unter dem deutschen Durchschnitt, kein einziger Dax-Konzern hat seinen Sitz in der Stadt. Die Universität bietet in vielen Fächern bestenfalls Mittelmaß, der Flughafen ist zwar wein wichtiges Fracht-Drehkreuz, aber ohne wirklich relevante Passagierverbindungen.
Beim Leipzig-Boom geht es nicht um Geld, sondern um ein Lebensgefühl."

Tatsächlich findet BOLLMANN dann jedoch ganz "rationale" Argumente, die dem kosmopolitischen Milieu entspringen:

"Sogar die Pendlerströme kehren sich teilweise um. Finden Jungakademiker im Dreiländereck von Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt eine Arbeitsstelle in einer schrumpfenden Kommune, in der womöglich ein Drittel der Mitbürger die AfD wählt: Dann nehmen sie ihren Wohnsitz bisweilen lieber in Leipzig und reisen jeden Tag von dort an, weil das oft wunderschöne Stadtbild allein die Kleinstädte nicht attraktiv genug macht."

Leipzig ist ein gutes Beispiel für die Verlogenheit des Kosmopolitismus, denn die Stadt ist sozial gespalten. Wissenschaftler sprechen von "sozialer Segregation". Leipzig gehört zu den 12 Städten, in denen diese Spaltung zwischen 2014 und 2017 am stärksten gestiegen ist, obwohl das Niveau vorher bereits hoch war. Die Kosmopoliten leben dort (noch) auf ihrer Wohlfühlinsel, während die AfD ringsherum zugewinnt. Die AfD kam in Leipzig bei der diesjährigen Europawahl immerhin auf 25,2 % - ein Stimmenzuwachs um mehr als die Hälfte (+16,2 %). Zur Kommunalwahl 2019 heißt es in der Leipziger Volkszeitung:

"Die AfD gewann in zehn Ortsteilen. In Liebertwolkwitz holte keine Partei mehr Stimmen. Die AfD verbuchte im südöstlichen Zipfel der Stadt 28,3 Prozent der Stimmen. Das bedeutete für die Partei gleichzeitig den Bestwert in Leipzig." (27.05.2019)

Die Schmuddelkinder wohnen also nur in anderen Stadtteilen, aber in der selben Stadt. Und offenbar ist die Europagegnerschaft in Leipzig wesentlich größer als das der Begriff "Kosmopolitismus" ausdrückt, denn während die AfD bei der Kommunalwahl nur auf 14,9 % kam, waren es bei der Europawahl über 10 % mehr. Was aber, wenn die Kluft geringer wird?

BOLLMANN hat uns dagegen nur simple Lösungen anzubieten:

"(D)ie Verfassung zwingt den Staat nicht dazu, den Zuzug in die Metropolen auch noch zu fördern. Die Erfahrung zeigt: Wenn das Leben dort nicht nur teurer, sondern auch unattraktiver wird, weichen die Leute womöglich aus. So erklärt sich der Erfolg von Leipzig auch aus den hohen Mieten in Berlin. Wer weiß: Wenn es auch dort zu teuer geworden ist, zieht der Schwarm vielleicht irgendwann weiter."

Leipzig unattraktiver machen, damit die Provinz attraktiver erscheint? Der AfD könnte das helfen, um auch in den Großstädten mit hoher Segregation noch erfolgreicher zu werden.

Sachsen gilt strammen Neoliberalen immer noch als Musterknabe: Man stärkte die starken Metropolen und ließ den Rest ausbluten. Die Folge beschreibt BOLLMANN folgendermaßen:

"Die AfD-Resultate bei der jüngsten Bundestagswahl waren es auch, die das Thema auf die Agenda der Bundesregierung gesetzt und die Gründung eines Heimatministeriums bewirkt haben. Auch viele Bundesländer haben ihre Politik schon korrigiert. Längst stellt zum Beispiel Sachsen, das seine Ausgaben mit Blick auf die Demographie vorausschauend reduzierte, wieder zusätzliches Personal ein."

Vorausschauend war Sachsen nicht! Vielmehr bewirkten die falschen Annahmen der Amtsstatistiker, die Neoliberalen sehr gelegen kamen, dass z.B. der Geburtenanstieg verschlafen wurde. Als man durch die AfD wachgerüttelt wurde, war die Misere längst eingetreten. Die Demographie ist nicht unser Schicksal, sondern die Fehldeutungen und die damit verbundene Demografisierung gesellschaftlicher Probleme.         

GAUTO, Anna (2019): Stehaufmännchen.
HB-Serie Zukunftsatlas - Comeback Allgäu (3): Andere Städte haben Touristen, Studenten, einen Autobahnanschluss. Doch mit schwäbischer Sparsamkeit und Kämpfer-Mentalität ist Kaufbeuren zum Aufsteiger geworden - wie das gesamte Allgäu,
in: Handelsblatt
v. 15.07.

"Ganz ohne Autobahn, Flughafen und Universität ist Kaufbeuren im Gesamtranking innerhalb von drei Jahren um 106 Rangplätze von 188 auf Rang 82 geklettert. Damit verbessert sich die 43.000-Einwohner-Stadt um zwei Zukunftsklassen und gehört bundesweit zu den »Top-Aufsteigern« der Prognos-Studie.
(...).
Wer nach Ursachen fr diesen Aufschwung sucht, muss die »Fabrik der Zukunft« der Firma Hawe Hydraulik besuchen, ein international tätiges Hightech-Unternehmen für Hydraulik-Komponenten und -Systeme mit Hauptsitz in München (...).
Über 600 Menschen arbeiten heute am Standort, die meisten aus Kaufbeuren und Region. Wenn sich so eine Firma wie Hawe in einer kleinen Stadt wie Kaufbeuren niederlässt, ist der Effekt groß, was auch den gewaltigen Aufstieg im Zukunftsatlas erklärt",

meint Anna GAUTO. Ist das wirklich ein "gewaltiger Aufstieg" oder zeigt das nicht eher im Gegenteil an, dass die Trennschärfe der Klassifizierungen und das Indexsystem ungeeignet ist, um regionale Entwicklungen aussagekräftig zu beschreiben? Aus der folgenden Tabelle ist die Entwicklung von Kaufbeuren zwischen 2004 und 2019 ersichtlich.

Tabelle: Bewertung der bayerischen Stadt Kaufbeuren im Zukunftsatlas 2004 bis 2019
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen)
Klassen-
Stufe
Gesamtrang

Bereichsrang

Demografie Lage/Wohlstand Arbeitsmarkt Innovation
2004 (439) 5 115 199 267 98 58
2007 (439) 5 219 157 205 105 331
2010 (412) 5 194 86 197 152 234
2013 (402) 5 140 179 146 84 195
2016 (402) 5 188 103 154 243 218
2019 (401) 3 82 49 171 74 111
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2019: Prognos

Eine Veränderung um viele Rangplätze ist wenig aussagekräftig. Bereits im Jahr 2007 veränderte sich Kaufbeuren um 104 Rangplätze. Die Stadt wechselte damals jedoch nicht die Klassenstufe. Dies hängt damit zusammen, dass die Klassenstufe 5 fast die Hälfte aller Regionen umfasste.

CREUTZBURG, Dietrich (2019): Ländlichen Regionen geht der Berufsnachwuchs aus.
Studie sieht Abwärtsspirale: Junge Menschen zieht es in die Städte, örtlich verankerte Fachkräfte gehen in Rente,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.07.

Das neoliberale Institut der Wirtschaft, das die Arbeitgeberinteressen vertritt, sorgt sich, dass die Reservearmee an Arbeitskräften schrumpft, was hieße, die Arbeitsbedingungen und Löhne verbessern zu müssen, um attraktiv zu bleiben. Die FAZ präsentiert uns deshalb eine Darstellung von Alexander BURSTEDDE & Dirk WERNER, die als "regionale Analyse des Ausbildungsmarktes" vermarktet wird. Tatsächlich handelt es sich bei dieser "Analyse" lediglich um die Zuordnung von "qualifizierten Arbeitnehmern" zu Ausbildungsstellen einer Region und die Auflistung der Akademikerquote.

Die Akademikerquote gibt dabei lediglich den Anteil der Akademiker an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort zum 31.03.2018 wieder. Benötigt jedoch eine Region mit geringem Akademikerbedarf die gleiche Anzahl von Akademikern wie Regionen mit hohem Akademikerbedarf? Über den zukünftigen Bedarf wird überhaupt nichts ausgesagt

Die Arbeitgeberlobby mit Zielgruppe Akademiker verweist zum einen auf die Berlin-Institut-Studie Die Zukunft der Dörfer und verwendet auch den Empirica-Begriff "Schwarmstadt".

BECKER, Kim Björn (2019): Mein Dorf, mein Krankenhaus.
Laut einer Studie soll mehr als jede zweite Klinik geschlossen werden - das hätte gerade auf dem Land gravierende Folgen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.07.

Kim Björn BECKER berichtet über eine geplante Klinikschließung in der Mittelstadt Iserlohn im nordrhein-westfälischen Sauerlandkreis.

KÖHN, Rüdiger (2019): Siemens gibt Görlitz neue Hoffnung.
Sachsen: Der einst gefährdete Standort in der Lausitz soll zu einem Zentrum für Wasserstofftechnologie werden,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.07.

SPECHT, Frank (2019): Die Landflucht der Jugend.
Ausbildung: Junge Menschen zieht es zunehmend in die Städte und ihr Umland, zeigt eine IW-Studie. Unternehmen in ländlichen Regionen finden nur noch schwer Akademiker oder Auszubildende,
in:
Handelsblatt v. 17.07.

"Der Firmensitz (Anm.: der Elektro Schulz GmbH), die kleine Gemeinde Möllenhagen, hat seinen Reiz durch die Nähe zur malerischen Mecklenburgischen Seenplatte, aber sonst für junge Leute nicht viel zu bieten. Der Landkreis hat seit der Wiedervereinigung mehr als ein Fünftel seiner Bewohner verloren",

erzählt uns Frank SPECHT ein Fallbeispiel, um die Aussagen des IW-Report Von Abwanderung betroffene Arbeitsmärkte stärken von Alexander BURSTEDDE & Dirk WERNER zu bebildern.

"Während beim Spitzenreiter Heidelberg 44 Prozent der Beschäftigten einen Hochschulabschluss haben, sind es beim Schlusslicht, dem Landkreis Wittmund bei Wilhelmshaven, nur sechs Prozent",

erklärt SPECHT. Warum aber sollte in einer Großstadt mit Eliteuniversität wie Heidelberg nicht wesentlich mehr Akademiker wohnen als in einer touristisch geprägten Region wie der Landkreis Mecklenburgische Seenplatte? Im IW-Report wird zudem auf die mangelnde Datenlage verwiesen:

"Da Absolventen von Aufstiegsfortbildungen und anderen hochwertigen nicht akademischen Qualifikationen statistisch leider unzureichend erfasst werden, wird lediglich der Akademikeranteil an den Beschäftigten einer Region auf Kreisebene herangezogen" (S.6)     

Angebot und Nachfrage müssen stimmen, aber das wird im IW-Report gar nicht gemessen, sondern im Handelsblatt nur suggeriert. Da ist ein Schaubild überschrieben mit "Regionale Verteilung von Auszubildenden in Prozent der Beschäftigten mit Ausbildung". Dagegen wird in der Fußnote darauf verwiesen, dass es nur der Anteil sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter ist.

Zieht man die Statistik für Mecklenburg-Vorpommern (31.03.2018) und hier für den Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (Tabelle 12, S.18) heran. Dann gab es dort 96.218 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und 3.532 Auszubildende, was ca. 3,7 % entspricht. Betrachtet man dagegen nur die Vollzeitbeschäftigten, dann läge der Anteil bei 5,2 %. Es ist also auch eine Frage der Indikatorenauswahl, die einen Fachkräftemangel belegen sollen.

Die Statistik gibt für die Kreise zwar Auskunft über die Wirtschaftszweige, in denen die Beschäftigten arbeiten, aber nicht über die Anzahl der Auszubildenden, die für diese Wirtschaftsbereiche ausgebildet werden. Außerdem werden bei der Betrachtung des Reports Wanderungen (Mobilität) nicht betrachtet.

Fazit: Die Zahlen, die geliefert werden, sind nicht geeignet, um einen Fehlbedarf von Arbeitskräften in den jeweiligen Regionen zu belegen.   

SCHMOLL, Heike (2019): Viel Geld und noch mehr Strahlkraft.
Wieso für die Hochschulen und Universitäten von der Exzellenzentscheidung in dieser Woche noch mehr abhängt als in der Vergangenheit,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.07.

Seit dem Jahr 2007 gibt es in Deutschland Eliteuniversitäten. Im Jahr 2012 wurde erneut ausgewählt und nun steht eine neue Entscheidung bevor, die die Eliteuniversitäten noch dauerhafter vom Rest abheben soll. Aus der folgenden Tabelle sind die Städte mit solchen Eliteuniversitäten ersichtlich.

Tabelle: Städte mit Eliteuniversitäten
Land Stadt Stadttyp Zeitraum Dauerhafte
Förderung
ab 2019
Nordrhein-Westfalen Aachen Großstadt 2007 - 2019 Aachen
Berlin Berlin Metropole 2007 - 2019 Berlin
Nordrhein-Westfalen       Bonn
Bremen Bremen Metropole 2012 - 2019  
Sachsen Dresden Metropole 2012 - 2019 Dresden
Baden-Württemberg Freiburg Großstadt 2007 - 2012  
Niedersachsen Göttingen Großstadt 2007 - 2012  
Hamburg       Hamburg
Baden-Württemberg Heidelberg Großstadt 2007 - 2019 Heidelberg
Baden-Württemberg Karlsruhe Großstadt 2007 - 2012 Karlsruhe
Nordrhein-Westfalen Köln Metropole 2012 - 2019  
Baden-Württemberg Konstanz Mittelstadt 2007 - 2019 Konstanz
Bayern München Metropole 2007 - 2019 München
Baden-Württemberg Tübingen Mittelstadt 2012 - 2019 Tübingen
Quelle: Wikipedia

Derzeit gibt es unter den Städten mit Eliteuniversitäten mit Konstanz und Tübingen nur zwei Mittelstädte, die beide zu Baden-Württemberg gehören. 2019 haben sich Universitäten aus 18 Städten beworben. Darunter die Städte Bochum, Bonn, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Kiel, Münster und Stuttgart - allesamt Großstädte oder Metropolen. Werden nun also die beiden Mittelstädte der Zentralisierung der Forschungsförderung geopfert?

DEMLING, Alexander/MÜLLER, Anja/RICKENS, Christian (2019): Keine Lust auf Risiko.
HB-Wochenendthema: Angst vor dem Scheitern, fehlende Finanzierung, Bürokratie: In Deutschland gibt es immer weniger Firmengründer. Gleichzeitig sterben die Unternehmertypen alter Manier aus. Die Zukunft der Wirtschaft ist bedroht.,
in:
Handelsblatt v. 17.07.

Die Zukunft der Wirtschaft ist bedroht? Das wollen uns DEMLING/MÜLLER/RICKENS belegen, u.a. mit dem Gründungsmonitor 2019 der KfW-Bank mit dem Titel: Gründungstätigkeit in Deutschland stabilisiert sich: Zwischenhalt oder Ende der Talfahrt? Das Fazit der Experten:

"Die Veränderung der Planerquote ist (...) ein guter Indikator für die Entwicklung der Gründerquote im Folgejahr. Abgesehen von zwei Ausnahmen trafen die von der Entwicklung der Planerquote ausgehenden Signale bisher zu. Ob sich letztlich die gesamtwirtschaftliche Entwicklung oder die Entwicklung der Planerquote als das richtige Signal für die Gründertätigkeit 2019 erweist, ist abzuwarten. Die Frage »Zwischenhalt oder Ende der Talfahrt?« bleibt also offen."

Es ist keine Neuigkeit, dass deutsche Journalisten gerne über fehlende Unternehmertypen jammern. Jede neue Generation ist bekanntlich unfähiger als die Vorangegangene.

"Da ist zum einen die Risikoscheu der jüngeren Generation. Nur zwei Prozent der Hochschulabsolventen denken an eine Gründung. Viel attraktiver scheint der öffentliche Dienst zu sein, den immerhin fast zehn Prozent anstreben."

Ist das schlimm? Den neoliberalen Umbau des Sozialstaats der 1990er Jahre begleitete bekanntlich das Vollkaskomentalitäts-Verdikt. Und die Verkünder einer Berliner Republik forderten bekanntlich ebenfalls mehr Unternehmer und weniger Kleinbürgermentalität. Feindbild war die Bonner Arbeitnehmerrepublik. DEMLING/MÜLLER/RICKENS brühen also lediglich kalten Kaffee neu auf!

Ganz am Schluss fordern die Autoren sogar die Sicherheitsreißleinen bei Versicherungen und Pensionsfonds zu beseitigen, damit diese die Altersvorsorgegelder in risikoreiche Investments von "Venture-Capital-Fonds" anlegen dürfen. Die Nationalsozialisten haben bekanntlich das Umlageverfahren der Rentenversicherung bekämpft, um mit Hilfe der Kapitaldeckung Kriege finanzieren zu können. Nichts anderes wollen nun unsere Neoliberalen, um Wirtschaftskriege führen zu können. In Deutschland fehle die Not, denn dann würde alles besser! Geht's noch?     

STEINHARTER, Hannah (2019): Dynamik in der Provinz.
HB-Serie Zukunftsatlas - Berliner Umland (5): Teltow-Fläming im Süden von Berlin ist der Top-Aufsteiger. Keine andere Region in Deutschland konnte ihre wirtschaftlichen Zukunftschancen schneller verbessern,
in: Handelsblatt
v. 19.07.

WR/DFG (2019): Entscheidungen in der Exzellenzstrategie: Exzellenzkommission wählt zehn Exzellenzuniversitäten und einen Exzellenzverbund aus,
in:
Pressemitteilung Wissenschaftsrat und Deutsche Forschungsgemeinschaft v. 19.07.

RITZER, Uwe (2019): Turnhalle.
Wirtschaftsreport: Adidas hat kaum noch etwas gemeinsam mit der Firma, die Adi Dassler vor 70 Jahren gründete. Das zeigt sich vor allem in der neuen Konzernzentrale. Zugleich versuchen sie in Herzogenaurach verzweifelt, die Vergangenheit zu bewahren,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 19.07.

Uwe RITZER beschreibt den Wandel des in Herzogenaurach gegründeten Familienunternehmen zum Global Player. Herzogenaurach ist mit über 20.000 Einwohnern die größte Stadt im bayerischen Landkreis Erlangen-Höchstadt. Im Zukunftsatlas 2019 rangiert der Kreis auf Platz 20 (Klassenstufe 2). Im Zukunftsatlas 2004 lag der Kreis noch auf Rang 44 (Klassenstufe 3). Im Bereich soziale Lage & Wohlstand gehört er zu den 10 Besten (Platz 9). Der Adidas-Konzern dürfte dazu einiges beigetragen haben. 

NEIßE, Wilfried (2019): Die Grundstückspreise steigen weiter.
Brandenburg: In Kleinmachnow kostete der Quadratmeter Bauland im vergangenen Jahr 680 Euro - mehr als in Potsdam,
in:
Neues Deutschland v. 19.07.

