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Vorbemerkung
Urbanität gilt in der Wissenschaft seit langem als
Leitbild und spätestens seit neoliberale Standortortpolitik und
Identitätspolitik eine Liaison eingegangen sind, wurde der
ländliche Raum abgeschrieben. Die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme hat dazu beigetragen, dass die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kein Wert mehr ist,
sondern das angeblich Alternativlose wurde auch noch politisch
gefördert. Seit jedoch der Rechtspopulismus den neoliberalen
Konsens gefährdet, wurde auch in Deutschland der ländliche Raum
als Möglichkeit zur politischen Profilierung entdeckt. Die
kommentierte Bibliothek soll einen Überblick über diese Debatte
ermöglichen.
Kommentierte Bibliografie (Teil 6: 2019)
2019
LASCH, Hendrik
(2019): Schlechte Zeiten für die Regionalbahn 110.
Sachsen: Das sächsische Nossen ist seit 2015
vom Zugverkehr abgehängt, schöpft vor der Landtagswahl 2019 aber
Hoffnung,
in:
Neues Deutschland
v. 02.01.
RINGLE, Anna
(2019): Der Riss geht mitten durch Welzow.
Brandenburg: In der Kleinstadt im Lausitzer Kohlerevier fürchten die einen um ihre Arbeitsplätze und die
anderen um ihre Häuser,
in:
Neues Deutschland
v. 04.01.
LASCH, Hendrik
(2019): Pop-up-Dinner in der Provinz.
Sachsen-Anhalt: Viele Industriebrachen, viel Platz
und ein Faible für moderne Kunst: Die Kleinstadt Zeitz bietet sich als
Zuflucht für verdrängte Großstädter an - zum Beispiel aus Leipzig,
in:
Neues Deutschland
v. 02.01.
CREUTZBRUG, Dietrich (2019): Rente mit 55 für Braunkohle-Beschäftigte?
Gewerkschaft fordert
milliardenschweres "Anpassungsgeld". Spitzengespräch im Kanzleramt,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 16.01.
JUNG, Hagen
(2019): Prora nun restlos ausverkauft.
Mecklenburg-Vorpommern: Im
ehemaligen NS-Koloss entstehen weitere 200 Wohnungen - Alte
Geschichten um U-Bahn und U-Boot,
in:
Neues Deutschland
v. 16.01.
DROST, Frank M. & M. STREIT
(2019): Gespaltenes Land.
Deutsche Wohnimmobilien bleiben
gefragt, allerdings wohl auf Dauer nicht überall. Sorgen machen sich
Investoren mittlerweile vor allem über große Markteingriffe in den
Metropolen,
in:
Handelsblatt
v. 17.01.
"Trends wie eine zunehmende
Verstädterung und die Überalterung der Gesellschaft führen Experten
zufolge zu einer Spaltung des Marktes in beliebte und weniger beliebte
Regionen",
behaupten DROST & STREIT. Belege
bleiben sie jedoch schuldig. Vielmehr wird umgekehrt die Demografie
dazu benutzt, um Baupolitik zu betreiben:
"Entspannen könnte sich die Lage,
wenn die Städte schrumpfen. Der demografische Wandel wird oft als ein
Faktor zitiert, warum jetzt trotz aller Wohnungsnot nicht überbordend
gebaut werden sollte."
Der Beamte Bernd RAFFELHÜSCHEN, der
an einem Forschungsprojekt zu regionalen Wohnungsmärkten arbeitet,
sieht nicht die Entwicklung der Bevölkerungszahlen, sondern die
Haushaltszahlen als entscheidend an:
"Bundesweit werden bis 2030 bis zu
sechs Prozent mehr Haushalte eine Wohnung nachfragen als 2015, obwohl
die Bevölkerung bereits 2021 schrumpfen werde."
Ob die Bevölkerung im Jahr 2021
tatsächlich schrumpfen wird, das bleibt abzuwarten. Derzeit wächst
sie, obwohl gemäß den Bevölkerungsvorausberechnungen aus den Nuller
Jahren längst das große Schrumpfen (Cordula TUTT) hätte beginnen
müssen. Eine Bevölkerungsdifferenz von 1,5 Millionen Menschen wie sie
der Zensus 2011 mitbrachte, hatte niemand wirklich bemerkt! Ein
Singularisierungstrend soll angeblich die Haushaltsgrößen weiter
sinken lassen, auch dies ist eher spekulativ. Die
Thesen zur Singularisierung,
die in den 1990er Jahren die Debatte prägten, haben sich
jedenfalls als falsch erwiesen. Zur regionalen Entwicklung der
Immobilienmärkte will die Postbank in ihrem Wohnatlas Genaues wissen:
"Bis 2030 steigen demnach die
Preise in Heilbronn mit 2,99 Prozent am stärksten. (...). Die größten
Wertverluste verbuchen dagegen 34 Landkreise im Osten Deutschlands.
Den stärksten Einbruch sagt die Studie der Kreisstadt Suhl in
Süd-Thüringen voraus. Dort sollen die Preise um 5,52 Prozent pro Jahr
fallen. Der Landkreis Hof in Bayern ist mit einem erwarteten
jährlichen Wertverlust von 2,35 Prozent der schwächste Kreis in den
alten Bundsländern."
Das Jahr 2030 wird zeigen, ob diese
Prognose zutrifft, denn etliche Prognosen sind in der Vergangenheit
krass daneben gelegen.
RADA, Uwe (2019): Ein Dorf gehört
sich selbst.
Brandenburg: Nichts ungewöhnliches:
Hobrechtsfelde ist eine Siedlung vor den Toren Berlins. Höchst
ungewöhnlich: Das Dorf gehört komplett seinen Bewohnern. Die Mieten
sind mehr als erträglich. Wie geht so was?
in:
TAZ
v. 17.01.
SCHIRRMEISTER, Frank (2019): Im
Kaff.
Fotografie: Eine Müdigkeit liegt
über dem Land: Ute und Werner Mahler fragen in ihrem Langzeitprojekt
nach dem Wesen der Kleinstadt,
in:
Freitag
Nr.3
v. 17.01.
Frank SCHIRRMEISTER stellt das Buch
Kleinstadt vor und fragt:
"Erinnert sich noch jemand? Vor
etwa zehn, 15 Jahren waren die Schrumpfenden Städte der große
Hit im akademischen und künstlerischen Diskurs. (...). Man nahm an,
dass die Wachstumsepoche seit der Industrialisierung zu Ende gegangen
sei und die demografische Entwicklung zu weiter schrumpfenden
Großstädten führen würde. Was für ein Irrtum! Ebenso wie sämtliche
Prognosen über das Aussterben der Deutschen, mit denen alle
Rentenkürzungen begründet wurden, hat sich auch die Voraussage eines
dramatischen Bevölkerungsrückgangs in den großen Ballungsräumen als
Humbug erwiesen. Die Metropolen (...) ächzen unter ihren
Wachstumsschmerzen und den explodierenden Wohnkosten. (...).
Diese Entwicklung hat freilich eine erhebliche Kehrseite, nämlich das
Ausbluten der Klein- und Mittelstädte, von den Dörfern gar nicht zu
reden."
Das Fotobuch ist ambitioniert:
"Im Buch gibt es keinerlei
Ortsangaben, ihre Arbeit ist vielmehr der Versuch, die Kleinstadt an
sich als prototypischen Lebensraum zu skizzieren. Kriterium für die
Auswahl der Reiseziele war es, Orte zu finden, die in keinem
Reiseführer stehen, weit weg von der Autobahn sind und auch sonst
keine Attraktionen oder Unternehmensansiedlungen aufweisen. Die
»übersehenen Kleinstädte«, wie Ute Mahler sie nennt."
Es geht also keineswegs um die
prototypische Kleinstadt, sondern um die Zuspitzung des derzeitigen
demografischen Hypes, das ein Stereotyp der abgehängten Region
bedient. Sinnvoller wäre es dagegen die Vielfalt von Kleinstädten bis
20.000 Einwohner aufzuzeigen. Zudem wird der Fokus auf die Jugend
gelegt, denn:
"Geht die Jugend, stirbt die Stadt.
Jugend steht somit als Metapher für die Hoffnung auf Zukunft."
Als vor Jahren das Aussterben der
Deutschen medial inszeniert wurde, waren Kinder die Zukunft, nun also
die Jugend. Volk ohne Jugend hieß ein 1932 erschienenes Buch
des damaligen Herwig BIRG, der Friedrich BURGDÖRFER hieß. Das
Bewusstsein bestimmt das Sein könnte man diese Art der
Demografie-Erzählung auch beschreiben. Kaum waren die
Nationalsozialisten an der Macht, war das Volk ohne Jugend kein Thema
mehr, sondern das Volk ohne Raum. Die neoliberale Erzählung drehte das
einfach um: Raum ohne Volk heißt es seitdem in vielen Varianten.
Müssen also erst die Rechten ans Ruder?
Für jene, die nur über ein
Kurzzeitgedächtnis verfügen: Die Jugend in den 1970er Jahren war in
den Kleinstädten genauso öde wie sie hier beschrieben wird. Es war die
Zeit bevor jene öffentlichen Räume für Jugendliche entstanden, die nun
wieder vermisst werden.
DEMLING, Alexander & Anna GAUTO
(2019): Brückenschmerzen.
Viele Eisenbahnbauten gammeln vor
sich hin - auch weil sich der Verfall für die DB lohnt. Der ganze
Irrsinn zeigt sich an einer Brücke in der Heimat es Verkehrsministers.
Ein Lehrstück über falsche Anreize,
in:
Handelsblatt
v. 18.01.
Ein Lehrstück über falsche Anreize?
Eher ein Lehrstück über die Berichterstattung in den Medien. Warum
kommt gerade jetzt eine Brücke in den Fokus des Handelsblatt,
obwohl das Problem nicht neu ist? Man muss bis auf die zweite Seite
des Artikels lesen, um zum Anlass zu kommen:
"20 Milliarden Euro fließen im
Rahmen der LuFV II zwischen 2015 und Ende 2019 in die Erneuerung des
Schienennetzes, 7,5 Milliarden mehr als in der Fünfjahresperiode
zuvor. Fas alles Steuergeld, nur einen geringen Teil finanziert die
Bahn aus Eigenmitteln. Die dritte LuFV soll dieses Jahr verhandelt
werden. Ab 2020 bekommt die Bahn dann frisches Geld, sie selbst
fordert, den Betrag von jährlich vier bis 2023 auf 6,4 Milliarden Euro
anzuheben. Und einen Teil des Nachschlags wird sie wohl auch
bekommen."
Anlass ist ein auslaufender Vertrag
zwischen Bund und Bahn, der kurz LuFV genannt wird, was Leistungs- und
Finanzierungsvereinbarung heißt. Auch die betrachtete Brücke ist kein
Zufall oder hat etwas mit dem Verkehrsminister zu tun, sondern an der
Bogener Brücke zeigt sich exemplarisch ein extremer
Interessenkonflikt, der als Normalfall dargestellt wird, aber die
derzeitig typische Form der Berichterstattung widerspiegelt.