Wilfried NEIßE berichtet über den am Donnerstag veröffentlichten Grundstücksmarktbericht 2018 für Brandenburg. Zum Berliner Umland werden vom Grundstücksmarktbericht folgende Gemeinden in Brandenburg gezählt:

Tabelle: Gemeinden im Berliner Umland in Brandenburg
Landkreis/
kreisfreie Stadt
Gemeinden Stadttyp
Potsdam Potsdam (Landeshauptstadt) Großstadt
Barnim Ahrensfelde  
Bernau bei Berlin  
Panketal  
Wandlitz  
Werneuchen  
Dahme-Spreewald Eichwalde  
Königs Wusterhausen  
Mittenwalde  
Schönefeld  
Schulzendorf  
Wildau  
Zeuthen  
Havelland Brieselang  
Dallgow-Döberitz  
Falkensee  
Schönwalde-Glien  
Wustermark  
Märkisch-Oderland Altlandsberg  
Fredersdorf-Vogelsdorf  
Hoppegarten  
Neuenhagen bei Berlin  
Petershagen/Eggersdorf  
Rüdersdorf bei Berlin  
Strausberg  
Oberhavel Birkenwerder  
Glienicke/Nordbahn  
Hennigsdorf  
Hohen Neuendorf  
Leegebruch  
Mühlenbecker Land  
Oberkrämer  
Oranienburg  
Velten  
Oder-Spree Erkner  
Gosen-Neu Zittau  
Grünheide (Mark)  
Schöneiche bei Berlin  
Woltersdorf  
Potsdam-Mittelmark Kleinmachnow  
Michendorf  
Nuthetal  
Schwielowsee  
Stahnsdorf  
Teltow  
Werder (Havel)  
Teltow-Fläming Blankenfelde-Mahlow  
Großbeeren  
Ludwigsfelde  
Rangsdorf  
Quelle: Grundstücksmarktbericht 2019, S.11

NIMZ, Ulrike & Antonie RIETZSCHEL (2019): "Zeigen, dass hier noch was geht".
Sachsen: Was können West- und Ostdeutsche aus der OB-Wahl von Görlitz lernen? Ein Disput zwischen Octavian Ursu von der CDU, der nur mit Mühe gegen die AfD gewann, und dem Autor Lukas Rietzschel,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 20.07.

LUIG, Arno (2019): Farce auf Schienen.
In seinem Heimatland Großbritannien gilt Go-Ahead als "das schlechteste Bahnunternehmen". Ein Ruf, der offenbar auch in Baden-Württemberg verpflichtet, wo der Konzern seit Juni auf einigen Strecken fährt. So schlimm ist die Lage, dass Verkehrsminister Hermann mit dem Geld seiner Bürger nun einen "Lokführer-Pool" schaffen will - in ganz Europa sucht er dafür Personal,
in:
Kontext:Wochenzeitung. Beilage der TAZ v. 20.07.

Vorabdruck aus dem Buch Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn von Arno LUIG. In dem Buchauszug geht es um den Privatisierungswahn des Grünen-Verkehrsminister in Baden-Württemberg, der Chaos im Nahverkehr zu verantworten hat. Baden-Württemberg zeigt, dass die Grünen alles andere als eine zukunftsfähige Verkehrspolitik zu bieten haben.

HENGER, Ralph & Michael VOIGTLÄNDER (2019): Ist der Wohnungsbau auf dem richtigen Weg?
Aktuelle Ergebnisse des IW-Wohnungsbedarfsmodells,
in:
IW-Report 28 v. 22.07.

Die neoliberale Lobbyorganisation IW Köln hat wieder einmal den Wohnungsbedarf in Deutschland vermessen. Solche Berechnungen sind nur so gut wie die dahinterstehenden Annahmen zur Bevölkerungsentwicklung. Das Institut ist jedoch bekannt für Prognosen nach Gutsherrenart, d.h. die neoliberalen Interessen der Zentralisierung (Motto: Die Starken stärken) bestimmen die Annahmen. Die Angaben zu den Annahmen bleiben daher sehr unkonkret, wenn es heißt:

"Die jetzige Neuberechnung berücksichtigt unter anderem neue Bevölkerungsprognosen (Deschermeier, 2017), Leerstandszahlen (BBSR), sowie neue Wohnkonsumentwicklungen (SOEP v34, 2019) und Baufertigstellungszahlen (Statistisches Bundesamt).
(...).
Die Veränderung der Bevölkerungszahl und -struktur wird mit den Bevölkerungsfortschreibungen des IW (Deschermeier, 2017) und der Bertelsmann Stiftung (Loos et al., 2015) abgebildet. Die Eckwerte setzt dabei die aktuellere Bundesländerprognose von Deschermeier aus dem Jahr 2017, welche die Rekordzuwanderung des Jahres 2015 und die sich abzeichnende hohe Nettomigration in den Folgejahren berücksichtigt. Die Netto-Zuwanderung wird dort anhand einer stochastischen Prognose geschätzt und beläuft sich für den Zeitraum 2016 bis 2020 auf jährlich 570.000, für 2021 bis 2025 auf jährlich 248.000 und für 2026 bis 2030 auf jährlich 214.000. In Folge der Zuwanderung steigt die Bevölkerung von aktuell 82,8 Mio. (Stand 2017) auf 83,9 Mio. im Jahr 2025, ehe sie danach bis 2035 auf 83,1 Mio. zurückgeht. Die Bundesländerprognosen von Deschermeier werden mit den Kreisprognosen der Bertelsmann Stiftung verknüpft, so dass die altersdifferenzierten Bevölkerungszahlen auf der Kreisebene mit denen der Länderebene korrespondieren. Das Modell bildet die Jahre 2015, 2020, 2025 und 2030 ab.(...). Bis 2030 werden 71 Kreise mehr als 5 Prozent an Bevölkerung gewinnen. Dies betrifft vor allem die Metropolen wie Berlin, Hamburg, München oder Köln. Auch einige ostdeutsche Großstädte wie Leipzig oder Dresden verzeichnen hohe Wachstumsraten. Gleichzeitig werden jedoch auch 72 Kreise mehr als 5 Prozent an Bevölkerung verlieren, die sich vor allem in den neuen Bundesländern befinden. Aber auch im Saarland, dem südlichen Rheinland-Pfalz, den nördlichen Randgebieten von Bayern und dem nördlichen Hessen ist mit einer rückläufigen Bevölkerung zu rechnen. In 19 Kreisen ist sogar von einem Bevölkerungsschwund von über 10 Prozent auszugehen (z. B. Suhl)." (S.4f.)

Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnungen veralten in der Regel bereits nach 3 Jahren so sehr, dass sie unbrauchbar sind. "Prognosen" bis 2030 sind daher lediglich Kaffeesatzleserei und suggerieren lineare Zukunftsentwicklungen, die mit der Realität nichts gemein haben.

Bereits die Zuwanderungszahlen für die Jahre bis 2020 liegen mit jährlich 570.000 über der tatsächlichen Zuwanderung, d.h. der Wohnbedarf in den Großstädten wird überschätzt. Zugleich werden Zahlen der Bertelsmann-Stiftung zugrunde gelegt, die den Bevölkerungsrückgang jenseits der Großstädte überschätzen.

Das neoliberale Unternehmen Empirica hat eine Wohnungsmarktprognose 2019 - 2020 im Dezember 2018 veröffentlicht. Dort werden immerhin 3 Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung vorgestellt, jedoch zur Geburtenentwicklung nur eine, die mit 1,4 Kinder pro Frau überholt ist. Eine solche Prognose verfehlt also den Bedarf für Familienwohnungen und zeigt einmal mehr, dass die Berechnungen zur Wohnungsnachfrage - zumal auf Kreisebene - mehr als kritisch sind und in erster Linie den Bedürfnissen der Auftraggeber entsprechen.

Die Propaganda in den Medien lautet: Zu wenig Wohnungsbau in den Städten (z.B. Michael Fabricius "Stadtleben wird zur Utopie", Welt 23.07.2019). Aber stimmt das überhaupt? Die Welt präsentiert uns eine Grafik, die nur Großstädte und Metropolen auflistet. Der höchste Bedarf besteht demnach in Kiel, wo nur 25 % des Bedarfs gedeckt ist. Potsdam, die Landeshauptstadt von Brandenburg, hat dagegen zu viel Wohnungen gebaut (102 %).

"Während in den großen Städten zu wenig gebaut wird, gibt es auch Landkreise und Orte mit Bedarfsdeckung von über 100 Prozent - wo also mehr gebaut wird als nötig. Dutzende kleine und mittelgroße Städte sind darunter, etwa Bautzen, Calw oder Passau",

erzählt uns FABRICIUS. Tatsächlich handelt es sich bei Bautzen nicht um die Stadt, sondern um den gleichnamigen Landkreis in Sachsen (165 %). Auch Calw wird vom IW Köln nicht als Stadt, sondern nur als Landkreis gelistet (160 %). Lediglich Passau wird vom IW Köln zum einen als kreisfreie Stadt (151 %) und zum anderen als Landkreis gelistet (137 %). FABRICIUS verbreitet also Fake-News! 

Ein Blick auf die 401 betrachteten Regionen zeigt ebenfalls ein anderes Bild. Aus der folgenden Tabelle sind die 10 Regionen mit dem höchsten Bedarf bzw. dem höchsten Wohnungsüberhang aufgeführt:

Tabelle: Die 10 Regionen mit höchstem Wohnungsüberhang bzw. Wohnungsfehlbedarf in Deutschland
Rang Land Region Regionstyp Stadttyp Verhältnis Fertigstellungen (2016-2018)
zum Bedarf im Jahr 2020
1 Rheinland-Pfalz Speyer kreisfreie Stadt Mittelstadt 21 %  
2 Schleswig-Holstein Kiel kreisfreie Stadt Großstadt 25 %  
3 Thüringen Eisenach kreisfreie Stadt Mittelstadt 27 %  
4 Rheinland-Pfalz Frankenthal kreisfreie Stadt Mittelstadt 29 %  
5 Niedersachsen Braunschweig kreisfreie Stadt Großstadt 35 %  
6 Bayern Garmisch-Partenkirchen Landkreis   37 %  
7 Hessen Main-Kinzig-Kreis Landkreis   38 %  
8 Thüringen Saale-Holzland-Kreis Landkreis   38 %  
9 Thüringen Gera kreisfreie Stadt Mittelstadt 39 %  
10 Thüringen Weimar kreisfreie Stadt Mittelstadt 40 %  
392 Hessen Schwalm-Eder-Kreis Landkreis     277 %
393 Nordrhein-Westfalen Höxter Landkreis     283 %
394 Rheinland-Pfalz Vulkaneifel Landkreis     299 %
395 Baden-Württemberg Kaiserslautern Landkreis     303 %
396 Bayern Coburg Landkreis     319 %
397 Rheinland-Pfalz Cochem-Zell Landkreis     324 %
398 Bayern Neustadt a.d. Waldnaab Landkreis     351 %
399 Bayern Hof kreisfreie Stadt Mittelstadt   357 %
400 Bayern Main-Spessart Landkreis     392 %
401 Bayern Rhön-Grabfeld Landkreis     401 %
Quelle: IW-Report 28/2019, S.28ff; eigene Berechnungen

Unter den 10 Regionen mit dem höchsten Wohnraumbedarf findet sich in der Welt-Grafik einzig Kiel. Leipzig mit 45 % gehört schon nicht mehr dazu. Auffällig ist, dass insbesondere in Thüringen Wohnraumbedarf gesehen wird, während in Bayern die höchsten Wohnraumüberschüsse bestehen. Erstaunlich ist, dass sich die "erschöpfte Stadt" Gera unter jenen Städten mit dem höchsten Wohnraumbedarf befindet. Im Zukunftsatlas 2019 belegt Gera Platz 366 (Klassenstufe 7).

MERSI, Frederick (2019): "Lokführer kann man sich nicht einfach backen".
Bayern: Viele Landstriche in Bayern fühlen sich abgehängt, da die Bahn sehr unzuverlässig ist,
in:
Neues Deutschland v. 22.07.

Nicht nur in Baden-Württemberg, sondern auch in Bayern führt die Privatisierung der Bahn zu Problemen:

"Das Zentrum von Eichstätt, der Großen Kreisstadt, (...) hat seit dem 10. Juli kein Zug der Bayerischen Regiobahn (BRB) mehr erreicht. Es fehlen Lokführer. In Bayern können sie die Grünen noch als Oppositionspartei über die Regierung empören. In Baden-Württemberg haben sie das Desaster auf der Schiene mitzuverantworten.

"Durch die Privatisierung der Bahnunternehmen und deren unterschiedlichen Fahrzeugtypen seien die Einsatzgebiete für Lokführer im Nahverkehr immer kleiner geworden. Als erstes eingeschränkt werden oft Strecken in ländliche Gebiete. Dort sind meist weniger Fahrgäste betroffen. Das sei auch ein Grund, weshalb die BRB zwischen Eichstätt und Ingolstadt auf Busse und Taxis setze, so ein Sprecher",

schreibt Frederick MERSI.

GREIVE, Martin (2019): Schuldenschnitt für Pleite-Kommunen.
Kommunale Selbstverwaltung: Ökonomen unterstützen die Pläne von Finanzminister Scholz, verschuldeten Kommunen ihre Altschulden zu erlassen,
in:
Handelsblatt v. 23.07.

Die neoliberale Lobbyorganisation IW Köln hat Vorstellungen für die Altschuldenlösung, die im Interesse der Arbeitgeber sind. So soll die Gewerbesteuer abgeschafft werden und dafür eine höhere Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer erfolgen. Nach einer wirklichen Problemlösung sieht das eher nicht aus, denn dazu wären radikalere Lösungen erforderlich. Statt Kommunen zu bestrafen, die "schlechte Risiken" nicht durch Gentrifizierung über die Gemeindegrenzen entsorgen können, sollten "schlechte Risiken" durch finanzielle Umverteilung solidarisch getragen werden, dann würde sich auch das Problem der sozialen Segregation besser lösen lassen.

KÖCHER, Renate (2019): Das ostdeutsche Identitätsgefühl.
In Ostdeutschland verstärkt sich das Empfinden, abgehängt zu sein. Das schlägt sich in den Parteipräferenzen nieder,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.07.

Renate KÖCHER hat mit Allensbach abgefragt, was die Menschen in Deutschland aus der Medienberichterstattung gelernt haben und wundert sich, dass das genau dem entspricht, was die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme in den Köpfen der Ostdeutschen angerichtet hat. Neoliberalismus und Nationalkonservatismus haben zur Ursachenumdeutung beigetragen. In dieser Umkehrung der Ursachen ist nicht der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur, sondern die dadurch verursachte Abwanderung, also die Demografie das Problem. Es wundert also kaum, dass die Ostdeutschen in der Demografie ihr Schicksal sehen. Jahrzehntelange Medienberichterstattung und die neoliberalisierten Regierungsparteien im Osten haben die Wirkung nicht verfehlt. Genauso absurd ist die Gegensatzbildung zwischen Nation und "ostdeutscher Identität":

"Ostdeutsche Anhänger der AfD und der Linken sind in hohem Maße von diesem spezifisch ostdeutschen Identitätsgefühl geprägt, während sich die Anhänger der anderen Parteien mit großer Mehrheit primär mit der Nation identifizieren. So sehen sich rund zwei Drittel von diesem primär als Deutsche, während 59 Prozent der Anhänger der Linken und 62 Prozent der ostdeutschen AfD-Anhänger sich in erster Linie als Ostdeutsche sehen."

Die Fragestellung ist schon allein deshalb abwegig, weil Deutschsein und Westdeutschsein im Grunde dasselbe meint, da Ostdeutschland nie mehr als ein Beitrittsgebiet war. Aber dies zu hinterfragen, ist keine Sache von Nationalkonservativen.

Aufschlussreicher sind die Ansichten von KÖCHER zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die in der Interpretation der Umfrageergebnisse deutlich mitschwingen:

"Die Politik kämpft mit der durch das Grundgesetz legitimierten Erwartungshaltung, dass alles getan werden muss, um in allen Regionen Deutschlands gleichwertige Lebensverhältnisse sicherzustellen. 61 Prozent der Bürger unterstützen diese Forderung, in Ostdeutschland 77 Prozent. Entsprechend breit wird der Vorschlag abgelehnt, die Förderung verstärkt auf die wirtschaftlich starken Regionen zu konzentrieren und die Förderung der schwächeren Regionen zurückzufahren. Nur 13 Prozent befürworten den Vorschlag, 68 Prozent sehen ihn kritisch, in Ostdeutschland 86 Prozent. Auch wenn argumentiert wird, dass die Förderung wirtschaftlich starker Regionen das Potential hat, auf das Umfeld auszustrahlen und Wachstumsimpulse zu geben, wächst die Unterstützung nur von 17 Prozent. Knapp zwei Drittel halten dagegen, dass gerade die schwachen Regionen gefördert werden müssten, damit sie nicht ganz den Anschluss verlieren."

Im Subtext für die Eliten heißt das, dass die Eliten andere Argumente vorbringen sollen, damit die Zustimmung zur neoliberalen Politik der Förderung der Starken und der Vernachlässigung der Schwachen wächst. Im Zukunftsatlas 2019 wird im neoliberalen Ökonomie- und Journalistensprech von "Spill-over-und Tripple-down-Effekten" gesprochen. Dieses Argument verfängt jedoch bei der Bevölkerung nicht, stattdessen hat sie die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme bereits mit der Muttermilch aufgesogen, weshalb die Demografieargumente zur selbsterfüllenden Prophezeiung geworden sind. Nicht der Strukturzusammenbruch der Wirtschaft stehet am Anfang der Misere, sondern deren demografischen Begleiterscheinungen, die als "Teufelskreis" oder "Abwärtsspirale" die Köpfe verwirrt:

"Es ist ein Teufelskreis: Die Abwanderung der letzten Jahrzehnte hat zu einer ungewöhnlich raschen Alterung und gleichzeitig Ausdünnung insbesondere der ländlichen Regionen geführt; damit wird es schwieriger, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten, sei es die Abdeckung mit Schulen oder die medizinische Versorgung; die Attraktivität als Standort für den Handel wie Produktionsbetriebe sinkt, was den Wegzug weiter antreibt. Auch in Ostdeutschland gibt es durchaus vitale Zentren (...). Es sind jedoch zu wenige, und die Entwicklung in den übrigen Regionen drückt viele nieder."

In Sachsen kann man exemplarisch die Verwüstungen dieser neoliberalen Propaganda studieren: Jenseits von Dresden und Leipzig herrscht die Verwüstung. Der jetzige Ministerpräsident Michael KRETSCHMER stand für diese Politik als Generalsekretär. Seit der Ministerpräsident ist, hat er das abgehängte Land entdeckt, weil ihm die AfD im Nacken sitzt. Wem glaubt man also? Denjenigen, die nun ein wenig Geld in die vernachlässigten Regionen schaufeln? Oder denjenigen, die dafür gesorgt haben, dass dies überhaupt geschieht? Die Quittung gibt es im September bei der Landtagswahl!

"(Es) hängt viel davon ab, dass die existierenden vitalen Zentren weiter wachsen und ihren Radius vergrößern",

erklärt uns KÖCHER das, was als "Spill-over-und Tripple-down-Effekte" bezeichnet wird. Es ist völlig verfehlt, auf die existierenden Zentren zu setzen, statt neue vitale Zonen zu schaffen. In Sachsen, dem neoliberalen Vorzeigeostland, ist diese Politik radikal gescheitert und hat die AfD stark gemacht. Aber offenbar hofft man darauf, dass eine CDU/AfD-Koalition einfach so weitermachen könnte wie bisher, wenn dort die "Gemäßigten" also Neoliberale und Nationalkonservative die Macht an sich reißen könnten.

DESTATIS (2019): Armutsgefährdung 2018 in Bayern am geringsten, in Bremen am höchsten.
Alleinerziehende und ihre Kinder sind am stärksten von Armut bedroht,
in:
Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden  v. 25.07.

Die taz titelt einen Tag später: "Die Ost-West-Schere wird kleiner". Dort heißt es aber auch:

"(L)ediglich das Sorgenkind Bremen liegt mit einer Armutsgefährdungsquote von 22,7 Prozent vor den ostdeutschen Bundesländern",

erzählt uns David RUTSCHMANN in dem taz-Artikel. Verschwiegen wird jedoch, dass in Bremen die Armutsgefährdungsquote zwischen 2015 und 2018 um 2,1 Prozent gesunken ist und nun nur noch 0,4 Prozent über dem Wert von 2005 liegt.

FRICKE, Christiane (2019): Das Wunder von Bamberg.
Bayern: Fleißige Händler haben die Antiquitätenwochen zum Erfolg geführt. Jetzt proben sie den Schulterschluss mit der Gegenwartskunst,
in:
Handelsblatt v. 26.07.

Während Christiane FRICKE letztes Jahr noch ausführlich auf die Bedeutung der Antiquitätenwochen und des Kunsthandels für Bamberg einging, beschränkt sich dies dieses Jahr auf den Satz:

"Bamberg ist immer noch die Hochburg des Antiquitätenhandels - deutschlandweit."

GAMMELIN, Cerstin (2019): Ende Gelände.
Wirtschaftsreport: Im Osten der Lausitz stand einst das größte Energiekombinat der DDR. Den Fall der Mauer hat es nicht überlebt. Heute gibt es immerhin noch einen echten Exportschlager - zumindest bis 2038. Und dann?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 27.07.

JUNG, Alexander (2019): Rüber und retour.
Deutscher Osten I: Seit der Wende lautete für Millionen Ostdeutsche die Devise "Go West", dort waren die Jobs. Jetzt kehren erstmals mehr Bürger in die neuen Länder zurück als fortziehen - weil die Sehnsucht nach der Familie groß ist und Fachkräfte dringend gesucht werden,
in:
Spiegel Nr.32 v. 03.08.

Vor den Wahlen in Ostdeutschland sind angesichts der Umfragen zur AfD positive Meldungen gefragt. Aber wie aus einer Mücke einen Elefanten machen?

"Zwischen 1991 und 2017 zogen rund 3,7 Millionen Bürger aus dem Osten fort. Im selben Zeitraum kamen 2,5 Millionen aus dem Westen in die neuen Bundesländer. Unter dem Strich büßten die ostdeutschen Flächenländer rund 1,2 Millionen Einwohner ein (...). Es verschwand zwar keine ganze Generation, wie manchmal behauptet wird, doch wer fortzog, war häufig besonders qualifiziert, ambitioniert und mobil, geografisch wie geistig.
Die erste Welle startete gleich nach der Wende. Damals waren es überproportional viele junge Frauen (...). Eine zweite Hochphase folgte in den Nullerjahren (...). Die Bürger, gerade die jüngeren, verließen insbesondere die peripheren Lagen Ostdeutschland. (...).
Seit einigen Jahren nun schwindet die Anziehungskraft, die der West ausgeübt hat",

erklärt uns Alexander JUNG, der uns die Einschätzung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung präsentiert. Ein Plus von 4.000 Menschen im Jahr 2017 wird uns als Trendwende verkauft. Ausgerechnet Sachsen und Brandenburg (Wahlen!) hätten am meisten profitiert. Die Datenlage ist jedoch miserabel:

"Aktuelle Zahlen, wie viele der Ostzuzügler tatsächlich Rückkehrer sind, gibt es nicht. Doch laut einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sind von den rund 324.000 Ostbürgern, die zwischen 2000 und 2012 in die alten Länder übersiedelten, nur rund 53.000 wieder zurückgegangen, das ist jeder Sechst. Diese Gruppe verbrachte im Schnitt 3 Jahre im Westen".

Bei diesen Zahlen handelt es sich also um Angaben zur zweiten Welle der Abwanderung, während die erste Welle viel umfangreicher war.

"In den Westen wegen der Arbeit, aus privaten Gründen zurück, das ist das typische Muster der neuen West-Ost-Wanderer",

wird uns mitgeteilt. Die Rückkehrer werden in drei Gruppen untergliedert:

- Männer und Frauen Anfang 30, die eine Familie gegründet haben (größte Gruppe)
- Fünfzig Plus, die sich um ihre alte Eltern kümmern wollen bzw. ihr Haus erbten
- Senioren, die in die vertraute Umgebung zurückkehren, um dort den Lebensabend zu verbringen.

Am Ende des Artikels kommt dann jedoch die Ernüchterung:

"Die 'Ballungszentren, insbesondere Leipzig, gewinnen Einwohner hinzu, die Provinz blutet förmlich aus. In allen fünf ostdeutschen Flächenländern wird die Bevölkerungszahl in den kommenden 15 Jahren zudem voraussichtlich zurückgehen, weil die Geburtenrate niedrig ist. Einzelne Regionen werden wohl ein Drittel der Erwerbsfähigen verlieren. Diese Lücke wird auch die aktuelle Rückkehrerbewegung nicht schließen können."

Der neoliberale Ökonom Joachim RAGNITZ, der schon aufgrund seiner Interessenlage zum Pessimismus neigen muss, prognostiziert daher zwar den Stopp der Abwanderung, aber eine weitere Bevölkerungsschrumpfung im Osten. Bekanntlich hat sich in den letzten Jahrzehnten die Mehrzahl der Prognosen in Wohlgefallen aufgelöst!        

HÜTHER, Michael/SÜDEKUM, Jens/VOIGTLÄNDER, Michael (2019): 19 Mal akuter Handlungsbedarf.
Regionalentwicklung: Deutschlands Metropolregionen boomen, während der ländliche Raum und der Osten darben? Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Kooperation mit Wissenschaftlern vier deutscher Hochschulen wollte es genauer wissen. Das Ergebnis: 19 von insgesamt 96 deutschen Regionen haben Probleme. Längst nicht alle liegen in Ostdeutschland oder auf dem platten Land,
in:
Pressemitteilung IW Köln v. 08.08.

Das neoliberale Institut der Deutschen Wirtschaft reagiert mit der Broschüre Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit auf den Niedergang des progressiven Neoliberalismus und den Erfolg der AfD. Um den wirtschaftsliberalen Interessen ein wenig Glanz zu verleihen, wurden neben den üblichen institutseigenen Wissenschaftlern auch 4 Autoren verpflichtet, die an Hochschulen lehren, so der Ökonom Jens SÜDEKUM, der Soziologe Rolf G. HEINZE, der Rechtswissenschaftler Wolfgang KAHL und der Raumplaner Peter DEHNE.

Statt wie üblich werden nicht 401 Kreise und kreisfreie Städte betrachtet, sondern 96 Raumordnungsregionen. In den Medienberichten wird dies ignoriert und stattdessen so getan, als ob Landkreise und kreisfreie Städte betrachtet worden wären. Die Begründung der Regionsauswahl ist den wirtschaftsliberalen Lobbyinteressen geschuldet, die sich an den Bund und nicht an die Länder richten (vgl. S.92).

Im Artikel Gefährliche Abwärtsspirale von Silke KERSTING (Handelsblatt 09.08.2019) heißt es:

"19 von Insgesamt 96 deutschen Regionen haben Probleme, in sechs Regionen ist die Lage sogar auffallend schlecht, darunter Duisburg, Saar, Bitterfeld-Wittenberg und Oberlausitz. (...).
Mit Blick auf die Wirtschaft liegen die Schlusslichter in Westdeutschland. Besonders düster sieht es in den Ruhrgebietsregionen Duisburg/Essen und Emscher-Lippe sowie Bremerhaven aus. (...)
Ostdeutschland hat vor allem ein Demografie-Problem. »Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg, Lausitz-Spreewald, Oberlausitz-Niederschlesien sowie Ost- und Südthüringen weisen ein hohes Durchschnittsalter der Bevölkerung auf, das in den vergangenen Jahren auch noch überproportional gestiegen ist«, heißt es in der Studie. (...).
Bei der infrastrukturellen Entwicklung (...) stehen (...) erneut die drei westdeutschen Regionen Emscher-Lippe gemeinsam mit Trier und der Westpfalz."

Aus der folgenden Tabelle sind die Raumordnungsregionen mit ihren zugehörigen Landkreisen bzw. kreisfreien Städten der 19 gefährdeten Regionen in Deutschland ersichtlich. Zudem wird für die Landkreise bzw. kreisfreien Städte die Bewertung der Regionen im Zukunftsatlas 2019 angegeben.

Tabelle: Die 19 gefährdeten Raumordnungsregionen in Deutschland im Vergleich mit dem Zukunftsatlas 2019
Rang Land Raumordnungsregion (Nr.) Landkreis/
kreisfreie Stadt
Gefährdungs-
Punkte
Rang (Klasse)
im Zukunftsatlas
2019
1 Sachsen-Anhalt Altmark (1501) Altmarkkreis Salzwedel 3,25 400 (8)
Stendal 401 (8)
2 Sachsen-Anhalt Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg (1502) Anhalt-Bitterfeld 2,75 381 (7)
Dessau-Roßlau 353 (6)
Wittenberg 385 (7)
3 Nordrhein-Westfalen Emscher/Lippe (0509) Bottrop 2,75 338 (6)
Gelsenkirchen 371 (7)
Recklinghausen 349 (6)
4 Nordrhein-Westfalen Duisburg/Essen (0507) Duisburg 2,5 317 (6)
Essen 239 (5)
Kleve 244 (5)
Mülheim a. d. Ruhr 241 (5)
Oberhausen 378 (7)
Wesel 242 (5)
5 Sachsen Oberlausitz-Niederschlesien (1402) Bautzen 2,0 294 (5)
Görlitz (Lkr) 379 (7)
6 Saarland Saar (1001) Merzig-Wadern 2,0 330 (6)
Neunkirchen 362 (7)
Saarlouis 260 (5)
Saar-Pfalz-Kreis 254 (5)
Stadtverband Saarbrücken 327 (6)
Sankt Wendel 281 (5)
7 Mecklenburg-Vorpommern Mecklenburgische Seenplatte (1301) Mecklenburgische Seenplatte 1,75 391 (7)
8 Thüringen Nordthüringen (1602) Eichsfeld 1,75 289 (5)
Kyffhäuserkreis 386 (7)
Nordhausen 368 (7)
Unstrut-Hainich-Kreis 365 (7)
9 Thüringen Südthüringen (1604) Eisenach 1,75 321 (6)
Hildburghausen 315 (6)
Schmalkalden-Meiningen 360 (7)
Sonneberg 384 (7)
Suhl 324 (6)
Wartburgkreis 274 (5)
10 Brandenburg Lausitz-Spreewald (1202) Cottbus 1,75 363 (7)
Dahme-Spreewald 200 (5)
Elbe-Elster 393 (8)
Oberspreewald-Lausitz 358 (7)
Spree-Neiße 397 (8)
11 Rheinland-Pfalz Westpfalz (0705) Donnersbergkreis 1,75 296 (5)
Kaiserslautern (Stadt) 221 (5)
Kaiserslautern (Lkr) 306 (5)
Kusel 387 (7)
Pirmasens 376 (7)
Südwestpfalz 343 (6)
Zweibrücken 230 (5)
12 Nordrhein-Westfalen Bochum/Hagen (0504) Bochum 1,75 292 (5)
Ennepe-Ruhr-Kreis 226 (5)
Hagen 354 (6)
Herne 357 (7)
Märkischer Kreis 282 (5)
13 Thüringen Ostthüringen (1603) Altenburger Land 1,5 389 (7)
Gera 366 (7)
Greiz 367 (7)
Jena 029 (2)
Saale-Holzland-Kreis 372 (7)
Saale-Orla-Kreis 380 (7)
Saalfeld-Rudolstadt 375 (7)
14 Sachsen-Anhalt Magdeburg (1504) Börde 1,5 325 (6)
Harz 369 (7)
Jerichower Land 399 (8)
Magdeburg 290 (5)
Salzlandkreis 390 (7)
15 Sachsen-Anhalt Halle/Saale (1503) Burgenlandkreis 1,5 382 (7)
Halle (Saale) 310 (6)
Mansfeld-Südharz 398 (8)
Saalekreis 348 (6)
16 Sachsen Südsachsen (1403) Chemnitz 1,5 243 (5)
Erzgebirgskreis 359 (7)
Mittelsachsen 336 (6)
Vogtlandkreis 322 (6)
Zwickau 247 (5)
17 Schleswig-Holstein Ostholstein (0103) Ostholstein 1,5 300 (5)
Lübeck 276 (5)
18 Nordrhein-Westfalen Dortmund (0506) Dortmund 1,5 255 (5)
Hamm 332 (6)
Unna 234 (5)
19 Bremen Bremerhaven (0303) Bremerhaven 1,5 383 (7)
Niedersachsen Cuxhaven 316 (6)
Niedersachsen Wesermarsch 278 (5)
Quelle: IW-Regionalstudie, Abb. 5.9, S.109; Zukunftsatlas 2019 - Auf einen Blick

Die Übersicht zeigt, dass die Raumordnungsregionen teils sehr unterschiedliche Regionen auf der Ebene der Landkreise bzw. kreisfreien Städte zusammenfassen. Von den 10 im Zukunftsatlas 2019 am schlechtesten eingestuften Regionen (Klassenstufe 8) finden sich nur 6 auch bei der IW-Regionalstudie wieder. Die restlichen 4 Regionen werden dagegen aufgrund der Zusammenfassung zu Raumordnungsregionen unsichtbar, wobei unterschiedliche Rankings durchaus zu abweichenden Bewertungen kommen können (siehe Vergleich Die demographische Lage der Nation).

Würde z.B. die kreisfreie Stadt Jena nicht zur Raumordnungsregion Ostthüringen gehören, dann würde die Region sicherlich wesentlich schlechter abschneiden.

Fazit: Rankings treffen durch die Auswahl der Betrachtungsebene bereits Vorentscheidungen über die Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von Problemen. Hinter der Auswahl von Raumordnungsregionen statt von Landkreisen bzw. kreisfreien Städten verbirgt sich bereits ein ganz spezifisches Politikverständnis, das folgendermaßen formuliert wird: 

"Zwar gibt es auch innerhalb der Regionen relevante Entwicklungsunterschiede. Allerdings fallen diese lokalen Belastungen und möglichen Abkopplungen nach dem Subsidiaritätsprinzip in den Aufgabenbereich der Länder und Kommunen und nicht in den des Bundes. Überdies gibt es zur Wahrung der Handlungsfähigkeit der Länder bereits das Instrument des Länderfinanzausgleichs." (S.92)

LOCKE, Stefan (2019): Dem Osten eine Zukunft.
Leidartikel: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts: Den Kommunen im Osten fehlt es bis heute,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.08.

Stefan LOCKE fordert den Ausverkauf von Know How im Osten zu verhindern, die Steuerverteilung gerechter zu organisieren und mehr Behörden und Institutionen im Osten anzusiedeln.

ECKERT, Daniel (2019): Droht Ihrer Region die Abwärtsspirale?
Hohe Arbeitslosigkeit, marode Infrastruktur, Abwanderung: Ein Fünftel Deutschlands ist laut einer Studie nicht zukunftsfest. Forscher fürchten, dass die Gebiete abgehängt werden - und schlagen Gegenmaßnahmen vor,
in:
Welt v. 09.08.

"Sowohl Strukturschwäche als auch demografisches Ausbluten können zu sch selbst verstärkenden Prozessen führen (...).
Und es gibt noch einen Faktor, der den Prozess beschleunigen kann: eine schwache Infrastruktur",

stellt Daniel ECKERT die Ergebnisse des IW-Regionenranking vor. Eine solche Sicht verkennt die Sachlage, denn primärer Faktor von Abwärtsspiralen ist die Strukturschwäche von Regionen, während demografische Prozesse und die Vernachlässigung der Infrastruktur nur Begleitprozesse sind. Der Versuch diese Ursachenverkettung zu verschleiern, kann als Demografisierung gesellschaftlicher Probleme beschrieben werden. Nur weil im Osten die Deindustrialisierungsprozesse zum zeitweisen Geburtenausfall und zur Abwanderung führten und keine angemessenen politischen Gegenmaßnahmen getroffen wurden, werden nun "demografische Probleme" sichtbar, die jedoch lediglich Versäumnisse der Vergangenheit darstellen.

Rankings und deren Fehlinterpretationen führen zudem zu Fremd- und Selbststigmatisierungen von ganzen Regionen, die eine Umkehr solcher Prozesse zusätzlich erschweren. Schließlich müssen die Medien, die solche Rankings unreflektiert in Umlauf bringen, nicht für die Imageschäden haften, die sie anrichten.     

KERSTING, Silke (2019): Gefährliche Abwärtsspirale.
Während viele Großstädte wachsen, verlassen gerade junge und gut ausgebildete Menschen ländlich geprägte oder strukturschwache Regionen. Ökonomen warnen die Politik vor abgehängten Regionen,
in:
Handelsblatt v. 09.08.

Silke KERSTING hebt 3 Klassen von Regionen hervor: 6 Regionen mit auffallend schlechter Lage, 13 gefährdete Regionen und der große Rest von 77 nicht-gefährdeten Regionen, wobei die 11 Regionen zu Ostdeutschland zusammengefasst werden, während die 8 westdeutschen Regionen unter den 19 gefährdeten Regionen explizit Bundesländern zugeordnet werden.

Für KERSTING liegt die Brisanz der Ergebnisse in den ostdeutschen AfD-Erfolgen begründet (Der Beitrag Frust treibt der AfD Wähler zu widmet sich diesem Aspekt). Es wird bei den Indikatoren nur die Gesamtzahl 12 und die 3 Bereiche genannt. In der Broschüre Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen Vielfalt und Gleichwertigkeit findet sich eine Tabelle mit den Zugehörigkeiten der Indikatoren zu den einzelnen Bereichen (S.92).

Der Bereich Demografie wird durch die Indikatoren Fertilitätsrate (TFR), die Lebenserwartung und das Durchschnittsalter sowie die Bevölkerungszahl abgebildet, wobei unterschiedliche Zeiträume der Vergangenheit betrachtet werden. Diese Daten beziehen sich jedoch nicht auf die Raumordnungsregionen, sondern auf die 401 Kreise, d.h. die Autoren aggregieren die Daten, wobei die Kriterien ein Geheimnis sind. Auch die Umsetzung in Gefährdungspunkte ist nicht nachvollziehbar. Die Behandlung des Demografiebereichs auf S.102/103 gibt auch keine Aufschlüsse über die Beurteilungskriterien, da hier wiederum nur Gefährdungspunkte aufgelistet werden.

Fazit: Das Ranking ist für einen Leser nicht nachvollziehbar, weil die Kriterien nicht offen gelegt werden. Seriöse Wissenschaft geht anders. Die 290seitige Broschüre besteht überwiegend aus Zusammenfassungen bereits veröffentlichter Daten, die mit der knappen empirischen Untersuchung nichts zu tun haben.

Einzig die interaktive Karte auf der Website nennt für die einzelnen Indikatoren die zugehörigen Gefährdungspunkte, z.B. für die Raumordnungsregion Altmark. Wer sich die Mühe macht, kann im Prinzip also die Kriterien aus der interaktiven Karte herausdestillieren. Viel Vergnügen!

LEHMANN, Timo/MÜLLER, Ann-Katrin/PIEPER, Milena (2019): Sie sind schon da.
Demokratie: In den drei ostdeutschen Bundesländern, in denen bald gewählt wird, ist die AfD längst Volkspartei, sie könnte auf dem ersten Platz landen. Woher schöpft die Partei ihre Kraft? Eine Spurensuche in fünf Gemeinden,
in:
Spiegel Nr.33 v. 10.08.

LEHMANN/MÜLLER/PIEPER stellen uns AfD-Politiker aus Weira und Gera (Thüringen), Blankenfelde-Mahlow und Dallgow-Döberitz (Brandenburg) und aus Pirna in Sachsen vor, die von der CDU und FDP zur AfD gewechselt sind und als Neoliberale und Nationalkonservative keine Berührungsängste mit dem Völkischen kennen und somit die AfD im Osten auf der kommunalen Ebene salonfähig machen.

Der Spiegel will mit dem Politikwissenschaftler Michael LÜHMANN an einem einzigen Beispiel die These belegen, dass die AfD keine "Partei der Abgehängten". Eine Allensbach-Umfrage wird als Beleg für die Nicht-Existenz eines Ost-West-Unterschieds hinsichtlich der Wirtschaftssituation gedeutet. Beliebt ist beim progressiven Neoliberalismus, dem der Spiegel verpflichtet ist, auch die Studie der neoliberalen Bertelsmann-Stiftung, bei der jedoch die Bundestagswahlkreise 2017 die Grundlage für eine grobe Analyse waren. Danach sei die Gesellschaft zwischen Befürwortern und Skeptikern der Modernisierung gespalten und die AfD sei die Partei der Modernisierungsskeptiker.