"Laut einer Untersuchung der Grünen
Fraktion aus dem Jahr 2017 haben 1.086 Bahnbrücken in Deutschland so
massive Schäden, dass sich eine Renovierung nicht mehr lohnt. Fast die
Hälfte der über 25.000 Bahnbrücken ist der Analyse zufolge älter als
80 Jahre. In Bayern weise ein Drittel aller Bahnbrücken teils
gravierende oder »umfangreiche Schäden« auf. Eine davon ist die Brücke
in Bogen",
berichten DEMLING & GAUTO. In der
Pressemitteilung
So kaputt ist das deutsche Bahnnetz der Grünen vom 7.
September 2017 ist folgendes zu lesen:
"Wie schon
im Jahr 2014 haben wir Grüne im Bundestag den Zustand unserer
Schieneninfrastruktur in Deutschland abgefragt. In 16 Kleinen Anfragen
haben wir uns einen Überblick über alle 25.700 Bahnbrücken verschafft.
(...).
• In Brandenburg hat sich der
Zustand der Bahnbrücken weiter verschlechtert, inzwischen ist jede
zehnte der gut 800 Brücken dringend sanierungsbedürftig.
• Von Berlins 904 Brücken ist jede zwölfte abrissreif.
• In Hamburg ist die hochfrequentierte Brücke an der Sternschanze in
solch einem schlechten Zustand, dass auch sie vollständig abgerissen
und neuerrichtet werden müsste.
• In Baden-Württemberg sind 101 Brückenbauwerke nicht mehr zu retten –
gleich 10 Brücken mehr als noch 2014.
• In Nordrhein-Westfalen haben ganze 40 Prozent aller Brücken
umfangreiche, zum Teil gravierende Schäden.
•In Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Bayern sind es
jeweils noch immer ein Drittel aller Bahnbrücken.
Im Durchschnitt sind unsere
Eisenbahnbrücken 65 Jahre alt. Deutschlandweit sind 1.100 Brücken so
stark beschädigt, dass nur noch ein Abriss und Neuaufbau vertretbar
ist. (...).
662 Brücken der 1.100 Brücken in der schlechtesten Zustandskategorie 4
der Deutschen Bahn waren auch schon bei unseren letzten Anfragen 2014
in diesem desolaten Zustand. (...).
Das Durchschnittsalter der 1.100 marodesten Brücken Deutschlands liegt
schon jetzt bei 86 Jahren. 554 dieser Brücken wurden im Jahr 1927
gebaut und wurden somit schon während des Zweiten Weltkriegs genutzt.
Die mit Abstand ältesten Brücken sind in Sachsen und Thüringen zu
finden. Die bundesweit älteste Brücke steht in Saalfeld/Saale, unweit
vom ICE-Bahnhof entfernt. Sie wurde bereits 1871 in Betrieb genommen
und zählt damit stolze 146 Jahre."
Daran fällt auf: Bei der
Grünen-Pressemeldung liegt das Durchschnittsalter der 1.100 marodesten
Brücken bei 86 Jahren, während bei DEMLING & GAUTO 50 Prozent aller
25.700 Brücken älter als 80 Jahre sein sollen.
Die Grünen haben für jedes
Bundesland eine kleine Anfrage durchgeführt. Die Antworten werden nur
für das Jahr 2014 aufgelistet. In der Stellungnahme der
Bundesregierung für das Jahr 2014 heißt es zum Alter der Brücken in
Deutschland:
"Das Durchschnittsalter der
Eisenbahnbrücken in Deutschland liegt bei 55,9 Jahren"
Das Durchschnittsalter aller
deutschen Eisenbahnbrücken kann also jetzt kaum über 80 Jahre sein wie
das Handelsblatt behauptet.
In der Kategorie 4 (marode) heißt
es 2014 zu Bayern:
"Nach Mitteilung der DB Netz AG
sind im Freistaat Bayern 175 von 4.618 Brücken in der
Zustandskategorie 4 eingestuft"
2017 heißt es dann in der
Bundestags-Drucksache 18/12243:
"In Bayern gibt es 4.734
Eisenbahnbrücken, davon sind 152 Brücken der Zustandskategorie 4
(dringend sanierungsbedürftig) zuzuordnen"
Das Durchschnittalter der Brücken
in Bayern wird mit 61 Jahren angegeben, 2.081 Brücken sind älter 2.081
Brücken sind älter als 80 Jahre. Das heißt, dass ca. 44 Prozent aller
Brücken in Bayern älter als 80 Jahre sind. Die
Bahnbrücke bei Bogen wurde in die Kategorie 3 eingestuft, heißt es
im Handelsblatt. in der Antwort der Bundesregierung gibt es für
Straubinger Strecken keine einzige aufgeführte Brücke, die über 100
Jahre alt ist. Für die
Strecke Straubing - Bogen werden drei Brücken angegeben:
Strecken-Km 5,0 + 33 (7 Jahre), 9,5 + 19 (90 Jahre) und 9,1 + 87 (63
Jahre)
Die vom Handelsblatt auf 124
Jahre alte Brücke wird von der Bahn also mit dem Alter von 63 Jahren
angegeben. Des Rätsels Lösung scheint: Die Brücke wurde 1946 nach
einer Sprengung der alten Brücke wiederaufgebaut. Der Zeitpunkt der
Bahnerhebung wäre dann aber das Jahr 2009 gewesen. Es gibt also
merkwürdige Unstimmigkeiten.
Die Brücke bei Bogen wurde deshalb
ausgewählt, weil der Bahnstrecke nach Bogen zum einen die Stilllegung
droht und zum anderen die Brücke für die Schifffahrt ein Ärgernis
darstellt. Damit sind wir mitten im Interessenkonflikt um die
Infrastruktur in Deutschland:
"Das 10.000-Einwohner-Städtchen
wäre dann vom Zugverkehr abgeschnitten. Bis Anfang der 1990er fuhr die
Bahn nach dem Halt in Bogen noch bis Miltach kurz vor der
tschechischen Grenze. Heute ist in Bogen Endstation. Die Stadt lebt
von der Autozulieferindustrie. Dingolfing mit seinem BMW-Werk ist nur
etwa 40 Kilometer entfernt. Würde der Bahnverkehr stillgelegt, wäre
Bogen mit einem Mal tiefste Provinz."
Die Kleinstadt
Bogen ist durch ihre 77 Ortsteile und die dadurch entstehende
Zersiedelung geprägt
JUNG, Alexander (2019): Ratlos im Rathaus.
Gerechtigkeit: Wie hoch die
Lebensqualität in Deutschland ist, hängt vor allem davon ab, wo man
wohnt. Reiche Städte überbieten sich mit günstigen Angeboten für ihre
Bürger. Arme Städte erhöhen die Gebühren. Der Abstand wächst,
in:
Spiegel
Nr.4 v. 19.01.
Während der vom Fälscher-Skandal
geplagte Spiegel auf 2058 Städte in Deutschland kommt, listet
Wikipedia 2056 Städte auf (Stand: 01.01.2019). Alexander JUNG
berichtet über das klamme Hagen, Bünde in Westfalen (Protest gegen
Beteiligung von Anwohnern an Straßenbaukosten), Kaiserslautern und
Geestland bei Bremerhaven.
In Zeiten, in denen der Soli
abgebaut werden soll, wird eine neue Kluft eröffnet:
"Die Trennlinie verläuft nicht
(...) zwischen alten und neuen Ländern. (...). Die Problemstädte
konzentrieren sich auf den Südwesten - dort, wo früher das ökonomische
Kraftzentrum der Republik lag: vom Ruhrgebiet bis ins Saarland."
Als Indikator für die Kluft werden
uns die Kassenkredite pro Kopf im Jahr 2016 angegeben. Als klamme
Städte werden uns
Pirmasens (Rang 1: 8.405 Euro), Oberhausen (Rang 2),
Kaiserslautern (Rang 3), Hagen (Rang 4), Mülheim (Rang 5), Zweibrücken
(Rang 6), Remscheid (Rang 7), Ludwigshafen am Rhein (Rang 8), Trier
(Rang 9) und Essen (Rang 10: 4.183 Euro) aufgelistet.
Die Gemeinde
Geestland wird uns als Vorzeigegemeinde vorgestellt:
"Geestland, rund 33.000 Einwohner,
ist vor vier Jahren durch die Fusion von Langen und Bederkesa sowie 14
weiteren Ortschaften entstanden. Flächenmäßig ist Geestland die
zehntgrößte Stadt in Deutschland, noch vor Dresden oder München: Der
geografische Mittelpunkt liegt auf einer Wiese. Es war die Finanznot,
die die Orte zusammenbrachte - und aus der sie sich befreien konnten.
Zunächst vereinbarten Langen und Bederkesa sogenannte Zukunftsverträge
mit Niedersachsen. Das Land übernahm drei Viertel der Kassenkredite,
insgesamt rund 25 Millionen Euro, dafür verpflichteten sich die
Städte, zehn Jahre lang keine Schulden zu machen. Dann schlossen sich
die Gemeinden zusammen zu »Geestland«, ein Kunstname. So sparen sie
Kosten und erhalten höhere Zuweisungen vom Land."
Gemeindefusionen gelten als
Nonplusultra des Neoliberalismus. Ostdeutschland zeigt jedoch die
Kehrseite solcher "Großgemeinden" und Kreisreformen. Die geplanten
Kreisreformen in Brandenburg und Thüringen könnten den
Regierungsparteien den Sieg bei den Landtagswahlen kosten und der AfD
Stimmengewinne einbringen. Gemeindefusionen per se sind kein
Heilmittel, sondern Notoperationen, die durch die neoliberale Politik
der letzten Jahre erzwungen werden. Ob Geestland ein Erfolgsmodell
ist, das lässt sich nicht schon nach vier Jahren sagen, sondern
erfordert langfristige Überprüfungen der Auswirkungen.
MORGENSTERN, Tomas
(2019): Mehr Altstadtleben mit weniger Autos.
Brandenburgs Städte buhlen um
Gäste, doch mehr Kraftverkehr wollen sie nicht,
in:
Neues Deutschland
v. 19.01.
JUNG, Hagen
(2019): Paradies für Autos statt für Urlauber.
Mecklenburg-Vorpommern: Wachsende
Verkehrsbelastung auf Usedom - Polen baut Unterquerung zwischen Wollin
und Swinousjscie,
in:
Neues Deutschland
v. 23.01.
SDIE. (2019):
Deutsche Innenstädte sind nur mäßig attraktiv.
Leipzig liegt in der Gunst der
Passanten vorne,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.01.
GASSMANN, Michael (2019):
Attraktivste Innenstädte liegen im Osten.