Tatsächlich kann jedoch die AfD durch ihre Indifferenz bei zentralen Themen noch ganz unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen bedienen, die von den "Abgehängten" bis zu den neoliberalen und nationalkonservativen Milieus der oberen Mittelschicht bzw. Oberschicht reichen. Der Versuch die AfD auf den völkischen Flügel zu reduzieren, ist  - wie die steigenden Umfragewerte zeigen, grandios gescheitert.

LEMBKE, Judith (2019): "Das Dorf muss gentrifiziert werden".
Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz über die neue Landliebe urbaner Hipster und wie sie verlassene Dörfer retten kann,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 11.08.

DÄHNER, Susanne u.a. (2019): Urbane Dörfer. Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann, herausgegeben vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Neuland21 e.V.

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat wieder einmal eine Propaganda-Broschüre erstellt. Urbane Dörfer ist eine neoliberale Vision, wonach Hipster die Dörfer (vorzugsweise) im Speckgürtel der Metropolen beatmen sollen. Dazu werden nun die folgenden 19 Projekte aus dem kosmopolitischen Milieu vorgestellt:

Tabelle: Übersicht der 19 Vorzeigeprojekte
Projekt Land Landkreis Gemeinde Stadttyp Projektname
1 Brandenburg Uckermark Gerswalde   Libken
2 Brandenburg Barnim Lunow-Stolzenhagen   Gut Stolzenhagen
3 Projekt noch in Planung Oranienburg   Annagarten
4 Projekt noch in Planung Prötzel   Hof Prädikow
5 Projekt noch in Planung Küstriner Vorland   Gut Gorgast
6 Brandenburg Märkisch-Oderland Alt-Tucheband   Hof Hackenow
7 Brandenburg Oder-Spree Steinhöfel   Haus des Wandels
8 Brandenburg Oder-Spree Steinhöfel   Zusammen in Neuendorf
9 Brandenburg Potsdam-Mittelmark Werder (Havel) Mittelstadt Uferwerk
10 Brandenburg Potsdam-Mittelmark Bad Belzig Kleinstadt Coconat
11 Brandenburg Potsdam-Mittelmark Wiesenburg/Mark   KoDorf
12 Brandenburg Potsdam-Mittelmark Brück   Die Frieda
13 Brandenburg Potsdam-Mittelmark Brück   Alte Mühle Gömnigk
14 Brandenburg Teltow-Fläming Jüterbog Kleinstadt Bauernhof Grüna
15 Sachsen-Anhalt Harz Harzgerode Kleinstadt Freie Feldlage
16 Sachsen-Anhalt Mansfeld-Südharz Seegebiet Mansfelder Land   Lebensraum Röblingen
17 Projekt noch in Planung bei Leipzig   Schwarzgestein
18 Sachsen-Anhalt Burgenlandkreis Zeitz Mittelstadt Kloster Posa
19 Sachsen Landkreis Görlitz Mittelherwigsdorf   Kulturfabrik Meda
Quelle: Urbane Dörfer, S.16f.

Viele der Vorzeigeprojekte sind entweder noch im Planungsstadium oder sollen durch zukünftige Projekte aufgewertet werden. Außerdem ist der Begriff "Urbane Dörfer" für einige Projekte glatter Etikettenschwindel. 

HANDELSBLATT-Titelthema: Aufstand der Abgehängten

GREIVE, Martin/KERSTING, Silke/WASCHINSKI, Gregor (2019): Weckruf der Absteiger.
Mehrere Ministerpräsidenten schlagen Alarm: Der Bund muss mehr gegen das wirtschaftliche Gefälle im Land tun. Innenminister Seehofer verspricht Hilfe,
in:
Handelsblatt v. 12.08.

Auf dem Titelbild pranken der sächsische Ministerpräsident Michael KRETSCHMER und CSU-Minister Horst SEEHOFER. Das Titelthema ist entsprechend in erster Linie Wahlkampfpropaganda für die sächsische CDU.

GREIVE, Martin/HÖPNER, Axel/KERSTING, Silke/SIGMUND, Thomas/WASCHINSKI, Gregor (2019): Hilferuf aus den Problemregionen.
Etliche Teile Deutschlands drohen abgehängt zu werden. Landespolitiker fordern nun endlich Taten statt Worten und hegen neue Hoffnung: Der Niedergang von Gegenden im Westen könnte neuen Schwung in die Debatte bringen,
in:
Handelsblatt v. 12.08.

Statt Aufklärung werden wir mit Propaganda vollgesülzt, denn der Artikel enthält in erster Linie Nullinformationen! Nullinformationen sind Informationen, die ohne Vergleichsmaßstab daherkommen, die zur Einordnung der Fakten notwendig sind. Typisch für Nullinformationen sind solche Sätze:

"Vor mehr als zehn Jahren übernahm der Passauer Unternehmer Günther Bessinger eine Maschinenbaufirma in einer kleinen Gemeinde im sächsischen Erzgebirgskreis. Die MN Maschinenbau Niederwürschnitz GmbH ist eine Erfolgsgeschichte in der strukturschwachen Gegend. Das Unternehmen (...) konnte Geschäft und Arbeitsplätze stark ausbauen.
Doch auch wenn der Betrieb läuft, ist Bessinger unzufrieden. Unzufrieden mit der Politik (...).
Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) liegt der Erzgebirgskreis in einer von 19 Regionen in Deutschland, die vor großen Zukunftsproblemen stehen und dauerhaft den Anschluss zu verlieren drohen. Allein elf dieser gefährdeten Landstriche befinden sich im Osten, vier in Nordrhein-Westfalen entlang der Ruhr. Und auch in Bremerhaven, dem Saarland, Schleswig-Holstein und der Westpfalz sehen die IW-Forscher angesichts der erheblichen Strukturprobleme »akuten« Handlungsbedarf",

erklärt uns das Journalistenteam. Um diese Fakten einordnen zu können, bedarf es eines Wissens über die Raumordnungsregionen in Deutschland, das hier vorausgesetzt wird. Aus der folgenden Tabelle sind die 96 Raumordnungsregionen nach Bundesländern untergliedert und den 19 gefährdeten Regionen gegenübergestellt.

Tabelle: Die 96 Raumordnungsregionen in Deutschland und ihre Verteilung
über die Bundesländer sowie die Verteilung der gefährdeten Regionen
Bundesland Anzahl
Raum-
ordnungs-
regionen
Anzahl
gefährdeter
Regionen
Alte Bundesländer Baden-Württemberg 12 0
Bayern 18 0
Berlin 1 0
Bremen* 1 0
Niedersachsen* 13 3*
Hamburg 1 0
Hessen 5 0
Nordrhein-Westfalen 13 4
Rheinland-Pfalz 5 1
Saarland 1 1
Schleswig-Holstein 5 1
Neue Bundesländer Brandenburg 5 1
Mecklenburg-Vorpommern 4 1
Sachsen 4 2
Sachsen-Anhalt 4 4
Thüringen 4 3
Deutschland (Gesamt) 96 21

Es zeigt sich, dass Sachsen keineswegs das Problemkind Nr.1 ist. Sorgenkind Nr.1 ist Sachsen-Anhalt, denn dort ist das gesamte Bundesland gefährdet. Dort lebten Ende 2018 rund 2,21 Millionen Menschen. Nur ist dort eben gerade kein Wahlkampf. Danach käme Thüringen, wo zwei Drittel der Bevölkerung und drei Viertel der Regionen betroffen ist. Auch das kleine Saarland ist als ganzes Bundesland gefährdet. Dort sind fast eine Million Menschen betroffen.

Stattdessen wird uns Sachsen, der neoliberale Musterknabe präsentiert, dessen Niedergang im ländlichen Raum voll und ganz die seit der Wende regierende CDU zu verantworten hat. Dort wo der CDU-Ministerpräsident Michael KRETSCHMER sein Bundestagsmandat verlor, in der Raumordnungsregion Oberlausitz-Niederschlesien mit den Landkreisen Bautzen und Görlitz, konnte die AfD besonders hohe Zuwächse verbuchen. KRETSCHMER muss also viel versprechen und jede Menge Absichtserklärungen vorweisen, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. Im Interview "Wir verspielen die Zukunft" schwadroniert er, dass wir kein "Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem" hätten. Ah ja? Als Generalsekretär war davon nichts zu hören, sondern die CDU berauschte sich an ihrer Leuchtturmpolitik.

AFHÜPPE, Sven (2019): Rettungsplan für die Abgehängten.
Leidartikel: Die ökonomische Aufholjagd ist in Ostdeutschland zum Stillstand gekommen. Ohne eine Perspektive droht sich der AfD-Aufschwung aber zu verfestigen,
in:
Handelsblatt v. 12.08.

Die AfD kann sich bei Journalisten wie Sven AFHÜPPE bedanken, denn er sagt nichts anderes, als dass es ohne die AfD keinen politischen Handlungsbedarf in den abgehängten Regionen geben würde. Damit treibt er die Wähler der AfD regelrecht in die Arme, denn so die Schlussfolgerung: Nur wer die AfD wählt, kann die Politik der Regierenden zum Handeln zwingen. Was aber, wenn die AfD derart stark ist, dass sie an die Regierung kommt - trotz Allparteienbündnissen. Darüber macht sich offenbar niemand Gedanken!

ZSCHIECK, Marco (2019): Im Osten was Neues.
Jahrzehntelang kennzeichneten Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung die ostdeutschen Bundesländer. Heute steht die Wirtschaft dort vor anderen Problemen,
in:
TAZ v. 12.08.

Marco ZSCHIECK hängt sich an eine Spiegel-Story ran, zitiert aber ausgiebig den neoliberalen IWH-Forscher Oliver HOLTEMÖLLER. Im Mittelpunkt stehen zum einen die Brandenburger Kreisgebiete im Berliner Umland:

"Dort sind es (...) auch Industrie, die sich vor allem südlich von Berlin angesiedelt hat. Rolls Royce baut Turbinen in Dahlewitz, Daimler LKWs in Ludwigsfelde, dazu kommen Logistiker an den Autobahnen und Bahnstrecken. Der Flughafenkreis Dahme-Spreewald gehört laut einer Bertelsmann-Studie zu den fünf Kreisen mit den höchsten Steuereinnahmen pro Kopf in Deutschland."

Zum anderen Thüringen, das mit Eisenach, Erfurt und Jena der sächsischen Leuchtturmpolitik nacheifern soll.

CROCOLL, Sophie (2019): Endlich angekommen.
Der Politiker abgehalftert, das Thema verstaubt: Als Horst Seehofer (CSU) das Bundesinnenministerium zu einem Heimatministerium erweiterte, war der Spott groß. Nach anderthalb Jahren zeigt sich: Immerhin wird über das wichtige Zukunftsthema geredet. Und sogar ein bisschen was getan,
in:
WirtschaftsWoche Nr.34 v. 16.08.

Da im Osten eine desaströse Niederlage der etablierten Volksparteien droht, entdeckt die wirtschaftsliberale Presse die Vorzüge des Heimatministeriums. Da ist von einem "Paradigmenwechsel" die Rede, wo nur Getriebenheit und Aktionismus herrscht. Das Heimatministerium ist in erster Linie ein Rhetorikministerium, das für gute Laune sorgen soll, wo Problembewältigung vonnöten wäre.

Das einzige Vorzeigeprojekt: Die Ansiedlung von Behörden im strukturschwachen Raum. Dafür gibt es mittlerweile viele Absichtserklärungen, aber keine Taten:

"Seehofer selbst hat bereits angekündigt, eine Außenstelle des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik bei Freital anzusiedeln, die neue Agentur für Innovation in der Cybersicherheit soll in den Raum Leipzig/Halle."

Freital und Leipzig liegen in Sachsen, dem Epizentrum des AfD-Bebens, aber nicht in den gefährdeten Regionen. Mehr als die übliche neoliberale Leuchtturmpolitik ist das nicht! Anschaulicher lässt sich die unangemessene Getriebenheit aber nicht sichtbar machen. Garniert wird der Bericht mit zwei Grafiken aus dem Deutschlandatlas - einer Ansammlung von Karten, denn die Bundesregierung war zu feige, den Abschlussbericht der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse zeitig vor den Landtagswahlen im Osten zu veröffentlichen, stattdessen wurden Absichtserklärungen produziert, die gute Laune machen sollen.  

FRANKE, Fabian (2019): Frau Hartmann kommt halb acht.
Reportage: Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin. Täglich fährt sie von Haus zu Haus, quer durch die ländliche Region Südniedersachsens. Sie bleibt, wo andere gehen: in der Region, im Pflegeberuf,
in:
TAZ v. 17.08.

"Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin (...). in der Kleinstadt Herzberg am Harz, Südniedersachsen. Viele ziehen nach der Schule von hier weg, zurück bleiben die Alten. Zwischen 2012 und 2030 könnte die Bevölkerung der Stadt um knapp 20 Prozent sinken, prognostiziert das Demografieportal Wegweiser Kommune. Über ganz Deutschland verteilen sich Gemeinden mit ähnlichem Schicksal",

erzählt uns Fabian FRANKE, der unreflektiert auf die Zahlen der neoliberalen BertelsmannStiftung zurückgreift. Inwieweit Herzberg am Harz im niedersächsischen Landkreis Göttingen für deutsche Kommunen typisch ist, wird nicht belegt, sondern nur behauptet. Für Deutschland ist keineswegs eine starke Schrumpfung der Gemeinden bis 2030 typisch, sondern eine Vielfalt an Entwicklungspotenzialen.

Das Bild, das FRANKE von Deutschland zeichnet, passt jedoch zur politischen Zielsetzung des Artikels:

"Kürzlich reiste Gesundheitsminister Jens Spahn nach Kosovo, von hier sollen künftig Pflegekräfte angeworben werden. (...).
25 Jahre nach ihrer Einführung holt der demografische Wandel die Pflegeversicherung ein",

behauptet FRANKE. Die Pflegeversicherung wurde jedoch aus ganz anderen Grünen eingeführt: zum einen sollte sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt benötigt wurden, sichern, und zum anderen sollte sie der Pflege- und Baubranche einen lukrativen Markt sichern. Im Mittelpunkt stand bei der Einführung die steigende Lebenserwartung der Bevölkerung und die Annahme einer rapiden Zunahme von Pflegefällen, die außerhalb der Familie gepflegt werden müssen. Von Anfang an war die Pflegeversicherung jedoch für die gesellschaftlichen Entwicklungen nicht ausreichend ausgestattet. Vom Einholen durch den demografischen Wandel kann deswegen keine Rede sein.

FREIBERGER, Harald & Meike SCHREIBER (2019): Wo ist denn hier die Bank?.
Bayerns kleinstes Geldhaus gibt auf - ein Sinnbild für die tiefe Krise, in der Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken stecken. Die Institute schieben es auf die niedrigen Zinsen und die Regulierung. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 17.08.

"Raiffeisenbank Bruck in der Oberpfalz (...). Drei Wochen ist es her, dass Schießl das Ende der kleinsten Bank Bayerns einläutete, die 1903 gegründet wurde. 116 Jahre lang war man in dem 4.400-Einwohner-Ort 30 Kilometer nördlich von Regensburg stolz auf die eigene Bank, die nur aus der Hauptstelle am Marktplatz besteht (...). Doch jetzt wirft sich die Bank in die Arme eines größeren Partners",

erzählen uns FREIBERGER & SCHREIBER. Die Überschrift könnte falsch gedeutet werden, nämlich als Bankensterben im ländlichen Raum. Doch wo die Filialschließungen stattfinden, wird nicht ersichtlich. Die Daten stammen aus der Pressemitteilung Bankstellenentwicklung im Jahr 2018 der Bundesbank vom 4. Juli.

FRANZ, Christian/FRATZSCHER, Marcel/KRITIKOS, Alexander S. (2019): Grüne und AfD als neue Gegenpole der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland,
in:
DIW-Wochenbericht Nr.34 v. 21.08.

FRANZ/FRATZSCHER/KRITIKOS haben die Ergebnisse der Europawahl 2019 anhand von drei Dimensionen analysiert:

"Erstens die ökonomische Situation beziehungsweise Stärke bestimmter Regionen, gemessen an der unterschiedlichen Partizipation der Menschen an den Einkommenszuwächsen der letzten Jahre, an der Höhe der verfügbaren Einkommen und an den lokalen Arbeitslosenquoten. Die zweite Dimension ist die strukturelle Verwundbarkeit der Wirtschaft: Die Automatisierung vieler Prozesse (zum Beispiel durch die voranschreitende Digitalisierung) schafft Gewinner, für die sich neue berufliche Chancen ergeben. Gleichzeitig gibt es auch viele potentielle Verlierer, etwa Arbeiterinnen und Arbeiter, die fürchten, ihren Job zu verlieren (oder ihn schon verloren haben). Drittens werden demografische Entwicklungen analysiert: Manche Regionen in Deutschland sind von starker, auch innerdeutscher Zuwanderung geprägt, andere sehen sich mit Abwanderung konfrontiert." (2019, S.593)

Das Problem bei solchen Analysen besteht darin, dass die Indikatoren keineswegs die Lage zum Zeitpunkt der Wahlentscheidungen angeben, sondern entsprechend der Verfügbarkeit der Daten ausgewählt werden. Zum anderen kommt hinzu, dass die Auswahl der Indikatoren nicht begründet wird. Die demografische Situation z.B. wird durch Abiturquote im Jahr 2017, den durchschnittlichen Wanderungssaldo 2000-2017 und den Anteil der Menschen im Alter von 60 Jahren und älter Ende 2017 operationalisiert (vgl. Tabelle 1, S.594).

Der durchschnittliche Wanderungssaldo z.B. kann Umkehrungen im Wanderungsverhalten nicht angemessen darstellen, sondern ebnet die Unterschiede ein. Im Gegensatz zu dieser statistischen Nivellierung werden uns im Text nur die üblichen Extremwerte aufgezeigt:

"Die Salden der Gesamtwanderung (also die Differenz aus Zuzügen und Fortzügen je 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner) in den Jahren 2000 bis 2017 ergeben ein zur Altersstruktur passendes Bild (...). In der kreisfreien Stadt Suhl sind zum Beispiel durchschnittlich zehn Menschen je 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner mehr fort- als hinzugezogen. Bei der in Deutschland niedrigen Fertilitätsrate führt dies zu einem dramatischen Bevölkerungsschwund. In Suhl lebten Ende 2017 knapp 13.000 weniger Menschen als Ende des Jahres 2000." (S.596)

Wenn aber der Wanderungssaldo gleichsam ein Indikator für den Anteil Älterer/Jüngerer darstellt, dann stellt sich die Frage danach, warum zwei Indikatoren, die offensichtlich das gleiche Phänomen beleuchten, verwendet werden und nicht ein Indikator, der die gesamte Bandbreite der demografischen Lage abbildet. Man hätte die regionalen Lebensverhältnisse z.B. besser anhand von Infrastrukturen und deren Fehlen messen können. 

Dass die Variablen nicht unbedingt stichhaltig ausgewählt wurden, zeigt u.a. dass der Erklärungswert der Parteipräferenzen z.B. bei den Grünen nur bei 75 % liegt und die Wahlergebnisse unter- bzw. überschätzt werden:

"Für bestimmte Kreise kann das Modell die Wahlergebnisse weniger gut erklären. Bei der AfD trifft das auf alle sächsischen Kreise – mit Ausnahme der Stadt Leipzig – zu: Dort unterschätzt das Modell das tatsächliche AfD-Ergebnis (...). In Mecklenburg-Vorpommern dagegen überschätzt das Modell die tatsächlichen Stimmanteile der AfD. Unter der Annahme, dass die gewählten Variablen und das Modell in der Lage sind, die ökonomische, strukturelle und demografische Situation eines Kreises richtig zu erfassen, bedeuten diese Über- und Unterschätzungen, dass die Wahlentscheidung in diesen Kreisen zu einem entsprechenden Teil von anderen Faktoren, etwa der regionalen Bekanntheit und Popularität bestimmter Kandidatinnen und Kandidaten, bestimmt wurde. Bei den Grünen unterschätzt das Modell die Stimmanteile in vielen Kreisen in Schleswig-Holstein (...), in Flensburg etwa fielen die Ergebnisse um über zehn Prozentpunkte höher aus als die Schätzung ergab. Im Saarland und in Rheinland-Pfalz dagegen fuhr die Partei niedrigere Ergebnisse ein, als die Schätzung es erwarten ließ. In den drei bayerischen Kreisen Straubing, Straubing-Bogen und Eichstätt wurden die Ergebnisse der Grünen am meisten überschätzt: Die gute wirtschaftliche Situation und eine attraktive demografische Entwicklung hätten einen um acht bis neun Prozentpunkte höheren Stimmanteil für die Grünen erwarten lassen." (S.599)

Die Erklärung, dass die Beliebtheit eines Politikers das Ergebnis verfälscht, ist wenig stichhaltig, da nicht die Erstimmenanteile der Direktkandidaten, sondern nur die Zweitstimmenanteile analysiert wurden. Das Beispiel Sachsen deutet darauf hin, dass der Infrastrukturaspekt nicht ausreichend beachtet wurde, denn als neoliberaler Musterknabe war dort der Personal- und Infrastrukturabbau besonders krass.

Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.)(2019): Teilhabeatlas Deutschland. Ungleichwertige Lebensverhältnisse und wie die Menschen sie wahrnehmen

Im Vorfeld der Landtagswahlen im Osten veröffentlicht das neoliberale Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung eine Publikation, die zum einen beansprucht die Teilhabechancen aller 401 Regionen objektiv in einem Ranking zu erfassen und zum anderen die Frage zu beantworten wie die Menschen diese Lage bewerten. Die subjektive Wahrnehmung wird jedoch nicht repräsentativ erhoben, sondern nach Gutsherrenart dargelegt.

Die Clusteranalyse fußt zum einen auf einer Trennung in Land und Stadt und zum anderen werden jeweils 3 Teilhabeklassen unterschieden. Teilhabe wird anhand dreier Faktoren mittels Indikatoren erfasst: wirtschaftliche Teilhabe (SGB-II-Quote 2017, Jährliches verfügbares Haushaltseinkommen je Einwohner 2016, Kommunale Steuereinnahmen 2017), soziale Teilhabe (Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss 2017, Lebenserwartung 2013-2015, Wanderungssaldo 18-29-Jährige 2013-2017) und Versorgung (Versorgungsindex 2014-2016, Breitbandversorgung 2017). Zum Versorgungsindex heißt es:

"Der Versorgungsindex gibt die Anzahl ausgewählter Versorgungseinrichtungen an, die im jeweiligen Kreis im Schnitt weniger als 1.000 Meter entfernt vom Wohnort liegen: Apotheken (2015), Hausärzte (2015), Supermärkte/Discounter (2015), Grundschulen (2014-2016), Oberschulen (2014-2016) und Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs mit mindestens zehn Abfahrten am Tag (2016)." (S.80)

Bereits die Erfassung der objektiven Lage ist problematisch, da die Daten selektiv und nicht aktuell sind, sondern vergangene Lagen unvollständig widerspiegeln. Wenn subjektive Wahrnehmung und objektive Lage also auseinanderklaffen, dann muss immer berücksichtigt werden, dass sich die objektive Lage verändert haben kann bzw. die Indikatoren nicht das ganze Spektrum repräsentiert. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass die subjektive Wahrnehmung falsch ist.

Tabelle: Übersicht der 6 Kategorien inklusive Anzahl der betroffenen Regionen
Teilhabe-
klasse
Stadt

Land

Typ Anzahl Typ Anzahl
1 Reiche Großstädte und ihre Speckgürtel 19 Erfolgreiche ländliche Regionen 89
2 Attraktive Großstädte 51 Ländliche Regionen mit vereinzelten Problemen 133
3 Großstädte mit Problemlagen 51 "Abgehängte" Regionen 58
Quelle: Teilhabeatlas Deutschland, S.12, S.14f.

Wie aussagekräftig aber sind diese Zahlen für die betroffene Bevölkerung? Da die Teilhabechancen an politischen Territorien und nicht an der Anzahl der Betroffenen festgemacht wird, ergeben sich Verzerrungen, die sich anhand der folgenden Tabelle ersehen lassen:  

Tabelle: Die Verteilung der Regionen nach Bundesländern und nach Bevölkerungsgröße
Bundesland Kreisfreie
Städte
Landkreise Gesamt Großstädte m.
Problemlagen
Abgehängte
Regionen
Bevölkerung
31.12.2018
Betroffene
pro Kreis
Alte Bundesländer Baden-Württemberg 9 35 44 0 0 11.069.533 251.580
Bayern 25 71 96 1 0 13.076.721 136.216
Berlin 1 0 1 1 0 3.644.826 3.644.826
Bremen 2 0 2 2 0 682.986 341.493
Hamburg 1 0 1 0 0 1.841.179 1.841.179
Hessen 5 21 26 1 0 6.265.809 240.993
Niedersachsen 8 37 45 4 3 7.982.448 177.388
Nordrhein-Westfalen 22 31 53 16 0 17.932.651 338.352
Rheinland-Pfalz 12 24 36 5 3 4.084.844 113.468
Saarland 0 6 6 2 1 990.509 165.085
Schleswig-Holstein 4 11 15 4 2 2.896.712 193.114
Neue Bundesländer Brandenburg 4 14 18 3 7 2.511.917 139.551
Mecklenburg-Vorpommern 2 6 8 2 6 1.609.675 201.209
Sachsen 3 10 13 2 8 4.077.937 313.687
Sachsen-Anhalt 3 11 14 3 11 2.208.321 157.737
Thüringen 6 17 23 5 17 2.143.145 93.180
Deutschland (Gesamt) 107 294 401 51 58 83.019.213 207.030

Die Spannbreite der betroffenen Bevölkerung reicht von Berlin mit mehr als 3,6 Millionen Menschen bis zu Thüringen mit durchschnittlich 93.180 betroffenen Menschen pro Region. Deutschlandweit liegt der Durchschnitt bei 207.030 Betroffenen pro Kreis.

Die Stadt Hof in Bayern gilt dem Berlin-Institut als einzige "Großstadt mit Problemlagen" in Bayern, obwohl die kreisfreie Stadt gerade rund 46.000 Einwohner zählt und damit keine Groß- sondern eine Mittelstadt ist. Die Typologisierung der Regionen des Berlin-Instituts ist problematisch, weil kreisfreie Städte keineswegs immer Großstädte sind. Dagegen wird der Landkreis Neunkirchen, der weder in die Kategorie der kreisfreien Städte noch zu den Großstädten gehört, ebenfalls zur Kategorie "Großstadt mit Problemlagen" gezählt. An diesen Beispielen zeigt sich bereits, dass die Kategorienbildung einer gewissen Willkür unterliegt. 

WINTER, Steffen (2019): Der Ost-Komplex.
Landtagswahlen: Nirgendwo sonst im Land ist die AfD so stark wie im Osten, nirgendwo sonst fühlen sich die Menschen so benachteiligt und abgehängt - dabei geht es den meisten besser denn je. Ein Blick in die ostdeutsche Seele,
in: Spiegel
Nr.35 v. 24.08.

Steffen WINTER, Jahrgang 1969 Ost, will uns erklären, wie die Ossis ticken, sozusagen "Rückkehr nach Reims" auf ostdeutsch, nur dass hier Anschlussfähigkeit an westdeutsche Narrative gefragt sind. Die Seelenerkundung fängt an mit dem sächsischen Heidenau:

"Drei Tage lang protestierten im August 2015 Tausende Demonstranten gegen die Entscheidung der sächsischen Landesregierung, aus dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt eine Notunterkunft für 600 Flüchtlinge zu machen. (...).
Der Heidenauer Baumarkt diente nicht mal ein Jahr lang als Asylunterkunft. (...). 2015 wurden 70.000 Asylsuchende in Sachsen registriert, vergangenes Jahr waren es lediglich noch 8.800.
Die Geschichte könnte hier zu Ende sein. Aber sie ist nicht vorbei.
Bei der Kommunalwahl im Mai verlor die Heidenauer CDU 20 Prozentpunkte, die fremdenfeindliche AfD wurde mit 29,5 Prozent stärkste Kraft. Die Partei hatte nicht einmal genug Kandidaten aufgestellt, um die sieben Sitze im Stadtrat besetzen zu können. Zwei blieben frei.
In Heidenau zeigt sich, dass die Geschehnisse von 2015 nachwirken. Die AfD lebt noch immer von der Flüchtlingsdebatte, in drei Bundesländern könnte sie bald stärkste Kraft werden,

droht WINTER, der jedoch keine Zahlen für die anstehenden Landtagswahlen präsentiert, sondern eine Umfrage im Bund. Man könnte das Demagogie nennen. Es werden ausschließlich Szenarien durchgespielt, die auf instabile Regierungen hinauslaufen.

Um die ostdeutsche Seele zu erkunden wird uns ausgerechnet das Buch Der Gefühlsstau von Hans-Joachim MAAZ empfohlen, bekanntlich ein Buch, das der Spiegel zum Bestseller machte:

"In Kenntnis der massen- wie individualpsychologischen Störungen der ehemaligen DDR-Bürger sorgt sich Maaz auch um das Zusammenwachsen von Ossis und Wessis: »Haben wir uns gerne dumm, hilflos und versorgungsbedürftig gezeigt«, gibt er zu denken, »so müssen wir uns jetzt . . . tüchtig, dynamisch, selbstbewußt und konkurrenzfähig zeigen»: »Zur Unfreiheit genötigt, sollen wir jetzt Freiheit ausfüllen und genießen.«"

heißt es in der Rezension Fehlgeleitet, kleingemacht (31.12.1990). Im heutigen Spiegel-Artikel liest sich das Buch dagegen wie eine Pathologie des DDR-Bürgers. Von den damaligen Spiegel-Journalisten wird es jedoch auch als Individualisierungskritik gelesen. Wir Westdeutschen bilden uns ein, dass wir die überlegenen Deutschen sind - insbesondere wenn wir Angehörige des kosmopolitischen Milieus sind. Tatsächlich ist der westdeutsche Normalo genauso entfremdet wie der Ostdeutsche, der nicht im Westen auf Überanpassung getrimmt wurde. Die Normalo-Ostdeutschen sind letztlich Pioniere des Wertewandels, der längst im Westen angekommen ist. Die neoliberale Freiheit mit ihren Verheißungen ist für Normalos hüben wie drüben längst zum Albtraum geworden. Im kosmopolitischen Milieu wird man das bald noch stärker zu spüren bekommen.

"Wer sich der ostdeutschen Seele vorurteilsfrei nähern will, sollte ins sächsische Görlitz reisen. Dort, keine 200 Meter von der polnischen Grenze entfert, liegt die Fakultät der Hochschule Zittau/Görlitz. Im zweiten Stock eines ozeanblauen Gebäudes sitzt Raj Kollmorgen, Professor für Management des sozialen Wandels. Der 55-Jährige, geboren in Leipzig, kann wie kaum ein Zweiter beschreiben, wie sich das Leben in Ostdeutschland gewandelt hat - und was das in den Menschen auslöste",

meint WINTER, der uns die bekannte ostdeutsche Transformationsgeschichte auftischt, die dann in der Hartz-Gesellschaft auf die Spitze getrieben wurde:

"Schröder erfand Hartz IV, gerade in dem Moment, als Ostdeutschland die höchste je gemessene Zahl an Arbeitslosen hatte: 1,6 Millionen. Die Bürger gingen montags wieder auf die Straße (...). Es half nichts.
Die Reform betraf den Osten überdurchschnittlich. Menschen, die arbeiten wollten, aber keinen Job fanden, fürchteten um ihr bescheidenes Vermögen und das kleine Häuschen."

SCHRÖDER erfand die Hartz-Reform nicht, sondern er kupferte "Cool Britannia" ab. Dort war die neue Klassengesellschaft dank New Labour und Anthony GIDDENS bereits in Angriff genommen worden. Die Generation Berlin und die Generation Golf träumte von großbürgerlichen Lebensverhältnissen in der neuen Dienstbotengesellschaft. Das kosmopolitische Akademikermilieu der oberen Mittelschicht hält sich ihre migrantische, vorwiegend weibliche "Unterschicht" - am besten mit Hochschulabschluss - als "Dienstboten".

"Das ist die eine Wahrheit. Eine andere ist deutlich optimistischer",

erklärt uns WINTER, der uns mit der Wahrheit von Prognos, INSM und Umfragen zur Durchleuchtung der Unzufriedenen die neoliberale Wahrheit präsentiert. Eine neuerdings sehr beliebte Sozialfigur ist der "besorgte Bürger", den hat WINTER in Dresden gefunden. Der "besorgte Bürger" ist der Gegenentwurf zu den "Abgehängten", die es in der neoliberalen Sicht nicht gibt, sondern eine Erfindung von linken Gutmenschen sind.

WINTER zitiert den Dresdner Politologe Hans VORLÄNDER, dessen Studien aus dem Jahr 2015 stammen, als die AfD noch eine ganz andere Partei war. Aber es ging um Pegida. Der Soziologe Heinz BUDE, der Klassensprecher der Generation Berlin, hielt bekanntlich Pegida und die AfD damals für ein kurzatmiges, bald verschwindendes Phänomen. Unter unseren Eliten war er da in guter Gesellschaft.

"Nur 8,1 Prozent der Menschen in den neuen Ländern erreichen ein Einkommen von monatlich 5.000 Euro netto und mehr, bei Migranten sind es 8,9 Prozent, im Westen sind es 13,2 Prozent",

berichtet WINTER. Ein anderes Maß wäre der Anteil derjenigen, die in Ost und West ein Einkommen jenseits der Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung haben. Die Beitragsbemessungsgrenze ist in Ost und West - aufgrund des Einkommensniveaus - unterschiedlich hoch und trennt die obere kosmopolitische Akademikerschicht von denjenigen, die nicht dieser privilegierten Schicht angehören.

"Ginge es nach dem bayerischen Regierungschef Markus Söder sollten die Tagebaue möglichst rasch geschlossen und Ausgleichszahlungen nicht unbedingt vor Ort ausgegeben werden. Das würde den Osten überproportional treffen: Sieben der zehn betroffenen Tagebauen liegen in den neuen Ländern.
Christine Herntier (...), Bürgermeisterin von Spremberg in der Niederlausitz, kann sich darüber in Rage reden. Die Lokalpolitikerin ist Sprecherin der Brandenburger Kommunen der »Lausitzrunde«, durch sie wollen kommunale Vertreter der Lausitz zusammen ihre Interessen durchsetzen. (...).
An der Kohle hängen mehr als 13.000 Arbeitsplätze in der Lausitz. (...). 17 Milliarden sollen über einen Zeitraum von 20 Jahren in die Lausitz fließen (...). Noch kurz vor der Europawahl hatte man die gewaltige Summe bekannt gegeben, das hielt viele Wähler nicht davon ab, ihre Stimme der AfD zu geben. 33 Prozent votierten in Spremberg für die Partei",

berichtet WINTER. Die Menschen, die die AfD gewählt haben, können sich bestätigt fühlen, denn hätten sie sich kaufen lassen, und dann wäre vor den Landtagswahlen nicht noch schnell ein Gesetzentwurf vorgelegt worden. Die AfD ist momentan der einzige Garant, dass die etablierten Parteien etwas tun - das ist das wahrhaft Erschreckende daran!

"Fast die Hälfte der Befragten war sich sicher, die Migranten kämen nur, um den Sozialstaat auszunutzen",

fasst WINTER das Ergebnis einer Thüringer Befragung zusammen. 15 Jahre vorher hatten Neoliberale die Unterschicht entdeckt, die es sich in der sozialen Hängematte bequem machten. Was die ostdeutschen Befragten wiedergeben, ist das was sie unter SCHRÖDERs Hartz-Reformen eingeübt haben. Jetzt da der Hass die Migranten trifft und nicht nur der Rechtfertigung von Hartz-Reformen dienen soll, ist die Empörung groß. Der Zauberlehrling hat die Kontrolle über die Hack-Hierarchie verloren.

"Leipzig ist der Senkrechtstarter unter den Städten in den neuen Ländern. Einst grau und am Tagebaurand gelegen, die Gründerzeitfassaden verfallen, wuchs sie seit 2010 um gut 15 Prozent. In Leipzig leben jetzt fast 600.000 Menschen, mehr als in Essen. Hier produzieren BMW und Porsche, hier ist die Innenstadt ein Schmuckkästchen, das die Touristen aus aller Welt anlockt.
Die Eisenbahnstraße liegt auch in Leipzig, sie befindet sich in einem der wenigen migrantisch geprägten Viertel in Ostdeutschland. Die 1,5 Kilometer lange Meile ähnelt der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Auch hier gibt es Restaurants für Falafel und Döner, Shishabars, Spielotheken, Dealer, Frauen mit Kopftüchern. 2017 registrierte die Polizei im Viertel 2.311 Straftaten. Drogenhändler wickeln ihre Geschäfte ab, Passanten werden beraubt. Seit November ist um die Straße eine Waffenverbotszone errichtet worden",

beschreibt WINTER ein Leipziger Viertel, das gentrifiziert werden soll und deshalb dem üblichen medialen Drehbuch folgt. Das aber ist nicht das Thema von WINTER, der in dem Viertel den "Gegenentwurf des besorgten Bürgers" entdeckt hat: einen Ladenbesitzer, der grün wählen will, denn:

"Es gibt weltoffene, tolerante, großstädtische Milieus, die auch in den wenigen anderen Großstädten im Osten existieren. Und es gibt die, die mit den Umbrüchen ihren Frieden gemacht haben. Die sehen, was besser geworden ist und was nicht, und für sich das Beste daraus ziehen."

So stellt sich unsere kosmopolitisches Elite ihre Bürger vor, die sie in Ruhe - und ohne Störung - regieren kann. Verhältnisse wie in autokratischen Staaten, nur noch besser, d.h. selbstoptimiert.

"Es ist die Aufgabe der Politik und Zivilgesellschaft, darauf Antworten zu finden. Vor allem aber müssen die Menschen das Vertrauen zurückgewinnen, dass sich die Politik auch um ihre Interessen kümmert.",

steht dagegen am Anfang des Abschnitts. Das ist aber das Gegenteil dessen, was das Narrativ ist, das dann folgt!

Waren das alles Beispiele aus Sachsen und Brandenburg, so wird uns am Ende Bitterfeld-Wolfen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld vorgestellt.

Im Schlussabschnitt zitiert WINTER dann nochmals den Soziologen KOLLMORGEN, der die AfD als notwendig erachtet, um den etablierten Parteien Druck zu machen:

"Demokratie müsse wehtun, sonst funktioniere sie nur für die herrschenden Eliten."

Fazit: Der Artikel ist eine rhetorische Anbiederung an die vom Spiegel Enttäuschten, denn schließlich ist das Nachrichtenmagazin in der Krise. Es repräsentierte die geschlossene westdeutsche Gesellschaft der oberen Mittelschicht. Eine wirkliche Wende ist jedoch nicht sichtbar!

NIEJAHR, Elisabeth (2019): Perlen des Ostens.
Aus Angst vor der AfD zieht die Politik die verfehlte Subventionspolitik für Ostdeutschland weiter durch. Doch es fehlt nicht an Geld - eher an Machern,
in: WirtschaftsWoche
Nr.36 v. 30.08.

Elisabeth NIEJAHR, die kurz vor der Jahrtausendwende noch für die chilenische Militärdiktatur schwärmte, erwärmt sich nun für die brutalstmögliche Ökonomisierung des Sozialen. NIEJAHR pöbelt gegen weitere "Sozialstransfers" in den Osten, wozu Investitionen in die von dem Kohleausstieg betroffenen Regionen im Osten gezählt werden. Es werden die üblichen FDP-nahen Experten zitiert. Motto: Geld in ländliche Räume zu investieren ist Verschwendung. Stattdessen: weitere Leuchttürme in den Zentren, die am Sankt Nimmerleinstag auch in die letzte Ecke ausstrahlen sollen.