Eine große Umfrage zeigt, wo
Menschen am liebsten einkaufen und ins Café gehen. Unter den fünf
Gewinnern ist nur eine West-Stadt,
in:
Welt v. 24.01.
Im Gegensatz zur FAZ geht
Michael GASSMANN auch auf die fünf betrachteten Größenklassen und die
jeweiligen Gesamtsieger ein:
Größenklasse |
Gesamtsieger |
Großstadt über 500.000 Einwohner |
Leipzig |
Großstadt mit 200.000 - 500.000 Einwohner |
Erfurt |
Großstadt mit 100.000 - 200.000 Einwohner |
Trier |
Mittelstadt mit 50.000 - 100.000 Einwohner |
Stralsund |
Städte unter 50.000 Einwohner |
Wismar |
Die Auswahl der Studie ist jedoch
nicht repräsentativ, weil z.B. München und Berlin fehlen, bemängelt
GASSMANN. Besonders wird die Situation in Nordrhein-Westfalen
hervorgehoben:
"(U)nter den Gesamtsiegern (findet
sich)(...) keine einzige Stadt aus Nordrhein-Westfalen, obwohl das
bevölkerungsreichste Bundesland mit 32 teilnehmenden Städten die bei
weitem stärkste Gruppe stellt. Lediglich die Kleinstadt
Arnsberg-Nelheim aus dem Hochsauerlandkreis ragt in der Unterkategorie
»Angebotsvielfalt« in ihrer Größenklasse heraus."
Den Ostländern wird von GASSMANN
eine gute Position im "Rennen um die Zukunft der Innenstädte"
bescheinigt. Wer da einen Zusammenhang zum geplanten Soli-Abbau sieht,
dürfte nicht verkehrt liegen.
ROSS, Andreas (2019):
Orte der Rache.
Der größte EU-Verdruss entspringt
in deindustrialisierten Regionen - sagt eine EU-Studie,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.01.
Andreas ROSS stellt das Diskussionspapier
The geography of EU discontent von Lewis DIJKSTRA, Hugo
POELMAN und Andrés RODRÍGUEZ-POSE vor, das die EU-Kommission am 21.
Dezember letzten Jahres veröffentlicht hat.
ROSS stellt nur die Sichtweise des
Wirtschaftsgeographen
RODRÍGUEZ-POSE von der London School of Economics dar, die zugespitzt
wird: Den Wählern populistischer Parteien wird unterstellt, dass diese
vorwiegend diese Parteien wählen, weil sie ihre Lage als aussichtslos
sehen und deshalb die Profiteure des Systems mit in den Abgrund reißen
wollen. Als Feindbild wird uns die
untere Mittelschicht präsentiert, wobei den deindustrialisierten
Zonen das größte Rachepotenzial zugeschrieben wird.
Das Diskussionspapier selber bringt
keine überraschenden oder neuen Erkenntnisse, was daran liegt, dass
die Untersuchung oberflächlich ist. In Deutschland werden AfD und NPD
als europafeindliche Parteien eingestuft. Die Analyse der
Bundestagswahl 2017 beschränkt sich in Deutschland auf 299
Gebietseinheiten (Wahlkreise), was weniger als die über 400 Kreise und
kreisfreien Städte sind (vgl. Anhang 3). Die Analyse beschränkt sich
zudem auf 7 Kennzahlen, deren Einfluss auf die Wahlergebnisse
betrachtet wird. Aus deren zugeschriebener Signifikanz bzw.
Nicht-Signifikanz werden dann weitreichende Schlüsse auf die
Wählerschaft gezogen. Im Grunde hätten die Autoren genauso gut bereits
vorliegende nationale Studien zusammenführen können, statt unnötig
Geld für diese überflüssige Studie auszugeben.
DREISBACH, Sofia (2019):
In Löcknitz ist noch Leben.
Mecklenburg-Vorpommern: Auch im Nordosten Deutschlands
kämpfen Städte gegen den Wegzug junger Leute. Aber Löcknitz boomt. Das
liegt an der Nähe zur polnischen Grenze,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 29.01.
BURGHARDT, Peter (2019):
Herzlich willkommen.
"Wir sind 'ne blühende Landschaft
geworden. Anderswo verfallen Häuser." Aus dem Osten Deutschlands
wandern seit Jahren die Menschen ab, und die Alten sterben. Aber
Rettung naht. Denn immer mehr Polen leben jetzt hier,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 29.01.
HAHN, Thomas (2019): 4,50 Euro je Quadratmeter, maximal.
Während die Menschen in
Ballungsräumen über horrende Mieten klagen, hat Grimmen ein anderes
Problem: Leerstand und zu geringe Preise. Soll die Kleinstadt in
Mecklenburg-Vorpommern ihre verschuldete Wohngesellschaft verkaufen,
um marode Häuser zu sanieren?
in: Süddeutsche Zeitung v.
12.02.
BARTSCH, Michael (2019): Es liegt ein Grauschleier über dem "roten
Suhl".
Thüringen: In der DDR war die Kommune im
Thüringer Wald Bezirkshauptstadt. Nach der Wende verschwanden erst
Arbeitsplätze und dann Einwohner. Wie eine sterbende Stadt versucht,
sich trotzdem wieder aufzurichten,
in:
Neues Deutschland v. 25.02.
KNAPP, Gottfried (2019): Willkommen im Drei-Sterne-Dorf.
Baden-Württemberg: In dem kleinen
Schwarzwald-Ort Baiersbronn gibt es eine ungewöhnliche Dichte
ausgezeichneter Restaurants und Hotels. Und die Welt rätselt: warum
gerade hier?
in: Süddeutsche Zeitung v.
01.03.
IWH (2019)(Hrsg.): Vereintes Land – drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall.
Halle (Saale)
HENGER, Ralph & Christian OBERST (2019):
Alterung der Gesellschaft im Stadt-Land Vergleich.
Die Alterung der Gesellschaft in
den Großstädten ist vorrübergehend durch die Zuwanderung aus dem In-
und Ausland gestoppt. Dabei verstärken die Wanderungen junger
Bevölkerungsschichten in die Großstädte die Alterungsprozesse in den
Abwanderungsregionen. Auf die zunehmenden regionalen Unterschiede in
der demografischen Entwicklung bedarf es fallbezogene und abgestimmte
Antworten von Bund, Ländern und Kommunen.,
in:
IW-Kurzbericht
v. 04.03.
ECKERT, Daniel (2019):
Der neue Riss durch Deutschland.
Während Dörfer und Kleinstädte in
der Bundesrepublik vergreisen, ziehen junge Menschen in die
Metropolen. Das bringt Probleme mit sich,
in:
Welt
v. 04.03.
Die Welt präsentiert eine
Tabelle auf Basis eines IW-Kurzberichts
mit den 5 ältesten bzw. jüngsten Regionen in Deutschland, wobei ein
"mittleres Alter" angegeben wird, das jedoch nicht dem
Durchschnittsalter entspricht. Während z.B. das Statistische Landesamt
Baden-Württemberg für
Baden-Baden 47,4 Jahre im Jahr 2016 angibt,
kommt das IW Köln auf 47,1 Jahre. Für Suhl wird für das Jahr 2017 ein
mittleres Alter von 50,3 Jahren angegeben, während die
Stadt Suhl das Durchschnittsalter sogar mit 50,7 angibt.
Betrachtet man die fünf jüngsten
Regionen in Deutschland, dann befinden sich darunter auf den ersten
beiden Plätzen Großstädte in Baden-Württemberg mit vielen Studenten
(Heidelberg und Freiburg) sowie niedersächsische Landkreise mit hohen
Geburtenzahlen (Cloppenburg und Vechta). Die fünf ältesten Regionen
liegen dagegen in Thüringen und Sachsen-Anhalt. Hierfür sind
Abwanderungsprozesse aufgrund des Zusammenbruchs der Wirtschaft nach
der Wende verantwortlich, die durch die neoliberale Politik des
"Stärken stärken" zusätzlich befeuert wurden.
EISENRING, Christoph (2019):
Aufholprozess gegenüber Westen stockt.
Die ostdeutsche Wirtschaft fällt
trotz massiver Förderung nach wie vor ab,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 06.03.
Christoph EISENRING erklärt die
neoliberale Standortpolitik zu "mutigen Ansichten", die angeblich
Ostdeutschland voranbringen würde:
"IWH-Chef Rein Gropp (...) verweist
auf Subventionen, von denen überproportional die ländlichen Regionen
im Osten profitiert hätten. Wenn man staatliche Unterstützung daran
knüpfe, dass dort Arbeitsplätze erhalten oder geschaffen würden,
schwäche dies die Produktivität. (...) Man habe die Städte
vernachlässigt, weshalb der Aufholprozess ins Stocken geraten sei. Er
fordert ein Umlenken der Förderung auf die Städte, an denke an
Dresden, Leipzig, Halle, Magdeburg, Erfurt, Jena oder Rostock. Dort
gelte es die Infrastruktur zu verbessern, um junge Innovatoren
anzuziehen. (...).
Man brauche (...) erfolgreiche Städte, damit man dort genug
Wertschöpfung erwirtschafte, die man umverteilen könne."
Sachsen
ist ein Beispiel für das Scheitern dieser einseitigen Standortpolitik.
HAHN, Thomas (2019): Landlust, Landfrust.
Deutschland: Wer den
ländlichen Raum aufgibt, stärkt die Wutbürger und schwächt die
Optimisten,
in: Süddeutsche Zeitung v.
07.03.
Die kosmopolitische Stadtzeitung
entdeckt neuerdings die Hinterwäldler.
Lange Zeit wurde in
Landfragen nur das Reiner KLINGHOLZ-Institut zitiert. Nun ergießt
sich die Kritik über das IHW,
das auf der gleichen Linie argumentiert.
LÖHR, Julia (2019):
Die Boote des Anstoßes.
Mecklenburg-Vorpommern: Seit alle
Rüstungsexporte nach Saudi-Arabien gestoppt sind, steht Wolgast still.
Die Werftarbeiter sind in Kurzarbeit, der Stadt fehlt Geld. Über eine
ostdeutsche Kleinstadt, die zum Spielball der Weltpolitik geworden
ist,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 09.03.
HAHN, Thomas (2019): Stadt der Zukunftsangst.
Mecklenburg-Vorpommern: In
Wolgast hängen Hunderte Arbeitsplätze an den Ausfuhren nach
Saudi-Arabien,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 09.03.
NEU, Claudia (2019): Rettet die Dörfer und Quartiere!
Das Leibnitz-Institut für
Wirtschaftsforschung in Halle will ländliche Räume aufgeben - und
kritisiert eine Politik, die "gleichwertige Lebensverhältnisse"
schaffen will. Das Gegenteil ist richtig. Eine Politik des
Zusammenhalts ist kein moralisches Projekt, sondern eine
infrastrukturelle Aufgabe,
in:
WirtschaftsWoche
Nr.12 v. 15.03.