NIEJAHR erklärt uns, dass sich Populisten nicht durch Sozialpolitik bekämpfen lassen. Beispielhaft soll dafür das sächsische Glashütte stehen. Dies ist aber eine falsche Fragestellung. Wer bereits AfD wählt, kann nicht so leicht zurückgeholt werden. Umgekehrt ist es richtig: Es geht in erster Linie um diejenigen, die noch zögern die AfD zu wählen und um das Problem, dass das Vertrauen in die etablierten Parteien und ihre Versprechungen in Sachen Sozialpolitik geschwunden ist. 

HANDELSBLATT-Wochendthema: Ist der Osten noch zu retten?
Fachkräftemangel. Überalterung. Strukturschwäche

DEMLING, Alexander/GREIVE, Martin/OLK, Julian (2019): Ist der Osten noch zu retten?
Die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden zum Referendum über die Zukunft Ostdeutschlands - die Region droht wirtschaftlich zurückzufallen. Es fehlt vor allem an qualifizierten Arbeitskräften,
in: Handelsblatt
v. 30.08.

DEMLING/GREIVE/OLK spielen die Demografie-Karte aus, um die Ostdeutschen davon abzuhalten die AfD zu wählen. Die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme ist inzwischen offenbar unhinterfragbar geworden, weshalb die Negativszenarien gar nicht erst belegt werden. Stattdessen Drohungen:

"Wenn am Sonntag im Osten gewählt wird, müssen sich die 5,4 Millionen Wahlberechtigten entscheiden: zwischen einer Politik, die sich den Herausforderungen der Zukunft stellt, und einer, die in der Vergangenheit leben will."

Während uns also die etablierten Parteien blühende Landschaften im Osten versprechen, die genauso ungewiss sind wie jene, die Helmut KOHL in den 1990er Jahren versprach, sind Alternativen zur AfD jenseits der selbstgerechten Parteien nicht erkennbar.

Das Handelsblatt verspricht uns einen neuen "Masterplan Ost" als Lösung, den uns ausgerechnet Martin GREIVE vorstellt!

ROTHENBERG, Christian & Thomas SIGMUND (2019): Keine Mehrheiten ohne die Grünen.
CDU und SPD drohen am Sonntag erhebliche Verluste. Die Regierungsbildung dürfte kompliziert werden. Und die Große Koalition in Berlin könnte weiter unter Druck geraten,
in: Handelsblatt
v. 30.08.

ROTHENBERG & SIGMUND präsentieren Umfragen von INSA vom 27.08. für Sachsen und Brandenburg, die teilweise weit entfernt von den tatsächlichen Ergebnissen liegen. Für Thüringen rechnen die Autoren mit einem Triumph von Bodo RAMELOW. Mike MOHRING von der CDU fehle eine "echte Machtoption". Der SPD in Sachsen droht sogar das Scheitern an der Fünf-Prozent Hürde:

"(I)n Sachsen ist bei sieben Prozent in den Umfragen selbst ein Reißen der Fünfprozenthürde vorstellbar - zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wäre die einstige Volkspartei in einem deutschen Landtag nicht mehr vertreten."

GREIVE, Martin (2019): Fünf Strategien für den Osten.
Wie lässt sich die wirtschaftliche Lücke zwischen alten und neuen Ländern schließen? Der Handelsblatt-Redakteur stellt die wichtigsten Ideen vor - und unterzieht sie einem Realitätscheck,
in: Handelsblatt
v. 30.08.

Martin GREIVE legt seine neoliberale Messlatte an das Investitionsprogramm, mit dem mehr Wachstum erkauft werden soll. Die Bewertung: Statt Straßen mehr Datennetze. Warum Straßen und nicht mehr Schienennetz? Statt einer Sonderwirtschaftszone ("pauschale Steuervorteile") will GREIVE weniger Bürokratie. Die Bildungsoffensive darf natürlich nicht fehlen: Leuchttürme statt Breitenbildung! Der Rückzug aus der Fläche würde dem Neoliberalen gut gefallen, wenn er politisch umsetzbar wäre. Zuwanderung fördern, um die Löhne niedrig halten und bessere Arbeitsbedingungen umgehen zu können, ist der neoliberale Königsweg.

Fazit: Keiner der Ideen ist neu und ein Masterplan ist dieses Sammelsurium schon gar nicht.   

RICKENS, Christian & Thomas TUMA (2019): "Sammelbecken für Enttäuschte".
Renate Köcher: Die Allensbach-Chefin über den Bevölkerungsschwund in Ostdeutschland und seine Folgen,
in: Handelsblatt
v. 30.08.

WILLISCH, Andreas (2019): Wege aus der Desaster-Rhetorik.
Gegen rechts hilft Sachlichkeit, so heißt es gern. Aber reden wir eigentlich sachlich über den Osten?
in: TAZ
v. 07.09.

Andreas WILLISCH, Mitherausgeber von Neuland gewinnen - die Zukunft in Ostdeutschland gestalten (2017), kritisiert die vorherrschende Demografisierung gesellschaftlicher Probleme, da mit dem Verweis auf das angebliche zukünftige Schrumpfen Denkverbote verordnet werden:

"Ich war zwei Tage vor den Wahlen in Demmin. Zwei mecklenburg-vorpommerische Staatssekretäre hatten zur Sommertour geladen. Die Leute von T30 - (...) schräg gegenüber dem AfD-Büro - sollten besucht werden. (...). Heraus kamen 15 Vorschläge, wie das Leben in Demmin angenehmer gemacht werden könnte. Doch die Diskussion drohte im Würgegriff der Demografie zu ersticken: Tags zuvor waren die neuesten Prognosen bekannt geworden, wonach Demmin in 20 oder 30 Jahren noch einmal stark schrumpfen würde.
So geht die »sachliche Debatte« seit Jahren: Engagement läuft ins Leere, weil wir in Zukunft weniger werden. (...).
Hinter der demografischen Rhetorik verbirgt sich etwas viel Entscheidenderes: Irgendwie sind die Menschen (...) schuld, dass es dem Ort und der Region schlechtgeht. Für die verantwortliche Politik ist das bequem, enthebt es sie doch scheinbar der Aufgabe, dafür politische Entscheidungen zu treffen und am Ende womöglich für eine Region, in der sich die Leute so sehr selbst schädigen, mehr statt weniger Geld auszugeben. (...).
An die Stelle falscher neoliberaler Politik tritt eine ganz und gar unpolitische Sicht auf die Gesellschaft".

Die AfD betrachtet WILLISCH als Projektionsfläche für den ganzen politischen Unmut. Die Linkspartei, als ehemalige Partei, mit der niemand koalieren durfte, rückte dadurch zur staatstragenden Partei auf, denn:

"Die neue Aufgabe ist jetzt, die AfD-Mehrheit zu verhindert."

WILLISCH fordert einen neuen "Solidaritätspakt" für die Engagierten, wer immer das sein mag.

LEHMANN, Anna (2019): Die linke Krise.
Die Linkspartei ist in Brandenburg und Sachsen auf das Ergebnis von 1990 zurückgefallen. Mit dem Ende als Ostpartei steht auch ihre Existenz als bundesweite Kraft auf dem Spiel. Wie soll es weiter gehen?
in: TAZ
v. 07.09.

"In der Parteizentrale in Berlin gilt die Faustformel: Um 7 bis 8 Prozent bei Bundestagswahlen zu erreichen, muss die Linke im Osten etwa 20 Prozent einfahren. Doch nach dieser Formel käme die Partei derzeit nicht einmal über die 5-Prozent-Hürde. Die Wahlen in Sachsen und Brandenburg (...) stürzen die Linke auch als Gesamtpartei in eine existenzielle Krise",

meint Anna LEHMANN, die sich die Linkspartei als Kopie der Grünen zurecht schreibt. Innerparteiliches Feindbild Nr.1 ist Sahra WAGENKNECHT und die Sammlungsbewegung "Aufstehen".

Das Idealbild der Linkspartei ist dagegen Thüringen, wo noch Rot-rot-grün unter dem einzigen linken Ministerpräsidenten regiert. Dieser soll nun den Erfolg der SPD in Brandenburg und der CDU in Sachsen replizieren. Das übersieht, dass in diesen Ländern jeweils ein weiterer Koalitionspartner notwendig geworden ist. Was das für Thüringen bedeuten würde, wird tabuisiert!

EBBINGHAUS, Uwe (2019): So viel Kompost war nie im Roman.
Die Longlist des Deutschen Buchpreises hat ein prägendes Thema: das Dorf. Warum ist es so inspirierend für die neue Literatur? Eine kursorische Lektüre,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.09.

Uwe EBBINGHAUS stellt uns jene  Dorfbücher vor, die unser elitärer Literaturbetrieb vorsortiert hat. Darunter befinden sich auch Der Große Garten von Lola RANDL und Kintsugi von Miku Sophie KÜHMEL, die in dem brandenburgischen Hipster-Dorf Gerswalde spielen.

Fazit: Wer nicht zum urbanen kosmopolitischen Milieu gehören will, und sich deshalb deren Distinktionsgebräuche nicht aneignen muss, der muss sich diese öde Dorfliteratur nicht antun.

BARLÖSIUS, Eva (2019): Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsdiagnose, Frankfurt a/M: Campus Verlag

"Der Buchtitel »Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste« (...) behauptet, dass, um zu verstehen, was Infrastrukturen gesellschaftlich leisten, vorwiegend, wenn nicht sogar einzig die soziale Seite der Infrastrukturen zu betrachten ist. Sie begründet (...) welche sozial- und gesellschaftsstrukturierende Eigenschaften Infrastrukturen inhärent sind, von denen eine besonders hervorzuheben ist: sozial-räumliche Ordnungen(en) zu fördern" (S.199),

schreibt Eva BARLÖSIUS, die Infrastrukturkämpfe um die Durchsetzung der Wissensgesellschaft heraufziehen sieht. Aus dieser Sicht ist das alte wohlfahrtsstaatliche, an die Industriegesellschaft gekoppelte Infrastrukturregime überholt, aber das neue wissensgesellschaftliche Infrastrukturregime noch umkämpft.

BARLÖSIUS wendet sich damit gegen jene vorherrschende Sicht, nach der der "demografische Wandel" den Rückbau von Infrastrukturen erforderlich macht:

"Eine (...) verengende Forschungsperspektive, die vermieden werden sollte, weil sie (...) das infrastrukturelle Regime der wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft als Ausgangs- und Referenzpunkt für die Analyse der gegenwärtigen Transformationen der Infrastrukturen setzt, besteht darin, diese einzig oder vorwiegend als Reaktion auf den demografischen Wandel zu betrachten und darin begründet zu sehen (zum Beispiel Kersten et al. 2012a; 2012b). Eine solche Perspektive repliziert die seit einigen Jahren beobachtbare »Demographisierung des Gesellschaftlichen« (...), die sich auf eine Rechtfertigung des Wandels - meist des Abbaus und der Schließung - von Infrastrukturen stützt, welche sich weitgehend politischer und gesellschaftlicher Argumentationen zu entziehen vermag, indem sie auf die Faktizität des Demografischen verweist. (...)(Für) den Auf- und Ausbau von Infrastrukturen (waren) benötigte und gewünschte Vorleistungen, Konzeptionen infrastruktureller Sozialität, Regelwerke und Professionen sowie Prozesse der Verräumlichung entscheidend, aber nicht demografische Maßgaben." (S.93)

Anhand von vier Fallstudien beschreibt BARLÖSIUS Wandlungsprozesse des Infrastrukturregimes. Dabei wird dem "raumüberwindenden" Infrastrukturregime der Industriegesellschaft die zum einen die staatsferne, von Bürgern getragene "Verdörflichung" und zum anderen das "überräumliche" Infrastrukturregime der Wissensgesellschaft gegenübergestellt. Es geht hier also auch um die kulturelle Spaltung der Mittelschicht, die z.B. bei Cornelia KOPPETSCH und Andreas RECKWITZ als Kulturkampf zwischen globalen Eliten und Konservativen beschrieben wird. Während dort jedoch die symbolischen Kämpfe im Vordergrund stehen, wobei die materielle Dimension der Infrastruktur unterbelichtet bleibt, setzt BALÖSIUS genau dort an, wenngleich hier die sozialen Aspekten - zulasten der Technologie - überbetont werden. Es geht hier also um die soziale Frage - jenseits von klassischen Verteilungskonflikten und symbolischen Kulturkämpfen.  

KAMPMANN, David & Maja BRANKOVIC (2019): Die neuen Bundesländer holen wirtschaftlich auf.
Ostbeauftragter stellt Bericht zur Deutschen Einheit vor. Ökonomen fordern Hilfe für den ländlichen Raum,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.09.

"Die Geißel der neunziger Jahre, die Arbeitslosigkeit, ist heute kein Thema mehr",

zitieren KAMPMANN & BRANKOVIC den Ostbeauftragten. Diese Sicht ist äußerst kurzsichtig, denn die Arbeitslosigkeit der 90er Jahre tritt uns heute als Altersarmut entgegen. Nur wer in Politikkategorien und nicht in Biografiekategorien denkt, kann einen solchen gedankenlosen Satz aussprechen ohne seine Implikationen wahrzunehmen.

Ein Teil der Wirtschaftsprofessorenschaft ist inzwischen von den AfD-Erfolgen aufgeschreckt worden. Obwohl die Probleme des ländlichen Raums nicht neu sind, hatten sie niemanden interessiert. Wenn also nun die Ökonomen reagieren, stärkt das nur die AfD, weil die Wähler sehen, dass sie nur mit der Wahl der AfD etwas bewirken können.

"Wo (...) die wirtschaftliche Perspektive fehle, entstehe Raum für Staatsverdruss, sagte er (Anm.: Gunther Schnabl) in Leipzig.
Als Beispiel nannte Schnabl die Stadt Hoyerswerda, wo die Einwohnerzahl seit 1990 von 65.000 auf rund 33.000 zurückgegangen sei. (...). Ziel müsse (...) sein, die Flucht der jungen Menschen in die Städte einzudämmen und ihnen auch in dünnbesiedelten Regionen eine Zukunft zu ermöglichen. Auch der Düsseldorfer Wirtschaftsprofessor Jens Südekum warnte davor, die ländlichen Regionen zu vernachlässigen. »Die Mehrheit der Deutschen hat nur eine äußerst geringe bis gar keine Bereitschaft, in eine andere Stadt zu ziehen«, sagte Südekum der F.A.Z. Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen werde von diesem Personenkreis nicht durch
»exit«, also Wegzug, beantwortet, sondern möglicherweise durch »voice« - also durch radikale Entscheidungen an der Wahlurne."

Bislang war Umzugsmobilität das Allheilmittel unserer neoliberalen Hartzgesellschaft, das wurde auf dieser Website schon im Jahr 2002 kritisiert. Das kümmerte damals jedoch niemanden, denn einzig die Interessen der "Umzugsmobilen" und aufstiegsorientierten Fernpendler wurden im Parteiensystem repräsentiert. Mit der AfD haben die "Immobilen" nun eine Stimme erhalten, auch wenn diese Partei keineswegs ihre Probleme lösen wird.

BRINKMANN, Bastian (2019): Halb zog es sie.
Die jungen Hochqualifizierten ziehen weg, andere bleiben: Wie kann der Staat abgehängten Regionen helfen? Neuerdings diskutieren Deutschlands Ökonomen verstärkt darüber, wie die Politik helfen kann,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 26.09.

Anlässlich der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Leipzig, berichtet Bastian BRINKMANN über eine Umlenkung des Ökonomeninteresses durch Fördertöpfe auf regionalwirtschaftliche Fragen. Erkenntnisse von Alexandra SPITZ-OENER werden zitiert, als ob sie neu wären. Der Mensch ist kein Homo Oeconomicus? Neoliberale Anreizprogramme hat das bislang nicht interessiert. Angeblich bleiben nun die flexiblen Menschen lieber in der Heimat, trotz toller Jobs anderswo. Möglicherweise aber haben sich nur die Fördertöpfe für Wissenschaftler verändert?

"Für junge hoch qualifizierte Leute auf der ganzen Welt sind Ballungsräume attraktiver (...). Andere Menschen stünden vor »Mobilitätsbarrieren«: Sie haben Familie, ein Haus. Diese Menschen seien sehr verhaftet in ihrer Region - und bewerten die Zukunftsfestigkeit ihres eigenen Arbeitsplatzes überoptimistisch",

wird SPITZ-OENER zitiert. Dahinter verbirgt sich lediglich das alte neoliberale Menschenideal. Wer nicht diesem Ideal entspricht, der ist dann "mobilitätsbehindert" und illusionistisch. Wer jedoch so engstirnig denkt, der übersieht die Voice-Option jener Menschen, die sich nicht dem Diktat des "flexiblen Menschen" unterwerfen wollen.

GRAW, Ansgar (2019): Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland binnen zehn Jahren?
Innenminister Seehofer (CSU) kündigt Behördenumzug in den Osten an. FDP-Generalsekretärin Teuteberg will Privatunternehmen mit steuerlicher Entlastung locken,
in:
Welt v. 04.10.

BBSR (2019): Mittelstädte wachsen nicht nur im Süden.
Neue BBSR-Analyse zu Bevölkerungsdynamik und Innenentwicklung,
in:
Pressemitteilung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung v. 15.10.

"Eine neue Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) lenkt den Blick auf die 624 Mittelstädte in Deutschland: Sie zeigt, dass sich die Bevölkerung zwischen 2011 und 2017 in den Städten mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern überwiegend positiv entwickelt hat.
Knapp 30 Prozent der Einwohner Deutschlands leben in Städten mittlerer Größe. Diese bilden damit für viele Menschen den Lebensmittelpunkt. Beliebt sind vor allem große Mittelstädte: Sie wuchsen gemessen an ihrer Bevölkerung zwischen 2011 und 2017 durchschnittlich um 3,2 Prozent. Spitzenwerte liefern Gießen (+14,8 Prozent), Böblingen (+10,8 Prozent) und Landshut (+10,8 Prozent). Besonders häufig vertreten sind unter den Top 20 südlich gelegene große Mittelstädte. Viele kleine Mittelstädte zeigen aber ebenfalls eine positive Dynamik – im Schnitt lag das Wachstum hier bei 2,6 Prozent. Sie können Metropolen mit überhitzten Wohnungsmärkten entlasten.
Speziell Mittelstädte mit größeren Hochschulen wirken besonders für junge Menschen anziehend. So gibt es neun westdeutsche Hochschulstädte unter den Top 20 der Mittelstädte, die zwischen 2011 und 2017 den stärksten Zuwachs junger Menschen zu verzeichnen hatten. In Kleve und Gießen erhöhte sich der Anteil der 18- bis 30-Jährigen zwischen 2011 und 2017 am deutlichsten, um jeweils mehr als 3 Prozent. Außerdem sind Mittelstädte – besonders im Umland der größten deutschen Städte – für Ruhestandswanderer attraktiv, also für den relativ kleinen Anteil der über 50-Jährigen, die noch einmal umziehen. Kommunen können und müssen das Bevölkerungswachstum steuern.
Wie sie unter unterschiedlichen Bedingungen dabei Innenentwicklung betreiben, veranschaulichen die Fallbeispiele Celle und Konstanz. Die BBSR-Analyse zeigt, wie Mittelstädte dabei vorgehen und auf eine qualitätvolle, kompakte und ressourcenschonende Siedlungsentwicklung hinwirken können. Gleichzeitig müssen sie sich mit den Herausforderungen der Innenentwicklung wie hohen Bodenpreisen auseinandersetzen und unterschiedliche Ansprüche von Wohnen, Gewerbe, Stadtgrün und Infrastruktur miteinander vereinbaren",

meldet das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung anlässlich der Veröffentlichung der Studie Bevölkerungsdynamik und Innenentwicklung in Mittelstädten.

TÖNNESMANN, Jens (2019): Da geht was.
Eine neue Studie zeigt: Familienunternehmer haben die Wendezeit erstaunlich gut überstanden - und treiben nun die Wirtschaft Ostdeutschlands an,
in:
Die ZEIT Nr.43. 17.10.

Jens TÖNNESMANN preist anlässlich einer Auftragsstudie den Erfolg mittelständischer Unternehmen in Ostdeutschland. Exemplarisch werden drei Unternehmen präsentiert: Die Bauerfeind AG in Thüringen, das Pharmaunternehmen Apogepha in Dresden-Striesen (Sachsen) und Miltitz Aromatics im Chemiepark von Bitterfeld (Sachsen-Anhalt).

ARNU, Titus (2019): Schlamm drüber.
Rheinland-Pfalz: Lange waren die alten Kurorte in der Krise, nun leben sie wieder auf - als Refugien für ausgelaugte Performer,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 26.10.

SCHWILDEN, Frédéric (2019): "Man hat die Gesellschaft auf dem Land vergessen".
Die meisten Deutschen leben in Kleinstädten und Dörfern. In Berlin und anderen Metropolen fordern Grüne Fahrverbote und Enteignungen. Ein Realitätscheck der grünen Wirklichkeit außerhalb der Großstadt-Blase,
in:
Welt v. 26.10.

DESTATIS (2019): 30 Jahre Deutsche Einheit: Familien in Ost- und Westdeutschland werden sich immer ähnlicher,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 07.11.

"Aufgrund der Unterschiede im Altersaufbau der Bevölkerung leben in den ostdeutschen Bundesländern gegenwärtig weniger potenzielle Eltern. Obwohl die jährlichen Geburtenraten der ostdeutschen Frauen seit 2008 höher sind als diejenigen der westdeutschen Frauen, wurden 2018 im Osten Deutschlands nur 8 Kinder je 1000 Einwohnerinnen und Einwohner geboren. Im Westen waren es 10 Kinder",

berichtet das Statistische Bundesamt unter der irreführenden Überschrift Höhere Geburtenraten, aber weniger potenzielle Eltern im Osten. Statt der Anzahl potenzieller Eltern wird uns lediglich die rohe Geburtenziffer genannt, die ein Indikator für eine unterschiedliche Altersstruktur ist. Zudem handelt es sich um eine Momentaufnahme, aber nicht um eine Entwicklungsrichtung, die für die Zukunft ausschlaggebend ist.

Während in den vergangenen Jahren die rohe Geburtenziffer in der Regel nur im internationalen Vergleich bzw. in einigen ostdeutschen Bundesländern herausgestrichen wurde, wird seit einiger Zeit dieser Indikator auch zum innerdeutschen Vergleich herangezogen. Es ist der Versuch das Thema Alterung der Bevölkerung über die Hintertür in den Debattenvordergrund zu rücken.

Nachdem der Bevölkerungsrückgang, der in den Nuller Jahren als Hysteriegenerator gedient hat, seit fast 10 Jahren floppt, soll die Alterung nun den Hysteriefaktor beim demografischen Wandel liefern. Aber auch das ist nur eine Halbwahrheit, denn die Alterung in Ostdeutschland ist die Folge des Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft nach der Wende und die Vernichtung von Frauenarbeitsplätzen durch die Treuhand-Privatisierung in den 1990er Jahren. Die folgende Abwanderung junger Frauen in den Westen tritt uns nun als "demografisches" Problem entgegen, obwohl es ein Kollateralschaden des Politikversagens ist. Auf dieser Website wird deshalb von einer Demografisierung gesellschaftlicher Probleme gesprochen. Es geht hier um Problemverschiebungen und den Versuch die Aufarbeitung geschichtlicher Fehlentwicklungen zu verhindern.

Fazit: Mit der Demografisierung gesellschaftlicher Probleme werden Ursachen wegdefiniert. Wer vom Fehlen potenzieller Mütter schwadroniert, der sucht die Ursache im falschen Geburtenverhalten, statt in strukturellen Problemen in der Folge der Wiedervereinigung.

FRÖNDHOFF, Bert/KNITTERSCHEIDT, Kevin/WITSCH, Kathrin (2019): Auferstanden aus Ruinen.
Mit der Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt, dem Chemiepark in Leuna und dem Braunkohlerevier in der Lausitz haben drei wichtige Industriezentren Ostdeutschlands den Untergang der DDR überlebt. Nun stehen sie vor dem nächsten Umbruch,
in:
Handelsblatt v. 07.11.

"Bis 1994 hat die Treuhand rund 3.500 DDR-Betriebe abgewickelt. Der Rest wurde privatisiert: 85 Prozent des Produktivvermögens gingen in westdeutsche Hände.
Eine De-Industrialisierung der ehemaligen DDR hat es aus Sicht von Historikern und Ökonomen aber nicht gegeben. In vielen Kernregionen Ostdeutschlands haben sich aus den Ruinen bis heute wieder neue und erfolgreiche industrielle Zentren entwickelt. So etwa im Stahl, in der Chemie und im Braunkohleabbau",

 verkünden uns FRÖNDHOFF/KNITTERSCHEIDT/WITSCH zum Jubiläum des Mauerfalls eine schöngefärbte West-Meinung. Als Historiker wird uns ein Angestellter eines Stahlwerks in Eisenhüttenstadt präsentiert, der für die positive Unternehmensdarstellung zuständig ist. Die Erfolge lesen sich dagegen folgendermaßen:

"Von den 20.000 Mitarbeitern, die das EKO zu seinen Hochzeiten ernährte, sind heute nur noch rund 2.300 übrig geblieben. Auch die Stadt drumherum ist geschrumpft. Seit den Achtzigerjahren hat sich die Bevölkerung auf 25.000 Menschen halbiert."

Das wird von dem Unternehmenshistoriker dann als geglückte Privatisierung bezeichnet. Die Betroffenen dürften das jedoch anders sehen. Auch Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt wird uns als tolle Erfolgsgeschichte präsentiert:

"Die Stadt galt als dreckigster Ort in Europa. (...).
Heute präsentiert sich die in Bitterfeld-Wolfen umbenannte Stadt neu und herausgeputzt, ähnlich wie der nahe gelegene Chemiepark."

Die Stadt Bitterfeld wurde jedoch nicht einfach nur umbenannt, sondern zwei schrumpfende Städte, nämlich Bitterfeld und Wolfen wurden zu einer Stadt fusioniert. Bitterfeld-Wolfen wird uns als Chemiestandort präsentiert, aber nicht als geflopptes Zentrum der Solarindustrie. Stattdessen geht es weiter zum Chemiepark Leuna und zum BASF-Werk in Schwarzheide (Brandenburg). In Schwarzheide wurde die AfD bei der Landtagswahl 2019 mit 32,7 % stärkste Partei. Das sind die Resultate dieser Erfolgsgeschichte!

Zum Abschluss wird uns die Erfolgsgeschichte Lausitz präsentiert, obwohl auch dort die AfD überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte.

Fazit: Wer solch unverschämte Jubelprosa verfasst, darf sich nicht wundern, wenn die etablierten Parteien in Deutschland dafür die Denkzettel kassieren!

TERPLITZ, Katrin (2019): Das langsame Sterben der kleinen Läden.
Gewerbevielfalt: Das Kleingewerbe hält dem Wettbewerb großer Ketten immer weniger stand. Die Folge: verödete Innenstädte,
in:
Handelsblatt v. 08.11.

NIMZ, Ulrike & Antonie RIETZSCHEL (2019): Wo die Einheit wohnt.
Die Wende hat die Landkarte verändert. Es gibt keine Grenze mehr - dafür Straßen, Plätze, Brücken und Tunnel der Einheit. Eine Deutschlandreise,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 09.11.

Die angebliche Deutschlandreise beschränkt sich auf Teutschenthal in Sachsen-Anhalt und Wiesbaden, die Landeshauptstadt von Hessen.

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Gleichwertige Lebensverhältnisse

KERSTEN, Jens/NEU, Claudia/VOGEL, Berthold (2019): Gleichwertige Lebensverhältnisse - Für eine Politik des Zusammenhalts,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.46 v. 11.11.

KERSTEN/NEU/VOGEL beschreiben in ihrem Artikel die Kollateralschäden des progressiven Neoliberalismus in Deutschland:

"Spätestens seit der weltweiten Finanzkrise Ende der 2000er Jahre ist Katerstimmung eingetreten, nicht zuletzt auch deshalb, weil die (sozialen) Kosten der Wiedervereinigung unterschätzt und die Konsequenzen des demografischen Wandels lange ausgeblendet wurden. Zugespitzt formuliert: Wettbewerb und Neoliberalismus lebten lange von den sozialstaatlichen Infrastrukturen, die sie eigentlich ablehnten – bis diese Infrastrukturen schließlich veraltet, aufgebraucht oder abgenutzt waren. Überdies folgte die Politik zu lange der Maxime, dass der Markt in seiner Leistungsfähigkeit öffentlichen Interventionen überlegen sei. Der Föderalismus in Deutschland wurde in eine Wettbewerbsordnung umdefiniert. Wo aber der Gedanke des Wettbewerbsföderalismus herrscht, da ist es bis zum Wettbewerb der Regionen, Gemeinden und Bezirke nicht weit, freilich ohne dass jemals Chancengleichheit in diesem territorialen Wettbewerb bestanden hätte. Zugleich wurde in diesem Kontext auch eine ganze Reihe von Sparprogrammen und Entbürokratisierungsinitiativen umgesetzt, die die territorialen Fliehkräfte nur beschleunigt haben und die territoriale Ungleichheit weiter wachsen ließ." (S.6)

KERSTEN/NEU/VOGEL sehen die vollmundigen Absichtserklärungen gleichwertiger Lebensverhältnisse durch das Bundesverfassungsgericht faktisch auf einen Minimalstandard reduziert:

"An die Stelle eines wohlfahrtsstaatlich überzogenen Verständnisses gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ein absolutes Minimum föderalen Zusammenhalts getreten, das eigentlich erst dann einschlägig ist, wenn die Gesellschaft der Bundesrepublik aufgrund ökonomischer oder demografischer Disparitäten und Spaltungstendenzen auseinanderzufallen droht." (S.7)

Für KERSTEN/NEU/VOGEL droht Deutschland jedoch nicht auseinanderzufallen, sondern es gibt lediglich zunehmende Polarisierungstendenzen. Gleichzeitig wird verharmlost, wenn von einem "flächendeckenden Problem" schwadroniert wird, obwohl sich die Probleme der einzelnen Regionen gravierend unterscheiden. Die Studie Ungleiches Deutschland der Friedrich-Ebert-Stiftung bringt das auf die Formel "Fünfmal Deutschland – fünfmal ein anderes Land". Aus der folgenden Tabelle sind die massiven Unterschiede in Deutschland ersichtlich:

Tabelle: Die 5 Raumtypen mit ihrer Problemstruktur und Bandbreite der Indikatoren
Dimension -/+ Dynamische Groß-
und Mittelstädte
mit Exklusionsgefahr
Starkes (Um-)Land Solide Mitte Ländlicher Raum
in der dauerhaften Strukturkrise
Städtische Räume im
andauernden Strukturwandel
Kreisanzahl 78 Kreise 62 Kreise 187 Kreise 53 Kreise 22 Kreise
Einwohner 22,7 Mio. 13,7 Mio. 32,8 Mio. 8,1 Mio. 5,4 Mio.
Anteil hoch-
qualifizierter
Beschäftigter
Min. Delmenhorst Berchtesgardener Land Wittmund Prignitz Pirmasens
Max. Heidelberg München (Lkr) Göttingen Meißen Bochum
Altersarmut Min. Gera Eichstätt Märkisch Oderland Greiz Remscheid
Max. Frankfurt a/M Lindau/Bodensee Emden Nordwestmecklenburg Offenbach a/M
Kinderarmut Min. Ingolstadt Pfaffenhofen/Ilm Unterallgäu Eichsfeld Trier
Max. Halle/Saale Pinneberg Salzgitter Uckermark Gelsenkirchen
Lebens-
erwartung
Min. Flensburg Nürnberger Land Emden Kyffhäuserkreis Pirmasens
Max. München Starnberg Offenbach Saale-Holzland-Kreis Offenbach a/M
Hausarzt-
erreichbarkeit
Min. München Main-Taunus-Kreis Solingen Zwickau Gelsenkirchen
Max. Frankfurt/Oder Oberallgäu Emden Ostprignitz-Ruppin Pirmasens
Bruttogehalt Min. Gera Berchtesgardener Land Teltow-Fläming Vorpommern-Rügen Pirmasens
Max. Erlangen Main-Taunus-Kreis Wolfsburg Oder-Spree Mühleim/Ruhr
Gemeinde-
schulden
Min. Dresden Biberach Wolfsburg Hildburghausen Dortmund
Max. Mainz Hochtaunuskreis Kusel Mansfeld-Südharz Pirmasens
Breitband-
ausbau
Min. Brandenburg/Havel Breisgau-Hochschwarzwald Eifelkreis Bitburg-Prüm Jerichower Land Saarbrücken
(Regionalverband)
Max. Regensburg; Rosenheim Hochtaunuskreis Speyer; Frankenthal/Pfalz Suhl Herne; Pirmasens; Gelsenkirchen
Binnen-
wanderungs-
saldo
Min. Frankfurt/Oder Aschaffenburg (Lkr) Göttingen (Lkr) Suhl Offenbach a/M
Max. Leipzig Herzogtum Lauenburg Havelland Rostock (Lkr) Mülheim/Ruhr
Quelle: FES-Studie Ungleiches Deutschland, Tabellen S.10f.; eigene Darstellung

Aus Sicht unserer kosmopolitischen Eliten, zu denen die Autoren gehören, sind solche Defizite unbedeutend, solange sie sich nicht im politischen Raum manifestieren. Der Wahlerfolg der AfD, der von KERSTEN/NEU/VOGEL als "soziale Desintegrationseffekte" bezeichnet wird, führt dazu, dass das Thema der gleichwertigen Lebensverhältnisse erneut auf die politische Agenda gesetzt wird, nachdem sich der Rekurs auf den demografischen Wandel als Motiv erschöpft hatte (siehe auch weiter unten). Das ist das eigentlich Erschreckende, denn der Linksliberalismus von Linkspartei bis CDU war sich seiner Vorherrschaft allzu sicher. Der Vertrauensverlust des progressiven Neoliberalismus wird von KERSTEN/NEU/VOGEL vor diesem Hintergrund als Aufgabe der Stärkung der sozialintegrativen und -kohäsiven Seite der Daseinsvorsorge formuliert.

Aus Sicht der Autoren reicht es, wenn das klassische Zentrale-Orte-Konzept, das aufgrund der neoliberalen Standortpolitik bereits massiv in Mitleidenschaft gezogen wurde, durch ein "Soziale-Orte-Konzept" zu ergänzen. Dieses Konzept ist letztlich ein sozialstaatliches Aktivierungskonzept, das folgendermaßen formuliert wird:

"Bei der Bereitstellung daseinsvorsorgender Infrastruktur zeigt sich die Staatsbedürftigkeit der demokratischen Gesellschaft. Dies bedeutet nicht, dass der Staat die Daseinsvorsorge, die Infrastrukturen und die öffentlichen Güter selbst und allein zur Verfügung stellen müsste oder könnte. Er ist dafür insbesondere auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, eine aktive Zivilgesellschaft und eine kooperative Wirtschaft angewiesen." (S.10)

Oder anders formuliert: Dem Bürger kommt die Aufgabe zu die Defizite staatlicher Daseinsvorsorge zu kompensieren. Um die Eigeninitiative zu fördern, wird die überlokale Generierung von medialer Aufmerksamkeit für solche vorbildliche Eigeninitiative empfohlen. Es sollen also sozusagen analog zur DDR "Helden der (Bürger-)Arbeit" herausgehoben werden. Davon abgesehen, dass dies längst in den Medien praktiziert wird, ist diese Art der Politikentlastung auf die Ressourcenstattung der oberen Mittelschicht zugeschnitten, d.h. es besteht die Gefahr, dass die gesellschaftlichen Gräben vertieft werden.

KERSTEN/NEU/VOGEL beteuern zwar, dass das Soziale-Orte-Konzept kein Lückenbüßer sein dar, aber die Hartz-Reformen haben gezeigt, dass der Anspruch des Forderns-und-Förderns einseitig aufs Fordern beschränkt wurde und das Fördern sich in unzureichenden Alibi-Maßnahmen erschöpfte. Die Ausweitung dieses Aktivierungskonzeptes vom Arbeitsmarkt auf den Sozialraum könnte deshalb leicht zu einer Ausweitung der bekannten Sozialschmarotzer-Kampagnen führen. Das übersteigerte Klassenselbstbewusstsein wie es sich in der Unterschichtendebatte der Nuller Jahre ausdrückte war ja bekanntlich der Nährboden für die Radikalisierung dieses Denkens innerhalb der AfD. Der Kulturkampf, der sich als Kampf der "Kulturalisierungsgewinner" über die "Kulturalisierungsverlierer" entwickelt hat, könnte durch das Soziale-Orte-Konzept noch gesteigert werden, weil die Ressourcenausstattung der Bürger außer Acht bleibt.

Fazit: Kosmetische Korrekturen wie sie von KERSTEN/NEU/VOGEL empfohlen werden, sind ungeeignet, um die Lebensverhältnisse zu verbessern. Bereits das Buch Demografie und Demokratie der Autoren aus dem Jahr 2012, also vor Gründung der AfD, zeigt, dass die Sicht der Autoren nicht wirklich eine Reaktion auf den Wahlerfolg der AfD darstellt, sondern den Wahlerfolg lediglich als Anlass nimmt, um alte Denkschablonen als neuen Lösungsweg darzustellen. Im Kapitel 5 (S.47ff.) und Kapitel 6 (S.53ff.) wird in dem Buch bereits jene Diagnose dargelegt, die sich auch in dem jetzigen Artikel wiederfindet. Das Kapitel III Infrastrukturen (S.62ff.) zeigt, dass damals lediglich statt der AfD der demografische Wandel als Ursache für die notwendigen Maßnahmen beschrieben wurde. Die Autoren sprechen damals von einer "demografischen De-Infrastrukturalisierung" (S.69), die zu "sozialpolitischen Desintegrationseffekten" (S.70) geführt hat. Das Aktivierungskonzept wird als "Motivierung" der Bürger (S.89) bezeichnet.

"(D)er motvierende Staat (kann) auf die Aktivierung wohlverstandener Eigeninteressen der Bürgerinnen und Bürger in Schrumpfungsregionen zur Gewährleistung des Allgemeinwohls setzen, sofern er Handlungsspielräume eröffnet und institutionelle Voraussetzungen schafft sowie Eigenverantwortlichkeiten zulässt." (2012, S.91)

Schon damals wird von einem "neuen Infrastrukturvertrag zwischen Staat, Wirtschaft und Bürgern" (S.91) gesprochen, was nun als "Soziale-Orte-Konzept" vermarktet wird. In einem entscheidenden Punkt aber, wird nun eine Umkehr der Verhältnisse betrieben. Damals hießt es noch:

"Schrumpfende Infrastrukturen und Daseinsvorsorgeleistungen zehren die Mitte lokaler Gesellschaften aus. Die Trägergruppen bürgerschaftlichen Engagements stehen unter Druck (...). Der Ausbau und die Sicherung der Infrastruktur produziert auch eine spezifische Sozialstruktur; mehr noch: Infrastrukturen stabilisieren soziale Strukturen. (...). Die Abwertung verwaltender Tätigkeiten geht mit der Aufwertung wettbewerbs-, leistungs- und konkurrenzorientierter Positionen einher. (...). Diese Positionskonflikte werden im Rahmen demografischer Schrumpfung und sozialstruktureller Lichtung nicht gedämpft, sondern gewinnen an Schärfe. (S.111f.)

Diese kulturelle Spaltung der Mittelschicht, die damals noch als Problem gesehen wurde und heute von Sozialwissenschaftlern wie Andreas RECKWITZ ("Das Ende der Illusionen") und Cornelia KOPPETSCH ("Die Gesellschaft des Zorns") thematisiert werden, drückt sich inzwischen auch in den Wahlerfolgen der AfD aus. Im aktuellen Artikel wird nun diese Spaltung vernachlässigt und deshalb die Kompensationsmöglichkeiten von Infrastrukturdefiziten durch die Bürger zu optimistisch dargestellt.