"Die »kalte Sanierung« ganzer
Regionen und Stadtteile durch eine Förderpolitik, die sich vor allem
am Leitsatz des »Stärken stärken«, an der dezentralen Konzentration
und der medienwirksamen Ausweisung von Modellprojekten orientiert, war
lange akzeptiert - bis die Wahlerfolge der AfD in altindustriellen
Gebieten des Westens und ländlichen Räumen des Ostens nicht mehr
wegzudiskutieren waren. Die Abgehängten und Verbitterten haben nach
langen Phasen resignativer Abstinenz wieder den Weg zur Wahlurne
gefunden. Die Peripherisierung und Deinfrastrukturalisierung ganzer
Räume verläuft offensichtlich doch nicht so folgenlos wie lange Jahre
von politischer Seite angenommen",
meint Claudia NEU, die zusammen mit
Jens KERSTEN und Berthold VOGEL im Jahr 2012 das Buch
Demografie und
Demokratie verfasst hat, in dem Horrorszenarien der
Schrumpfung als Legitimierung einschneidender Maßnahmen dienen. Nun
also schwadronieren die Autoren über eine "inklusive Politik des
Zusammenhalts". Wer wie NEU/KERSTEN/VOGEL von demografisch bedingten
Verteilungskonflikten ausgeht, statt von politisch und ökonomisch
bedingten Verteilungskonflikten, der dreht die Ursachenproblematik um.
IWD (2019): Hidden Champions: Die Starken aus der zweiten Reihe.
Mehr als 1.300 Hidden Champions
– kaum bekannte Weltmarktführer – machen die einzigartige Stärke der
deutschen Wirtschaft aus. In anderen Ländern ist dieser exportstarke
Unternehmenstypus, der zwischen Mittelstand und Konzern einzuordnen
ist, dagegen weniger verbreitet.,
in:
Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft v. 25.03.
MEINHOF, Renate (2019): Bedienung kommt gleich.
Mecklenburg-Vorpommern ist
mittlerweile das beliebteste Urlaubsziel der Deutschen. Es gibt nur
ein Problem: Kellner, Köche und Zimmerpersonal fehlen. Eine
Stellenausschreibung,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 04.04.
BERLIN-INSTITUT FÜR BEVÖLKERUNG UND ENTWICKLUNG (2019): Die
demografische Lage der Nation. Wie zukunftsfähig Deutschlands
Regionen sind.
BARTSCH, Matthias u.a. (2019):
Ein Land, zwei Welten.
Zukunft: Welche Regionen boomen,
welche veröden? Welche Rezepte gibt es gegen den demografischen
Wandel? Wissenschaftler haben ins Jahr 2035 geblickt. Ihre größte
Sorge: Die Babyboomer gehen bis dahin in den Ruhestand,
in:
Spiegel Nr.15 v. 06.04.
LASCH, Hendrik (2019): Aufbruch an der Blauen Flut.
Thüringen: Wie engagierte Bürger
mit dem "Stadtforum Altenburg" ein Gründerzeitviertel beleben,
in:
Neues Deutschland v. 12.04.
JUNG,
Hagen (2019): "Lila Bäcker" will über 70 Filialen schließen.
2.700 Beschäftigte stehen bei der
Kette in Lohn und Brot,
in:
Neues Deutschland
v. 23.04.
WSI (2019): Regionale Einkommen in Deutschland: In einigen Kreisen
höher als in Luxemburg, in anderen auf dem Niveau von Korsika.
Daten zu allen 401 Kreisen und
kreisfreien Städten,
in:
Pressemitteilung der Hans-Böckler-Stiftung v. 24.04.
Die Zeitung Neues Deutschland
titelte dazu: Arm wie Italien:
"Gelsenkirchen (ist) mit einem
durchschnittlichen verfügbaren Einkommen 16.203 Euro die ärmste
Gemeinde Deutschlands, gefolgt von Duisburg mit 16.881 Euro (...).
Halle (17.218 Euro), der Landkreis Vorpommern-Greifswald (17.303 Euro)
und Frankfurt/Oder (17.381 Euro). In diesen fünf Städten ist das
Einkommensniveau mit dem Italiens oder Korsikas vergleichbar",
erzählt uns Simon POELCHAU.
Tatsächlich geht es in der Studie jedoch nur um einen Vergleich von
401 Regionen, d.h. der Landkreise und kreisfreien Städte in
Deutschland. In den rund 11.000 Gemeinden in Deutschland könnte es
also jede Menge Gemeinden geben, die ein niedrigeres
durchschnittliches Einkommen im Jahr 2016 zur Verfügung hatten.
Hinzu kommt, dass eine paar sehr
reiche Bewohner in einer Region das Durchschnittseinkommen stark
verzerren können. Dazu heißt es in der WSI-Pressemeldung:
"Den bundesweit stärksten Anstieg
gab es in Heilbronn, wo das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen seit
der Jahrtausendwende real um 43 Prozent gewachsen ist (in den
vergangenen Jahren dann allerdings nicht mehr). Mit 32.366 Euro im
Jahr liegt die württembergische Stadt bundesweit an zweiter Stelle.
Allerdings dürften das hohe Durchschnittseinkommen und die kräftige
Steigerung seit der Jahrtausendwende auch damit zu tun haben, dass in
Heilbronn mit seinen etwa 125.000 Einwohnern mehrere sehr reiche
Personen gemeldet sind – darunter der Milliardär Dieter Schwarz, dem
der Handelskonzern Lidl gehört. Sehr hohe Einkommen von Einzelpersonen
erhöhen den allgemeinen Durchschnitt. Grundsätzlich gilt, dass das
Durchschnittseinkommen (arithmetisches Mittel) gegenüber Ausreißern
nach oben sehr empfindlich ist. Das wirkt sich in kleineren Städten
stärker aus als in Metropolen."
Im
WSI-Verteilungsmonitor von Eric SEILS & Helge BAUMANN heißt es
zur Entwicklung zwischen 2000 und 2016:
"(D)ie realen
Durchschnittseinkommen in 33 der 401 Kreise und Städte (sind) heute
niedriger als zu Beginn des letzten Jahrzehnts. Besonders bedauerlich
ist dies im Falle Offenbachs, wo die Pro-Kopf-Einkommen um 8,7 Prozent
gefallen sind. Offenbach (17.687 Euro) hat sich dadurch von einem
durchschnittlichen Kreis in eine der ärmsten Regionen Deutschlands
verwandelt. Große Abstriche bei den durchschnittlichen Einkommen
mussten auch die Einwohner der Stadt Ansbach (-6,25 Prozent)
hinnehmen, während der umliegende Landkreis Ansbach kräftige
Einkommenszuwächse (23 Prozent) verbuchen konnte. Im Ergebnis ist der
Landkreis (22.629 Euro) inzwischen wohlhabender als die Stadt Ansbach
(20.737 Euro), während es im Jahre 2000 noch umgekehrt war. In
Pforzheim sind die realen Einkommen der privaten Haushalte seit 2000
um durchschnittlich 5,4 Prozent gesunken und liegen aktuell bei 22.882
Euro pro Kopf."
Betrachtet man dagegen die Regionen
mit Verlusten genauer, dann fällt auf, dass sich darunter Baden-Baden
(- 5,3 %) und der Landkreis Starnberg (- 4,7 %). Beides kaum
Regionen, die zu den Armutsregionen gezählt werden können. Alle
Regionen befinden sich zudem in Westdeutschland. Neben den üblichen
Verdächtigen gehören auch Schwarmstädte dazu, was wohl daran liegt,
dass diese Städte durch einen hohen Anteil von Studenten
gekennzeichnet sind, deren Zahl sich erhöht hat. Die Spanne der
betroffenen Regionen liegt zwischen 16.203 Euro (Gelsenkirchen) und
34.987 Euro (Landkreis Starnberg)
Bei der Betrachtung der
Bundesländer muss zudem die Anzahl der Regionen mitberücksichtigt
werden. Bundesländer mit vielen Regionen können scheinbar höhere
Spannen zwischen Arm und Reich aufweisen als Regionen mit weniger
Regionen. Dies ist nicht nur bei diesem Indikator wichtig, sondern
auch bei anderen Rankings wie z.B. dem
Zukunftsatlas 2019.
Fazit: Bei der Betrachtung der
durchschnittlich verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen in den Regionen ist
Vorsicht bei der Interpretation der Fakten angebracht.
ECKERT, Daniel (2019):
Bevölkerungszahl im Osten fällt auf den Stand von 1905.
Zwar hat die ostdeutsche Wirtschaft
seit dem Ende der DDR stark aufgeholt. Doch das konnte die Abwanderung
von Millionen nicht stoppen. Die "Teilungslücke" wird Forschern
zufolge immer größer,
in: Welt
v. 13.06.
Die Welt bläst den dreiseitigen Zeitschriftenartikel
Die Wucht der deutschen Teilung wird völlig unterschätzt des
Ifo-Instituts Dresden zu einer "wirtschaftshistorischen Studie" auf.
Wie erregt man Aufmerksamkeit?
Indem man sich z.B. eine weit zurückliegende Jahreszahl ausdenkt und
dann behauptet, dass die Bevölkerung auf den Stand von 1905
zurückgefallen ist. Da denkt doch jeder: Welch ein Wahnsinn? Der
Wahnsinn ist jedoch, dass man mit solchen billigen
Taschenspielertricks Schlagzeilen machen kann und die Leser nicht
merken, dass sie verdummt werden! 2018 = 1905? Was war dann 2013?
Tabelle:
Bevölkerungsstand in den ostdeutschen Flächenländern
2013 und 2018 |
Bundesland |
Bevölkerung
Jahresende in Millionen |
Veränderung |
2013 |
2018 |
Brandenburg |
2,449 |
2,512 |
+ 0,063 |
Mecklenburg-Vorpommern |
1,597 |
1,610 |
+ 0,013 |
Sachsen |
4,046 |
4,078 |
+ 0,032 |
Sachsen-Anhalt |
2,245 |
2,208 |
- 0,037 |
Thüringen |
2,161 |
2,143 |
- 0,018 |
Gesamt |
12,498 |
12,551 |
+ 0,053 |
|
Quelle:
Statistisches Jahrbuch 2018,
Destatis-Pressemeldung v. 27.06.2019 |
Jetzt könnte jemand einwenden, dass
zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nur die Zahlen für 2017 bekannt
waren. Ein Jahr zuvor hatten die Flächenländer jedoch noch mehr
Einwohner als 2018, weil nur Brandenburg weniger Einwohner zu
verzeichnen hatte.
Fazit: Bereits in den vergangenen
Jahren hätte man genau die gleiche Schlagzeile veröffentlichen können
und sie wäre sogar richtiger gewesen.
ECKERT, Daniel (2019):
Warum der Osten nicht mehr aufholt.
In den neuen Bundesländern droht
ganzen Landstrichen die Entvölkerung. Ökonomen warnen dennoch vor
fehlgeleiteter Förderung,
in: Welt
v. 13.06.
Daniel ECKERT präsentiert uns die Sicht neoliberaler
Forschungsinstitute (IW und IWH) und eines FDP-Politikers. Ökonomen
und Politikwissenschaftler sprechen gerne von "Pfadabhängigkeit", wenn
sie eine Richtungsänderung in der Politik verhindern bzw. betreiben
wollen - je nach Interessenlage und Politikfeld.
WZB (2019):
Zuwanderung vor allem in arme Stadtviertel.
WZB-Studie zeigt große Unterschiede
bei sozialräumlicher Verteilung,
in:
Pressemitteilung Wissenschaftszentrum
Berlin
v. 05.07.
Pressemeldung zum
WZB-Diskussionspapier Wo findet „Integration“ statt? Die
sozialräumliche Verteilung von Zuwanderern in den deutschen Städten
zwischen 2014 und 2017 von Marcel HELBIG und Stefanie JÄHNEN. In
dem Diskussionspapier heißt es:
"Insgesamt finden wir in 13 der 86
Städte keinen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Ausländeranteile
von 2014 bis 2017 und der sozialen Zusammensetzung der Stadtteile.
Diese Städte befinden sich mit Ausnahme Hamburgs alle südlich der
Main-Linie oder direkt am Main. Auch jene Städte, für die mittlere
Zusammenhänge nachzuweisen sind (insgesamt 14), befinden sich auf
westdeutscher Seite größtenteils südlich des Ruhrgebiets. Städte mit
einem starken Zusammenhang liegen im Osten, Norden und Westen." (S.2)
Die Integration der betrachteten
Ausländergruppen wurde mittels SGB-II-Quote, also dem Anteil der so
genannten "Hartz IV-Empfänger", in sozial segregierten Stadtteilen
gemessen. Das Sample bestand aus 3.770 Stadtteilen in 86 Städten. Die
Auswahl der Städte ist der Datenlage geschuldet, was die Frage nach
der Repräsentativität aufwirft. HELBIG & JÄHNEN sehen einen
Zusammenhang zwischen hoher SGB-II-Quote und hohem Leerstand in den
Stadtteilen. Den Steuereinnahmen schreiben die Autoren eine wichtige
Rolle bei der Vermeidung von Segregationsprozessen, d.h. der Häufung
von SGB-II-Empfängern in benachteiligten Stadtteilen zu:
"Zwei Strukturmerkmale spielen bei
der sozialräumlich ungleichen Verteilung von Ausländern eine besondere
Rolle: die Steuereinnahmen und noch mehr der Wohnungsleerstand in den
Städten im Jahr 2014. Der Zusammenhang zwischen dem Anstieg der
Ausländeranteile und der sozialen Lage der Stadtteile ist vor allem
dort stark ausgeprägt, wo viel Leerstand existiert. Dies ist
ein Hinweis darauf, dass in Städten mit hohem Leerstand, der wohl
überwiegend in Stadtteilen mit niedrigen Mieten und höheren
SGB-II-Quoten zu finden ist, Ausländer vor allem in diesen Gebieten
Wohnraum gefunden haben."
Die besonderen Probleme in
Ostdeutschland sehen die Autoren zudem im Zuzug schlecht integrierter
Menschen aus Westdeutschland:
"Vor allem in den ostdeutschen
Städten erfolgt der Zuzug in die sozial benachteiligten Gebiete aus
anderen deutschen Kommunen" (S.2)
Die Entwicklung in Ostdeutschland
beschreiben HELBIG & JÄHNEN folgendermaßen:
"Analog zu Helbig und Jähnen (2018)
zeigt sich zunächst, dass die soziale Segregation (gemessen an den
SGB-II-Empfängern) in Ostdeutschland bereits 2005 höher als in
Westdeutschland war. Die soziale Segregation steigt dann in beiden
Landesteilen bis 2010 an und stagniert seitdem in Westdeutschland bzw.
geht nach 2015 sogar wieder leicht zurück. In Ostdeutschland hält der
Trend einer steigenden sozialen Segregation weiter an. Nach 2015 ist
es sogar noch zu einer Beschleunigung dieses Trends gekommen. 2017
befinden sich 9 der 10 Städte mit den höchsten Segregationsindizes in
Ostdeutschland (...). Zudem befinden sich 10 von 12 Städten, in denen
die soziale Segregation zwischen 2014 und 2017 am stärksten zugenommen
hat, im Osten." (S.15f.)
Aus der folgenden Tabelle sind die
12 Städte ersichtlich, in denen die soziale Segregation zwischen 2014
und 2017 am stärksten zugenommen hat:
Tabelle: Die
12 Städte mit dem höchsten Anstieg sozialer Segregation
2014 - 2017 |
Rang |
Land |
Stadt |
Stadttyp |
Wohnungsleerstand
im Jahr 2014 |
SGB-II-Quote
im Jahr 2017 |
Veränderung
SGB-II-Quote
2014 - 2017 |
1 |
Thüringen |
Jena |
Großstadt |
4 % |
39,2 % |
+ 7,3 % |
2 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Schwerin
(Landeshauptstadt) |
Mittelstadt |
12 % |
45,5 % |
+ 5,5 % |
3 |
Sachsen-Anhalt |
Halle an der
Saale |
Großstadt |
12 % |
40,0 % |
+ 4,6 % |
4 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Stralsund |
Mittelstadt |
9 % |
24,6 % |
+ 4,3 % |
5 |
Sachsen-Anhalt |
Magdeburg
(Landeshauptstadt) |
Großstadt |
10 % |
26,5 % |
+ 3,7 % |
6 |
Brandenburg |
Potsdam
(Landeshauptstadt) |
Großstadt |
3 % |
41,5 % |
+ 3,5 % |
7 |
Nordrhein-Westfalen |
Hagen |
Großstadt |
8 % |
33,4 % |
+ 3,3 % |
8 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Wismar |
Mittelstadt |
8 % |
21,7 % |
+ 3,2 % |
9 |
Nordrhein-Westfalen |
Gelsenkirchen |
Großstadt |
8 % |
19,4 % |
+ 3,1 % |
10 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Neubrandenburg |
Mittelstadt |
9 % |
35,2 % |
+ 2,8 % |
11 |
Sachsen |
Dresden
(Landeshauptstadt) |
Metropole |
4 % |
28,2 % |
+ 2,7 % |
12 |
Sachsen |
Leipzig |
Metropole |
8 % |
29,2 % |
+ 2,2 % |
|
Quelle:
WZB-Diskussionspapier, Tabelle Anhang, S.52ff.; eigene
Berechnungen |
Das Diskussionspapier ist nicht
zufällig vor der Pressekonferenz zu Maßnahmen zur Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse erschienen. Die Autoren plädieren für mehr
Bundeshilfe für finanzschwache Kommunen, die die hohen
Integrationskosten nicht alleine stemmen können. Der Fokus auf
Segregationsprozesse blendet den Zusammenhang zwischen den
Gentrifizierungsbemühungen der Städte mit den damit verbundenen
Verdrängungsprozessen und den Integrationsproblemen in den
benachteiligten Stadtteilen aus. Typisch für die blinden Flecken
dieser verengten Sicht sind die Ausführungen von Gerald WAGNER im
Artikel Wo Flüchtlinge auf Hilfsarbeiter treffen (FAS
07.07.2019):
"Dass es im Sinne einer
erfolgreichen Integration natürlich wünschenswert wäre, Flüchtlinge
und andere Zuwanderergruppen räumlich möglichst gleichmäßig zu
verteilen, scheitert an der städtischen Konzentration von bezahlbarem
Wohnraum. Die Folge ist, dass gerade sozial ohnehin benachteiligte
Stadtviertel und deren Bewohner auch noch mit den Integrationsaufgaben
im Übermaß belastet werden. Und zwar am deutlichsten in ostdeutschen
Städten, weil diese nach der Wiedervereinigung an Bevölkerung verloren
haben und deshalb über räumlich konzentrierte Viertel mit großem
Leerstand an billigem Wohnraum verfügten - jedenfalls bis vor 2016.
Das förderte seither die migrationsbedingte Armutssegregation, während
westdeutsche Städte vor einer solchen Armutskonzentration eher
verschont geblieben sind, weil es ihnen generell an Wohnungen
mangelt."
Zum einen werden Zuwanderergruppen
nicht verteilt, sondern suchen sich ihre Wohnquartiere - im Rahmen
ihrer Ressourcen- und Informationsausstattung - selber. Die
Wohnsituation in Ostdeutschland wurde in den Nuller Jahren per
Abrissbirne und Privatisierungsprozessen politisch gerahmt, ist also
politisch mit zu verantworten. Die Gentrifizierungsbemühungen der
Städte (Zielgruppe: kaufstarke Doppel-Karriere-Familie-Akademiker mit
Vorliebe für innenstadtnahe Wohnviertel) trafen zudem auf
Fehlprognosen zur angeblich stark schrumpfenden Bevölkerung und eine
Politik, die Marktprozesse verstärkte statt gegenzusteuern. Betrachtet
man die ostdeutschen Städte, dann handelt es sich vorwiegend um Städte
mit pittoresk sanierten Altstädten und innenstadtnahen Wohngebieten
mit Gründerzeitbauten, um die herum sich die problematischen
Plattenbausiedlungen aus DDR-Zeiten gruppieren. Jena, Potsdam und
Dresden hatten im Jahr 2014 einen geringen Wohnungsleerstand, weswegen
deren Situation anders zu bewerten wäre. Inwiefern die gefundenen
Zusammenhänge repräsentativ für die Situation in Ostdeutschland
ist, wird zu wenig hinterfragt.
RICKENS, Christian (2019): Aufholjagd der Schmuddelkinder.
Titelthema Zukunftsatlas: Der
Prognos-Zukunftsatlas zeigt: Die Problemregionen werden stärker, fast
überall entstehen Arbeitsplätze, und die Bevölkerung wächst wieder.
Der Dauraufschwung gefährdet vor allem alte Gewissheiten,
in:
Handelsblatt
v. 05.07.
LACHMANN, Harald (2019): "Eine sehr spezifische Kultur des
Miteinanders".
Sachsen: Das ostsächsische Zittau
hat die Talsohle durchschnitten und meldet wieder mehr Zu- als
Wegzüge,
in:
Neues Deutschland
v. 09.07.
BMI/BMEL/BMFSFJ (2019): Deutschlandatlas.
Karten zu gleichwertigen
Lebensverhältnissen,
in:
BMEL
v. 09.07.
GEIßLER, René (2019): Trotz Milliardenüberschüssen: Finanzkraft der
Kommunen driftet immer stärker auseinander.
Die Städte, Gemeinden und Kreise in
Deutschland haben in den Jahren 2017 und 2018 historische Überschüsse
erwirtschaftet. Dank anhaltend starker Konjunktur steigen Steuern,
Investitionen und Rücklagen, während die Kassenkredite schrumpfen.