ELSNER, Katharina (2019): Der Tod der Beeren.
Mecklenburg-Vorpommern: Sanddorn gilt als Vitamin-C-Bombe, reif sind die Früchte im Herbst. Doch in Nord- und Ostdeutschland, selbst in China sterben die Pflanzen - und niemand weiß, warum,
in:
TAZ v. 11.11.

SCHIER, Susanne (2019): Leichte Entspannung.
Die Zahl der überschuldeten Verbraucher in Deutschland ist erstmals seit fünf Jahren leicht gesunken. Ein Grund zur Entwarnung ist das aber nicht,
in:
Handelsblatt v. 15.11.

Susanne SCHIER berichtet über den Schuldneratlas 2019, in dem es um die Überschuldung von Verbrauchern geht. Ein Ranking der 401 Kreise und kreisfreien Städte ermöglicht den Vergleich dieser "Regionen". Die 10 Regionen mit den höchsten Überschuldungsquoten sind aus der folgenden Tabelle ersichtlich:

Rang Kreis/kreisfreie Stadt Bundesland Überschuldungsquote
1 Bremerhaven Bremen 21,7 %
2 Neumünster Schleswig-Holstein 18,7 %
3 Pirmasens Rheinland-Pfalz 18,3 %
4 Herne Nordrhein-Westfalen 18,3 %
5 Wuppertal Nordrhein-Westfalen 18,2 %
6 Gelsenkirchen Nordrhein-Westfalen 18,0 %
7 Duisburg Nordrhein-Westfalen 17,5 %
8 Offenbach a/M Hessen 17,2 %
9 Wiesbaden Hessen 17,1 %
10 Wilhelmshaven Niedersachsen 17,1 %

WIRNSHOFER, Josef (2019): Home, sweet home.
Bayern: Grafenwöhr lebt seit 1945 mit und von den US-Soldaten. Hier üben und hier lieben sie, von hier aus fahren sie in den Krieg. Was, wenn sie abziehen?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 15.11.

KLÄSGEN, Michael (2019): Gar nicht so fein.
Bayern: Die Porzellan-Industrie steuert auf eine neue Krise zu. Nach Meissen steckt auch Rosenthal in Schwierigkeiten. Eine für das Unternehmen untypische Aktion verärgert Fachhändler und wirft Fragen auf,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 16.11.

Michael KLÄSGEN berichtet über die Bedeutung des Porzellanherstellers Rosenthal für das oberfränkische Selb.   

HEILIG, René (2019): Xi'an - Mukran in nur zwei Wochen.
Mecklenburg-Vorpommern: Ignoriert von der Bundespolitik: Hafen auf Rügen ist ein neuer Endpunkt der chinesischen Seidenstraße,
in:
Neues Deutschland v. 18.11.

HEILIG, René (2019): Mukran Port.
Mecklenburg-Vorpommern: Seit Jahrzehnten befristete Lösungen und Provisorien,
in:
Neues Deutschland v. 18.11.

REICH, Marcel (2019): "Das ist meine Stadt" heißt es jetzt.
Nordrhein-Westfalen: Wie es dem BWL-Professor Harald Ross gelang, das verödete Zentrum von Wassenberg (NRW) neu zu beleben,
in:
Welt v. 19.11.

"Harald Ross (...) ist Diplom-Kaufmann und Inhaber einer Marketing- und Kommunikationsagentur (...). Von ihm erhoffte sich die 19.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen Hilfe (...).
Viele Menschen gingen lieber in Aachen, Düsseldorf oder Köln shoppen. Außerdem liegt Wassenberg an der niederländischen Grenze. Mit dem Auto sind die Menschen innerhalb von 20 Minuten in dem im Rheinland beliebten Outlet Roermond auf der anderen Seite der Grenze. (...).
Ross (...) analysierte (...) die Demografie und Kaufkraft der Bevölkerung und erkannte, dass in der Stadt überdurchschnittlich viele ältere Menschen mit gutem Einkommen leben. (...).
Seine Idee: Es sollte fortan nichts mehr angeboten werden, was es im Umkreis von 20 Kilometern auch woanders gibt. Dann erstellte Ross ein auf die Stadt ausgerichtetes Konzept. Das, so erklärt er, bestand aus vier »Wachstumssäulen«: Kultur, Genuss, Tourismus und Events. »Es geht um Alleinstellungsmerkmale (...).« Seine Ideen stellte er im Jahr 2015 in Wassenberg vor. (...). Ross (plante) neue Geschäfte für Wanderer und Erholungssuchende. Mit dem Schwalm-Nette-Gebiet an der Grenze zu den Niederlanden liegt idealerweise ein Naturpark in der Nähe. (...).
Kern seines Konzepts aber war der Faktor »Events«. Ross entwickelte einen Abendmarkt, einmal im Monat. (...). Dieser sollte nur hochwertige Produkte anbieten (...).
Es funktionierte. Der Markt zog die Menschen tatsächlich wieder in die Stadt. (...). Mittlerweile haben Erkelenz und Geilenkirchen nachgezogen und ebenfalls Abendmärkte gegründet",

beschreibt Marcel REICH das Konzept, das angeblich in Kleinstädten funktionieren soll. Tatsächlich stammt das Basiskonzept aus den Großstadtdebatten der 1990er Jahre, in denen die "Festivalisierung" im Fokus stand. Alle drei Städte liegen im Kreis Heinsberg, der im Teilhabeatlas 2019 als "ländliche Region mit vereinzelten Problemen" eingeordnet wird.

STAIB, Julian (2019): Über alle Hindernisse hinweg.
Rheinland-Pfalz: Die Hochmoselbrücke wird am Donnerstag eröffnet. Damit findet ein Projekt der Superlative seinen Abschluss, das bis zuletzt umstritten war,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.11.

"Rund 25.000 Fahrzeuge sollen (...) über die Brücke fahren. Für Fußgänger wird sie fortan gesperrt sein. (...).
Erste Überlegungen für einen Hochmosel-Übergang gab es bereits Anfang der siebziger Jahre. Von 2011 an wurde dann gebaut. Eigentlich war die Fertigstellung für 2016 geplant (...).
Heute spannt sich ein riesiges Bauwerk über die Mosel: (...) ein recht banaler flacher Stahlsteg, der auf zehn riesigen Betonpfeilern ruht. Der Steg ist 1,7 Kilometer lang und maximal 160 Meter hoch. (...). Nur die Kochertalbrücke in Baden-Württemberg ist mit 185 Metern höher. (...).
Die Hochmoselbrücke ist Teil der Bundesstraße 50 (...). Die Brücke verbindet nun theoretisch die Benelux-Staaten mit dem Rhein-Main-Gebiet. Vor allem aber verbindet sie die beiden traditionelle strukturschwachen Regionen Eifel (westlich) und Hunsrück (östlich), die sich da
von einen wirtschaftlichen Aufwind erhoffen. (...).
An der Mosel selbst aber gab es bis zuletzt Protest (...), angeführt von der Bürgerinitiative
»Pro Mosel« (...).
Auch in der Landespolitik wird der Bau weiterhin unterschiedlich bewertet: Die SPD, die in Rheinland-Pfalz eine Ampelkoalition anführt, pries die Brücke. (...). Die mitregierenden Grünen (...) schwiegen. Die Vorsitzenden der Linken (...) kritisierten hingegen eine »Verschwendung öffentlicher Mittel«, »ökologischen Irrsinn« sowie eine Störung von Landschaftsbild und Lebensqualität.
(...). Die Brücke wurde am Rande des Ortes Zeltingen-Rachtig errichtet und schwebt hoch über ihm. Der Ort hat etwas mehr als 2.000 Einwohner, fein renovierte Fachwerkhäuser und viel Besuch von Touristen. Die könnten nun wegblieben, so die Sorge",

berichtet Julian STAIB über die kontroversen Sichtweisen zum Bau der Hochmoselbrücke, der zeigt, dass die Verkehrswende nur eine hohle Phraseologie ist. Bauwerke, die lediglich dem Autoverkehr dienen und sowohl Bahn, Rad und Fußgänger außen vor lassen, sollten verboten sein. "Superlative" ist kein Begriff, der politisch von Bedeutung sein sollte.

WIRTSCHAFTSWOCHE-Titelgeschichte: Leben Sie in der richtigen Stadt?
Von Rostock bis München, von Aachen bis Berlin: 71 Kommunen im Test. Wo es sich in Deutschland am besten wohnen und arbeiten lässt - und von wo man lieber wegziehen sollte

LOOSE, Bert & Sophie CROCOLL (2019): Wo es euch gefällt.
Der demografische Wandel verschärft den Wettbewerb der Kommunen um Menschen und Unternehmen. Welche Stadt verfügt über das größte Potenzial, welche punktet mit der stärksten Wirtschaftsdynamik - und welche bereitet sich am besten auf die Digitalisierung vor? Der große Städtetest der WirtschafsWoche liefert die Antworten
in:
WirtschaftsWoche Nr.49 v. 22.11.

LOOSE & CROCOLL stellen uns das jährliche Städteranking des neoliberalen IW Köln vor, in dem es um die Attraktivität der deutschen Großstädte für die globale, kosmopolitische Elite geht. Der US-amerikanische Guru Richard FLORIDA steht Pate für diese Art des globalen Standortwettbewerbs der Wissensgesellschaften. Motto dieser Ideologie:

"Früher zogen die Arbeitnehmer dorthin, wo die Jobs waren. Heute ist es oft umgekehrt: Firmen siedeln sich dort an, wo sie ein hohes Fachkräftepotenzial sehen."

In unserer gespaltenen Gesellschaft gilt das lediglich für die "Happy Few", während sich "Normalos" einer geschlossenen Gesellschaft gegenüber sehen. Die Konsequenz: Die AfD kann sich ihres wachsenden Wählerpotenzials gewiss sein. Ostdeutschland ist nicht der seltene Ausnahmefall, sondern zeigt die Tendenzen auch für die westdeutschen Vorzeigeländer Baden-Württemberg, Bayern und Hessen an. Das neoliberale Städteranking verklärt das bayerische Mittelfranken (Fürth, Erlangen und Nürnberg) und das hessische Darmstadt zu Vorzeigestandorten:

"Droht Fürth die Bochumisierung? (...)
2009: Quelle pleite, mehr als 4.000 Menschen arbeitslos (...). 2005 zog AEG seine Haushaltsgeräteproduktion aus Nürnberg ab. 2003 meldete Grundig Insolvenz an. 1995 zogen die letzten US-Soldaten ab - und ließen 2.500 Zivilbeschäftigte zurück. Fürth, Nürnberg und das nahe Erlangen, der ganzen Metropolregion drohte damals das Schicksal einer Armutsinsel im prosperierenden Bayern. (...).
Die Bochumisierung ist ausgeblieben. (...).
Mehr noch: Die drei Städte in Mittelfranken bilden die Aufsteigerregion des Jahres. (...).
Der Aufstieg von Mittelfranken ist kein Zufall. (...). Man setzte auf Bildung, Hightech, den Aufbau industrieller Cluster - und auf Kooperation."

Die neoliberale Phraseologie bedient sich gerne der Valley-Metapher, die als ideologische Basis das "Silicon Valley" hat. Für die mittelfränkische Metropolregion wird nun der Begriff "Medical Valley" bemüht. Andere Valleys zeigen dagegen, dass solche Erfolgsgeschichten auch scheitern können. Dafür steht z.B. das "Solar Valley".

Das hessische Darmstadt gilt dagegen als Beispiel für eine erfolgreiche, innovative Hochschulstadt. Vor 15 Jahren kam Darmstadt beim neoliberalen Großstadtvergleich nicht einmal vor, weil das Augenmerk nur auf den 50 einwohnerstärksten Großstädten lag. Dies zeigt im Grunde deutlich die Scheuklappen solcher Rankings, die ideologischen Moden unterworfen sind.

Fazit: Im neoliberalen Standortwettbewerbsdenken kommen nur Großstädte vor, während Klein- oder Mittelstädte außen vor bleiben. Standen vor 15 Jahren jedoch nur die 50 einwohnerstärksten Großstädte im Fokus, so sind es nun alle Städte mit mehr als 100.000 Einwohner. Wann also erfährt das neoliberale Städteranking eine weitere Ausdehnung auf Städte mit weniger als 100.000 Einwohner? Der Tesla-Standort in der Kleinstadt Grünheide in Brandenburg zeigt, dass der Standortwettbewerb längst die ideologischen Grenzen unserer vergangenheitsfixierten Neoliberalen überwunden hat.

JORDAN, Thomas (2019): Aus alt mach neu.
Obwohl in Deutschland immer mehr Züge fahren, hinkt die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken hinterher. Das könnte sich nun ändern,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 25.11.

Verkehrswende? Fehlanzeige! Da nützt es auch nichts, dass Thomas JORDAN Ausnahmebeispiele präsentiert:

"Niedersachsen. Dort, zwischen den Orten Bad Bentheim und Neuenhaus fahren seit Juli 2019 wieder Personenzüge. Nach 45 Jahren. Damit ist auch die letzte große Kreisstadt in Deutschland, Nordhorn, wo immerhin 50.000 Menschen leben, an den Bahnverkehr angeschlossen. Damit könnten die Niedersachsen zum Vorbild für andere Bundesländern werden. (...).
Die Investition hat sich laut Joachim Berends, dem Chef der privaten Betreibergesellschaft Bentheimer Eisenbahn, gelohnt. Anstatt der vorhergesagten 1.700 Fahrgäste nutzen bis zu 2.500 Menschen das Angebot an Werktagen",

wird uns erzählt. Ausgerechnet das grün-schwarze Hessen, das einen grünen Verkehrsminister hat, soll eine Vorreiterrolle übernehmen:

"Eines der Projekte, die von der Finanzspritze des Bundes profitieren sollen, ist die Lumdatalbahn in Hessen. (...) Seit Langem setzen sich Bürger (...) dafür ein, dass auf der 13 Kilometer lange Strecke zwischen der Kleinstadt Lollar und dem Ortsteil Londorf wieder Personenzüge fahren",

erzählt uns JORDAN. Londorf ist kein Ortsteil von Lollar wie der Leser meinen könnte, sondern von Rabenau. Die Strecke liegt damit im Landkreis Gießen. Die Lumdatalbahn fuhr einstmal bis Grünberg. Der Streckenabschnitt Londorf bis Grünberg wurde zurückgebaut und wird nun teilweise als Radwanderweg genutzt.

Besonders hervorgehoben werden geänderte Kriterien für die Bewertung der Reaktivierung. So soll nun neben der "prognostizierten Anzahl der Fahrgäste pro Tag" auch "Nachhaltigkeit" und "Klimaschutz" berücksichtigt werden. Problematisch ist jedoch die Definition dieser Modewörter:

"So (...) wird (...) miteinbezogen, ob eine reaktivierte Bahnstrecke dazu beiträgt, dass städtische Verkehrssysteme besser funktionieren."

Das schließt Reaktivierungen aus, die den Zentren keinen Nutzen bringen, denn die Grünen sind bekanntlich eine Großstadtpartei. Die Verkehrswende endet dementsprechend am Rande der (geplanten) Speckgürtel dieser Zentren. Bei der Lumdatalbahn geht es um Vorteile für Gießen.

JORDAN präsentiert zudem 10 stillgelegte Bahnstrecken, deren Reaktivierung sich lohne, wobei die 5 km lange Strecke zwischen Blankenstein und Marxgrün als reine Güterverkehrsstrecke schon einmal für den Personenverkehr wegfällt. Fünf Bahnstrecken sind unter 20 Kilometer lang, drei zwischen 20 und 30 Kilometer. Nur mit Gunzenhausen - Nördlingen in Bayern gibt es eine Bahnstrecke, die 40 Kilometer lang ist. Lediglich 3 Bahnstrecken befinden sich in Ostdeutschland: Barth - Zingst - Prerow (Mecklenburg-Vorpommern), Abzweig Schönwalde - Berlin (Brandenburg) und Blankenstein - Marxgrün (Thüringen).

KEILHOLZ, Christine (2019): Nur weg hier.
Sachsen: Dem Osten laufen die Frauen weg. Deshalb wählen die Männer rechts,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 15.12.

BARTZ, Tim u.a. (2019): 2020. Dekade des Umbruchs.
Zukunft: Im kommenden Jahrzehnt werden sich Deutschland und die Welt wohl stärker verändern als je zuvor. Einige Trends lassen sich vorhersehen, die Rentnerwell zum Beispiel; andere nur erahnen, etwa die Gefahr von Cyberattacken. Elf Prognosen für die Zeit bis 2030,
in:
Spiegel Nr.1 v. 28.12.

Dystopien zum demografischen Wandel gab es in den letzten 50 Jahren mehr als genug. Merkwürdigerweise ähneln sich zwar das Narrativ, aber es wechseln die Orte, in denen man angeblich schon heute so lebt wie in den dystopischen Jahren.

"Wer in Bad Lippspringe aufwächst, weiß, wie die deutsche Kleinstadt in dreißig Jahren aussieht",

wusste die taz bereits im Jahr 2003. 2030 sei Deutschland ein Rentnerpark.Der Spiegel hat nun Harzgerode zum exemplarischen Ort auserkoren:

"Wer heute schon einen Eindruck vom Leben im Jahr 2030 haben möchte, kann ihn in Harzgerode, einer Kleinstadt im Unterharz, mit Fachwerkhaus, Fürstenschloss - und vielen älteren Menschen. Es gibt einen Seniorenclub und eine Osteoporose-Selbsthilfegruppe, die Altenheime heißen »Goldener Herbst« oder »Seniorenpark Waldblick«. Und ist einmal ein Gehweg zu erneuern, wird der Bordstein so abgeflacht, dass sich Rollatoren leicht über die Straße schieben lassen.
In Harzgerode leben knapp 8.000 Bürger, sie sind im Schnitt 51,6 Jahre alt, gut sieben Jahre älter als der Durchschnittsdeutsche. Im vorigen Jahr wurden in der Gemeinde 46 Kinder geboren - bei 159 Sterbefällen.
Harzgerode nimmt vorweg, was Deutschland bevorsteht. 2030 werden rund 19 Millionen Bürger 67 Jahre oder älter sein, rund 2,8 Millionen mehr als 2020. Deutschland wird zur Altenrepublik. »Der Prozess lässt sich nicht mehr abwenden«, sagt der Bochumer Ökonom Martin Werding, Experte für die Folgen des demografischen Wandels."

Harzgerode ist eine Kleinstadt in Sachsen-Anhalt und gehört zum Landkreis Harz. Dass es 2030 in Deutschland überall so aussehen soll wie dort, ist äußerst unwahrscheinlich, denn hier wird die Kluft zwischen wachsenden und schrumpfenden Städten und Regionen ausgeblendet, die das Leben in Deutschland entscheidender prägen wird als die demografische Entwicklung, die hier auf den Altersdurchschnitt reduziert wird.

Vergleicht man die Alterspyramide von Harzgerode Ende 2018  mit der aktuellen 14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes für das Jahr 2030, dann ergeben sich eklatante Unterschiede:

 

Harzgerode (31.12.2018)

14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung
Deutschland: junge Bevölkerung
(Variante 5: 2030)
Deutschland: alte Bevölkerung
(Variante 4: 2030)
Bevölkerungsstand 7.745 (100 %)    
Anteil unter 20 Jahre 1.029 (13,3 %) 18,5 % 19,5 %
Anteil 65 Jahre und mehr 2.476 (32,0 %) 25,4 % 26,3 %

Harzgerode entspricht also in keiner Weise der deutschen Normalität des Jahres 2030, sondern gehört zum negativen Bereich der Stadtentwicklung im Jahr 2030. Harzgerode verdoppelte im Jahr 2009 seine Einwohnerzahl durch Zusammenlegung mit anderen Gemeinden (2008: 4047; 2009: 8.159). Inwieweit solche territorialen Aspekte für die nächsten 10 Jahre typisch sein werden, darüber kann lediglich spekuliert werden.

Fazit: Was den demografischen Wandel in Deutschland betrifft, so wird dieser offensichtlich zu negativ dargestellt.

 
     
 
       
     
       
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 12. Januar 2016
Update: 14. Februar 2020