Dennoch nehmen die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen starken und
schwachen Kommunen immer größere Ausmaße an,
in:
Pressemitteilung Bertelsmann-Stiftung
v. 10.07.
Die neoliberale
Bertelsmann-Stiftung stellt ihren neuen Finanzreport 2019 vor. Von
einer Annäherung der Regionen kann - trotz lang anhaltendem Aufschwung
- keine Rede sein. Steuereinnahmen und Verschuldung führen weiter zu
einer Polarisierung. Beim kommenden Abschwung könnte diese Situation
eskalieren. Im
Zukunftsatlas 2019 gehören
13 westdeutsche Kreise und kreisfreie Städte zu den
Klassenabsteigern, die sich unter den 58 strukturschwächsten Regionen
befinden. Ein Vergleich mit den 20 Kommunen mit den höchsten
Kassenkrediten im Jahr 2017 zeigt, dass sich darunter 6 der 13
Klassenabsteiger befinden.
Tabelle: Die
20 Regionen mit den höchsten Kassenkrediten je Einwohner
im Jahr 2017 |
Rang |
Land |
Region |
Kassenkredit
(Euro je Einwohner) |
Klassenstufe
(Rang)
Zukunftsatlas |
1 |
Rheinland-Pfalz |
Pirmasens (Klassenabsteiger) |
8.239 € |
7 (376) |
2 |
Nordrhein-Westfalen |
Oberhausen
(Klassenabsteiger) |
7.634 € |
7 (378) |
3 |
Rheinland-Pfalz |
Kaiserslautern |
6.834 € |
5 (221) |
4 |
Nordrhein-Westfalen |
Mülheim
a.d.Ruhr |
6.241 € |
5 (241) |
5 |
Nordrhein-Westfalen |
Hagen
(Klassenabsteiger) |
5.763 € |
6 (354) |
6 |
Nordrhein-Westfalen |
Remscheid |
5.314 € |
6 (323) |
7 |
Rheinland-Pfalz |
Zweibrücken |
5.228 € |
5 (230) |
8 |
Rheinland-Pfalz |
Ludwigshafen
a.Rhein |
4.638 € |
4 (139) |
9 |
Rheinland-Pfalz |
Kusel, Lkr
(Klassenabsteiger) |
4.222 € |
7 (387) |
10 |
Rheinland-Pfalz |
Trier |
4.178 € |
5 (218) |
11 |
Nordrhein-Westfalen |
Essen |
3.864 € |
5 (239) |
12 |
Nordrhein-Westfalen |
Wuppertal |
3.691 € |
5 (189) |
13 |
Rheinland-Pfalz |
Worms |
3.630 € |
5 (195) |
14 |
Nordrhein-Westfalen |
Herne
(Klassenabsteiger) |
3.605 € |
7 (357) |
15 |
Nordrhein-Westfalen |
Solingen |
3.374 € |
5 (301) |
16 |
Rheinland-Pfalz |
Frankenthal |
3.230 € |
5 (210) |
17 |
Saarland |
Saarbrücken
(Regionalverband) |
3.151 € |
6 (327) |
18 |
Nordrhein-Westfalen |
Mönchengladbach |
3.115 € |
5 (249) |
19 |
Rheinland-Pfalz |
Mainz |
3.114 € |
3 (45) |
20 |
Rheinland-Pfalz |
Birkenfeld, Lkr
(Klassenabsteiger) |
3.028 € |
6 (345) |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Finanzreport 2019, Kapitel D, S.13 |
Am Beispiel der hochverschuldeten
Stadt Pirmasens erklärt der Finanzreport welche vielfältigen Faktoren
dazu beitragen, dass eine Region in eine Abwärtsspirale gerät, aus der
sie aus eigener Kraft nicht mehr herauskommt (vgl. S.20f.).
Haushaltskrisen nehmen keineswegs ihren Ausgang bei demografischen
Entwicklungen, sondern ergeben sich durch ökonomische
Strukturprobleme, die durch politische Fehlentscheidungen auf den
unterschiedlichsten Ebenen über lange Zeiträume ungelöst bleiben.
Demografische Prozesse (z.B. Abwanderung von Fachkräften, vermehrte
Zuwanderung von Menschen, die auf soziale Unterstützung angewiesen
bleiben) begleiten dagegen nur den Niedergang von Regionen und
verstärken damit die politökonomische Problemlage. Der Finanzreport
2019 listet auch die 10 kreisfreien Städte mit der höchsten Quote an
Bedarfsgemeinschaften (SGB-II-Quote) als ein Armutsindikator auf:
Tabelle: Die
10 kreisfreien Städte mit der höchsten SGB-II-Quote im
Jahr 2017 |
Rang |
Land |
kreisfreie Stadt |
Anteil an
den bis
65-Jährigen |
Klassenstufe
(Rang)
Zukunftsatlas |
1 |
Nordrhein-Westfalen |
Gelsenkirchen
(Klassenabsteiger) |
24,7 % |
7 (371) |
2 |
Nordrhein-Westfalen |
Essen |
20,2 % |
5 (239) |
3 |
Niedersachsen |
Wilhelmshaven
(Klassenabsteiger) |
20,1 % |
7 (355) |
4 |
Sachsen-Anhalt |
Halle a.d.
Saale |
19,7 % |
6 (310) |
5 |
Nordrhein-Westfalen |
Herne
(Klassenabsteiger) |
19,3 % |
7 (357) |
6 |
Nordrhein-Westfalen |
Duisburg |
19,2 % |
6 (317) |
7 |
Niedersachsen |
Delmenhorst |
18,8 % |
6 (328) |
8 |
Nordrhein-Westfalen |
Mönchengladbach |
18,8 % |
5 (249) |
9 |
Nordrhein-Westfalen |
Dortmund |
18,7 % |
5 (255) |
10 |
Rheinland-Pfalz |
Pirmasens
(Klassenabsteiger) |
18,5 % |
7 (376) |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Finanzreport 2019, Kapitel E, S.7 |
Die Stadt Pirmasens befindet sich
als einzige kreisfreie Stadt sowohl unter den ersten 10 bei den
Kassenkrediten als auch bei der SGB-II-Quote. Je weniger Einwohner
eine kreisfreie Stadt bzw. je ländlicher eine Region ist, desto mehr
Einfluss haben kumulative, negative Risiken. Das
Schlagwort vom "demografischen Wandel" verschleiert
diese Vielfalt von Faktoren, die für die regionale
Auseinanderentwicklung von Regionen verantwortlich sind.
FRÖHLICH, Diana (2019): Genug gelobt.
HB-Serie Zukunftsatlas -
Aufsteiger Heilbronn (1): Die Region um Heilbronn ist wirtschaftlich
bärenstark - und gilt als ebenso langweilig. Mit dem Geld des
Lidl-Gründers wird die Stadt jetzt zum Unistandort geadelt, um junge
Talente zu locken,
in:
Handelsblatt
v. 10.07.
Diana FRÖHLICH berichtet weniger über die Stadt Heilbronn, deren
Profil uns präsentiert wird, sondern über den Regionalverband
Heilbronn-Franken. Dieser umfasst die freie Kreisstadt Heilbronn und
die umliegenden Landkreise Heilbronn, Hohenlohekreis,
Main-Tauber-Kreis und Schwäbisch Hall.
STERNBERG, Jan (2019): Im Osten was Neues.
Sachsen-Anhalt: Der Bund
will den abgehängten Regionen helfen. Die Menschen dort wissen,
was für sie am besten ist. Ein Besuch im Städtchen Tangerhütte,
in:
Frankfurter Rundschau v. 10.07.
Jan STERNBERG berichtet über
Tangerhütte und den Landkreis Stendal. Aber auch über
Wittenberge in Brandenburg:
"Wittenberge (...) 90 Kilometer
elbabwärts, Landkreis Prignitz in Brandenburg, Rang 395 im
»Prognos
Zukunftsatlas«. Wittenberge war Textil- und Nähmaschinenstadt
und ist immer noch Eisenbahnknotenpunkt zwischen Hamburg und
Berlin. Seit den 1980er Jahren hat die Stadt die Hälfte ihrer
Bewohner verloren, 17.000 sind es noch."
Dort arbeitet sich der
Bürgermeister Oliver HERMANN am schlechten Image der Stadt ab. Mit
dem mit 80.000 Euro aus Landesmitteln geförderten Projekt "Summer
of Pioneers" sollen "digitale Nomaden" angelockt werden:
"20 Kreativarbeiter aus den
Großstädten sollten ein halbes Jahr nach Wittenberge ziehen, zum
Probewohnen und Arbeiten. Für 150 Euro monatlich bekommen sie eine
Wohnung und einen Platz im Coworking-Space mit Elbblick (...). 60
Bewerbungen gab es (...). 20 von ihnen wurden ausgewählt, die
ersten sind am 1. Juli eingezogen."
DECKER, Markus (2019): "Wow, hier geht was!"
Brandenburg: Stephanie
Auras-Lehmann verließ als Jugendliche ihren Geburtsort in
Brandenburg, kam zurück und hilft nun anderen bei der Heimkehr,
in:
Frankfurter Rundschau v. 10.07.
WERMKE, Christian (2019): Karneval im Norden.
HB-Serie Zukunftsatlas -
Wachstumsregion Vechta (2): In keinem anderen Landkreis ist der
Geburtenüberschuss größer als in Vechta. Mit der Bevölkerung wachsen
aber auch die Probleme: Es mangelt an Bauland - und flexiblen
Betreuungsangeboten,
in:
Handelsblatt
v. 12.07.
Christian WERMKE die Probleme der Wachstumsregion Landkreis Vechta
folgendermaßen:
"Galt Vechta im Jahr 2016 noch als
Region mit »hohen Zukunftschancen«, ist sie nun nur noch eine mit
»leichten«. Um satte 60 Plätze ist der Landkreis im Ranking
abgestürzt. Nach wie vor exzellent schneidet Vechta bei der
Bevölkerungsentwicklung ab - neben den Städten München, Frankfurt am
Main, Freiburg und Offenbach ist Vechta der einzige Landkreis in den
Top fünf beim Geburtenüberschuss. Im Jahr 2017 kamen hier 1.547
Menschen zu Welt bei 1.131 Todesfällen. Das macht ein
Bevölkerungswachstum von gut 3,6 Prozent. Damit läge der Kreis selbst
in Afrika in der Spitzengruppe, weit vor Ländern wie Angola oder
Nigeria.
Der Geburtenüberschuss in den Großstädten liegt vor allem daran, dass
es überproportional viele junge Menschen in die Städte zieht, die ihre
Familiengründung erst noch vor sich haben. In Vechta kommt die
ungewöhnlich hohe Geburtenrate hinzu. Sie liegt bei knapp 1,9 Kindern
pro Frau - deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 1,57 Kindern pro
Frau."
In Niedersachsen hatten von den 45
Landkreisen und kreisfreien Städte nur 4 Regionen einen
Geburtenüberschuss: der Landkreis Vechta (+ 416), der Landkreis
Cloppenburg (+ 298), die kreisfreie Stadt Osnabrück und das Emsland.
in der Prognos-Broschüre Auf einen Blick heißt es dazu:
"In knapp 16 % der 401 Regionen
konnte die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung (Saldo aus
Geburten und Sterbefällen) gebremst werden. Jede zehnte Region weist
einen deutlich positiven Geburtenüberschuss auf. Dazu zählen
dynamische Großstädte wie München, Frankfurt am Main, Dresden oder
Potsdam, aber auch Landkreise wie Vechta, Erding, Eichstätt oder
Osnabrück. Dort führt die positive Bevölkerungsentwicklung und
Verjüngung zu einem überdurchschnittlich steigenden Bedarf an sozialer
Infrastruktur, insbesondere im Bereich der Kindertagesbetreuung sowie
der Erweiterung von Schulkapazitäten." (S.6)
Die genannten Regionen weisen
folgenden Geburtenüberschuss auf:
Tabelle:
Regionen mit Geburtenüberschuss im Jahr 2017 |
Land |
Region |
Geburtenüberschuss
(absolut) |
Geburtenüberschuss
(in %) |
Bayern |
München
(Landeshauptstadt) |
6.281 |
4,3 % |
Hessen |
Frankfurt a/M |
3.077 |
|
Sachsen |
Dresden |
999 |
|
Bayern |
Freising |
492 |
2,8 % |
Niedersachsen |
Vechta,
Landkreis |
416 |
|
Bayern |
Eichstätt,
Landkreis |
343 |
2,6 % |
Brandenburg |
Potsdam (Landeshauptstadt) |
313 |
|
Bayern |
Erding,
Landkreis |
298 |
2,2 % |
Niedersachsen |
Osnabrück,
Stadt |
77 |
|
|
Quelle:
Statistische Berichte der Landesämter Bayern, Hessen und
Niedersachsen |
Folgendes Profil wird uns für
Vechta präsentiert:
Tabelle:
Handelsblatt-Profil von Vechta |
Merkmal |
Zeitpunkt/Zeitraum |
Wert |
Deutschlandwert |
Rang |
Einwohnerentwicklung |
2014-2017 |
+ 3,6 % |
+ 2,1 % |
45 |
Arbeitslosenquote |
Ende 2018 |
3,3 % |
4,9 % |
137 |
BIP je SVB |
2016 |
86.407 Euro |
99.991 Euro |
299 |
Stärke:
Ausbildungsstellen |
2015/16 bis
2017/18 |
4,1 % |
|
28 |
Schwäche:
Veränderung Bedarfsgemeinschaften |
2014-2017 |
26,7 % |
|
308 |
Immobilienatlas: Wohnbaulücke |
k.A. |
0 % |
1,7 % |
|
|
|
Im
Zukunftsatlas 2004
bis 2019 wird uns folgende Entwicklung für Vechta präsentiert:
Tabelle:
Bewertung des Landkreis Vechta im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen) |
Klassen-
Stufe |
Gesamtrang |
Bereichsrang |
Demografie |
Lage/Wohlstand |
Arbeitsmarkt |
Innovation |
2004 (439) |
4 |
58 |
4 |
144 |
97 |
152 |
2007 (439) |
3 |
56 |
8 |
99 |
99 |
182 |
2010 (412) |
3 |
52 |
14 |
97 |
94 |
147 |
2013 (402) |
4 |
88 |
27 |
134 |
117 |
204 |
2016 (402) |
3 |
66 |
13 |
156 |
106 |
111 |
2019 (401) |
4 |
126 |
26 |
199 |
227 |
148 |
|
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2019: Prognos |
Von einem Absturz kann im Grunde
keine Rede sein, denn der Landkreis war bereits zwei Mal der
Klassenstufe 4 zugeordnet. Es könnte auch sein, dass die Bewertungen
des Jahres 2016 nicht der Realität entsprachen, da es Brüche bei den
einzelnen Bereichsrängen gibt. Kann also das Indikatorensystem
zukünftige Entwicklungen nicht adäquat abbilden?
SEIBEL, Andrea (2019):
Leerlaufende Landschaften.
Alle wollen in die Stadt. Damit
werden die Dörfer ihrer Lebensgrundlage beraubt. Einigen wenigen
gelingt der Selbsterhalt. Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse aber
ist eine Sackgasse, meint der Demograf Reiner Klingholz,
in:
Welt v. 13.07.
"Die Politik hat den schrumpfenden
ländlichen Raum lange nicht ernst genommen. Nach dem Motto: Wenn der
Letzte das Licht ausgemacht hat, brauchen wir uns ehe nicht mehr
kümmern. Aber dann hatte eine bestimmte, neue Partei in diesen
Regionen große Erfolge",
erklärt uns Reiner KLINGHOLZ, der
uns
2004 noch erklärte:
"Bis 2020 wird das Land etwa 700
000 Einwohner verlieren – nicht einmal ein Prozent also. Doch diese
Zahlen täuschen. Sie setzen voraus, dass weiterhin jährlich mindestens
200 000 Migranten zu uns kommen. Und sie sagen nichts über die Dynamik
der demografischen Veränderung. Denn ein Schwund, der einmal
eingesetzt hat, beschleunigt sich aus mathematischen Gründen immer
weiter".
Noch
2009 erklärte uns KLINGHOLZ, dass wir schrumpfen und deshalb die
Dörfer aussterben lassen sollen. Der Politiker Wolfgang TIEFENSEE
kritisierte diese Position im Artikel Der letzte macht das Licht
aus (FAS 04.07.2009). 2011 legte das Berlin-Institut von KLINGHOLZ
noch einmal mit der Broschüre
Die Zukunft der Dörfer nach. Jetzt gelten Dörfer als Pioniere
der Postwachstumsgesellschaft, denn Deutschland wird
fälschlicherweise weiterhin als stark schrumpfendes Land
beschrieben.
2013 entdeckt KLINGHOLZ dann die Vielfalt (Neoliberale sprechen
auch von Diversität) als Gegensatz zur Gleichwertigkeit der
Lebensverhältnisse, wobei suggeriert wird, dass Gleichwertigkeit
dasselbe sei wie Gleichheit. Tatsächlich ist das ein falscher
Gegensatz.
KLINGHOLZ möchte das Ausbluten der
Provinz aktiv fördern:
"Was wir schon vor Jahren gefordert
haben, war, Umzugswillige dabei zu unterstützen, aus schrumpfenden
Dörfern in die nächste mittlere Stadt zu ziehen. Denn in den Dörfern
leben häufig noch ein paar ältere Menschen, die es angesichts der
desolaten Versorgungslage immer schwerer haben. (...). Viele dieser
Menschen würden gerne wegziehen, aber sie können ihr Haus nicht mehr
verkaufen, weil es nichts mehr wert ist. Diese »Gefangenen im
Eigenheim« sollte man unterstützen, wenn sich dadurch ihre
Lebensbedingungen verbessern."
Das erinnert stark an die
Abwrackprämie für Autos, von der die Automobilindustrie profitierte.
Nun also eine Abwrackprämie für Eigenheime im Interesse der
Immobilienwirtschaft? Umzugswillige Alte? Alte Menschen ziehen nicht
einmal aus verstrahlten Gegenden ab, selbst wenn das gefördert wird!
Letztlich will KLINGHOLZ nichts
anderes als die Abwärtsspirale, die von Demografen und Neoliberalen
gerne bemüht wird, zu beschleunigen. Wirklich hilfreich ist dies
nicht.
BOLLMANN, Ralph (2019):
Hipster, ab aufs Land!
Die Bundesregierung will
benachteiligten Regionen helfen: mit Geld und schnellem Internet.
Dabei wäre etwas anderes viel wichtiger,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.07.
Ralph BOLLMANN hält die Vermittlung eines Lebensgefühls für wichtiger
als Geld und Infrastruktur, obwohl beides miteinander zusammen hängt.
Der US-amerikanische Guru Richard FLORIDA hat diese kosmopolitische
Sichtweise mit seinem Bestseller The Rise of the Creative Class
im Jahr 2002 popularisiert. Die "Schwarmstadt"
Leipzig gilt BOLLMANN
als Beispiel für die Richtigkeit dieser Sichtweise. Im Gegensatz zu
FLORIDA macht BOLLMANN nicht in erster Linie die Wichtigkeit der
Kreativen Klasse ("Akademiker"), sondern den demografischen Wandel für
die angebliche Umkehr des Kräfteverhältnisses zwischen Wirtschaft und
Arbeitskräften verantwortlich:
"(D)er demographische Wandel hat
die Verhältnisse umgekehrt. Nicht die Jobs sind es in erster Linie,
die vielerorts fehlen, sondern die Menschen."
Der demografische Wandel ist für
BOLLMANN jedoch kein unabwendbares Schicksal, sondern Auswuchs des
Lebensgefühls der Arbeitskräfte:
"Viele Berufsanfänger akzeptieren
sogar geringere Gehälter, um in der Stadt ihrer Träume leben zu
können, und sie nehmen dafür höhere Lebenshaltungskosten als auf dem
platten Land in Kauf.
Inzwischen geht der Trend eher dahin, dass die Jobs den Arbeitskräften
hinterherziehen und nicht umgekehrt."
Fakten hat BOLLMANN hierzu jedoch
nicht zu bieten. In den 1980er Jahren gab es den Begriff "privileged
Poor", der Selbstausbeutungsverhältnisse umschrieb, die darauf
gründeten, coole Jobs in coolen Städten anzunehmen. Man zog dorthin,
wo es coole Arbeit gab. Nun also soll das Flair einer Stadt, d.h.
kulturelle Freizeitangebote wichtiger sein als coole Jobs. Man darf
das sehr bezweifeln. BOLLMANN behauptet, dass es für den Zuzug nach
Leipzig keine rationalen Argumente gibt:
"Das Leipziger Gehaltsniveau liegt
noch immer deutlich unter dem deutschen Durchschnitt, kein einziger
Dax-Konzern hat seinen Sitz in der Stadt. Die Universität bietet in
vielen Fächern bestenfalls Mittelmaß, der Flughafen ist zwar wein
wichtiges Fracht-Drehkreuz, aber ohne wirklich relevante
Passagierverbindungen.
Beim Leipzig-Boom geht es nicht um Geld, sondern um ein Lebensgefühl."
Tatsächlich findet BOLLMANN dann
jedoch ganz "rationale" Argumente, die dem kosmopolitischen Milieu
entspringen:
"Sogar die Pendlerströme kehren
sich teilweise um. Finden Jungakademiker im Dreiländereck von Sachsen,
Thüringen und Sachsen-Anhalt eine Arbeitsstelle in einer schrumpfenden
Kommune, in der womöglich ein Drittel der Mitbürger die AfD wählt:
Dann nehmen sie ihren Wohnsitz bisweilen lieber in Leipzig und reisen
jeden Tag von dort an, weil das oft wunderschöne Stadtbild allein die
Kleinstädte nicht attraktiv genug macht."
Leipzig ist ein gutes Beispiel für
die Verlogenheit des Kosmopolitismus, denn die Stadt ist sozial
gespalten. Wissenschaftler sprechen von "sozialer Segregation".
Leipzig gehört zu den 12
Städten, in denen diese Spaltung zwischen 2014 und 2017 am stärksten
gestiegen ist, obwohl das Niveau vorher bereits hoch war. Die
Kosmopoliten leben dort (noch) auf ihrer Wohlfühlinsel, während die
AfD ringsherum zugewinnt. Die AfD kam in Leipzig bei der diesjährigen
Europawahl immerhin auf 25,2 % - ein Stimmenzuwachs um mehr als die
Hälfte (+16,2 %). Zur Kommunalwahl 2019 heißt es in der Leipziger
Volkszeitung:
"Die AfD gewann in zehn Ortsteilen.
In Liebertwolkwitz holte keine Partei mehr Stimmen. Die AfD verbuchte
im südöstlichen Zipfel der Stadt 28,3 Prozent der Stimmen. Das
bedeutete für die Partei gleichzeitig den Bestwert in Leipzig." (27.05.2019)
Die Schmuddelkinder wohnen also nur
in anderen Stadtteilen, aber in der selben Stadt. Und offenbar ist die
Europagegnerschaft in Leipzig wesentlich größer als das der Begriff "Kosmopolitismus"
ausdrückt, denn während die AfD bei der Kommunalwahl nur auf 14,9 %
kam, waren es bei der Europawahl über 10 % mehr. Was aber, wenn die
Kluft geringer wird?
BOLLMANN hat uns dagegen nur simple
Lösungen anzubieten:
"(D)ie Verfassung zwingt den Staat
nicht dazu, den Zuzug in die Metropolen auch noch zu fördern. Die
Erfahrung zeigt: Wenn das Leben dort nicht nur teurer, sondern auch
unattraktiver wird, weichen die Leute womöglich aus. So erklärt sich
der Erfolg von Leipzig auch aus den hohen Mieten in Berlin. Wer weiß:
Wenn es auch dort zu teuer geworden ist, zieht der Schwarm vielleicht
irgendwann weiter."
Leipzig unattraktiver machen, damit
die Provinz attraktiver erscheint? Der AfD könnte das helfen, um auch
in den Großstädten mit hoher Segregation noch erfolgreicher zu werden.
Sachsen gilt strammen Neoliberalen
immer noch als Musterknabe: Man stärkte die starken Metropolen und
ließ den Rest ausbluten. Die Folge beschreibt BOLLMANN folgendermaßen:
"Die AfD-Resultate bei der jüngsten
Bundestagswahl waren es auch, die das Thema auf die Agenda der
Bundesregierung gesetzt und die Gründung eines Heimatministeriums
bewirkt haben. Auch viele Bundesländer haben ihre Politik schon
korrigiert. Längst stellt zum Beispiel Sachsen, das seine Ausgaben mit
Blick auf die Demographie vorausschauend reduzierte, wieder
zusätzliches Personal ein."
Vorausschauend war Sachsen nicht!
Vielmehr bewirkten die falschen Annahmen der Amtsstatistiker, die
Neoliberalen sehr gelegen kamen, dass z.B. der Geburtenanstieg
verschlafen wurde. Als man durch die AfD wachgerüttelt wurde, war
die Misere längst eingetreten. Die Demographie ist nicht unser
Schicksal, sondern die Fehldeutungen und die damit verbundene
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme.
GAUTO, Anna (2019): Stehaufmännchen.
HB-Serie Zukunftsatlas -
Comeback Allgäu (3): Andere Städte haben Touristen, Studenten, einen
Autobahnanschluss. Doch mit schwäbischer Sparsamkeit und
Kämpfer-Mentalität ist Kaufbeuren zum Aufsteiger geworden - wie das
gesamte Allgäu,
in:
Handelsblatt
v. 15.07.
"Ganz ohne Autobahn, Flughafen und
Universität ist Kaufbeuren im Gesamtranking innerhalb von drei Jahren
um 106 Rangplätze von 188 auf Rang 82 geklettert. Damit verbessert
sich die 43.000-Einwohner-Stadt um zwei Zukunftsklassen und gehört
bundesweit zu den »Top-Aufsteigern« der Prognos-Studie.
(...).
Wer nach Ursachen fr diesen Aufschwung sucht, muss die »Fabrik der
Zukunft« der Firma Hawe Hydraulik besuchen, ein international tätiges
Hightech-Unternehmen für Hydraulik-Komponenten und -Systeme mit
Hauptsitz in München (...).
Über 600 Menschen arbeiten heute am Standort, die meisten aus
Kaufbeuren und Region. Wenn sich so eine Firma wie Hawe in einer
kleinen Stadt wie Kaufbeuren niederlässt, ist der Effekt groß, was
auch den gewaltigen Aufstieg im Zukunftsatlas erklärt",
meint Anna GAUTO. Ist das wirklich
ein "gewaltiger Aufstieg" oder zeigt das nicht eher im Gegenteil an,
dass die Trennschärfe der Klassifizierungen und das Indexsystem
ungeeignet ist, um regionale Entwicklungen aussagekräftig zu
beschreiben? Aus der folgenden Tabelle ist die Entwicklung von
Kaufbeuren zwischen 2004 und 2019 ersichtlich.
Tabelle:
Bewertung der bayerischen Stadt Kaufbeuren im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen) |
Klassen-
Stufe |
Gesamtrang |
Bereichsrang |
Demografie |
Lage/Wohlstand |
Arbeitsmarkt |
Innovation |
2004 (439) |
5 |
115 |
199 |
267 |
98 |
58 |
2007 (439) |
5 |
219 |
157 |
205 |
105 |
331 |
2010 (412) |
5 |
194 |
86 |
197 |
152 |
234 |
2013 (402) |
5 |
140 |
179 |
146 |
84 |
195 |
2016 (402) |
5 |
188 |
103 |
154 |
243 |
218 |
2019 (401) |
3 |
82 |
49 |
171 |
74 |
111 |
|
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2019: Prognos |
Eine Veränderung um viele
Rangplätze ist wenig aussagekräftig. Bereits im Jahr 2007 veränderte
sich Kaufbeuren um 104 Rangplätze. Die Stadt wechselte damals jedoch
nicht die Klassenstufe. Dies hängt damit zusammen, dass die
Klassenstufe 5 fast die Hälfte aller Regionen umfasste.
CREUTZBURG, Dietrich (2019):
Ländlichen Regionen geht der Berufsnachwuchs aus.
Studie sieht Abwärtsspirale: Junge
Menschen zieht es in die Städte, örtlich verankerte Fachkräfte gehen
in Rente,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 15.07.
Das neoliberale Institut der
Wirtschaft, das die Arbeitgeberinteressen vertritt, sorgt sich, dass
die Reservearmee an Arbeitskräften schrumpft, was hieße, die
Arbeitsbedingungen und Löhne verbessern zu müssen, um attraktiv zu
bleiben. Die FAZ präsentiert uns deshalb eine Darstellung von
Alexander BURSTEDDE & Dirk WERNER, die als "regionale Analyse des
Ausbildungsmarktes" vermarktet wird. Tatsächlich handelt es sich bei
dieser "Analyse" lediglich um die Zuordnung von "qualifizierten
Arbeitnehmern" zu Ausbildungsstellen einer Region und die Auflistung
der Akademikerquote.
Die Akademikerquote gibt dabei
lediglich den Anteil der Akademiker an den
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten am Wohnort zum 31.03.2018
wieder. Benötigt jedoch eine Region mit geringem Akademikerbedarf die
gleiche Anzahl von Akademikern wie Regionen mit hohem
Akademikerbedarf? Über den zukünftigen Bedarf wird überhaupt nichts
ausgesagt
Die Arbeitgeberlobby mit Zielgruppe
Akademiker verweist zum einen auf die Berlin-Institut-Studie
Die Zukunft der Dörfer und
verwendet auch den Empirica-Begriff
"Schwarmstadt".
BECKER, Kim Björn
(2019):
Mein Dorf, mein Krankenhaus.
Laut einer Studie soll mehr als
jede zweite Klinik geschlossen werden - das hätte gerade auf dem Land
gravierende Folgen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.07.
Kim Björn BECKER berichtet über
eine geplante Klinikschließung in der Mittelstadt
Iserlohn im nordrhein-westfälischen Sauerlandkreis.
KÖHN, Rüdiger (2019):
Siemens gibt Görlitz neue Hoffnung.
Sachsen: Der einst gefährdete Standort in
der Lausitz soll zu einem Zentrum für Wasserstofftechnologie werden,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16.07.
SPECHT, Frank (2019): Die Landflucht der Jugend.
Ausbildung: Junge Menschen zieht es
zunehmend in die Städte und ihr Umland, zeigt eine IW-Studie.
Unternehmen in ländlichen Regionen finden nur noch schwer Akademiker
oder Auszubildende,
in:
Handelsblatt v. 17.07.
"Der Firmensitz (Anm.: der Elektro
Schulz GmbH), die kleine Gemeinde
Möllenhagen, hat seinen Reiz durch die Nähe zur malerischen
Mecklenburgischen Seenplatte, aber sonst für junge Leute nicht viel zu
bieten. Der Landkreis hat seit der Wiedervereinigung mehr als ein
Fünftel seiner Bewohner verloren",
erzählt uns Frank SPECHT ein
Fallbeispiel, um die Aussagen des IW-Report
Von Abwanderung betroffene Arbeitsmärkte stärken von Alexander
BURSTEDDE & Dirk WERNER zu bebildern.
"Während beim Spitzenreiter
Heidelberg 44 Prozent der Beschäftigten einen Hochschulabschluss
haben, sind es beim Schlusslicht, dem Landkreis Wittmund bei
Wilhelmshaven, nur sechs Prozent",
erklärt SPECHT. Warum aber sollte
in einer Großstadt mit Eliteuniversität wie Heidelberg nicht
wesentlich mehr Akademiker wohnen als in einer touristisch geprägten
Region wie der Landkreis Mecklenburgische Seenplatte? Im IW-Report
wird zudem auf die mangelnde Datenlage verwiesen:
"Da Absolventen von
Aufstiegsfortbildungen und anderen hochwertigen nicht akademischen
Qualifikationen statistisch leider unzureichend erfasst werden, wird
lediglich der Akademikeranteil an den Beschäftigten einer Region auf
Kreisebene herangezogen" (S.6)
Angebot und Nachfrage müssen
stimmen, aber das wird im IW-Report gar nicht gemessen, sondern im
Handelsblatt nur suggeriert. Da ist ein Schaubild überschrieben
mit "Regionale Verteilung von Auszubildenden in Prozent der
Beschäftigten mit Ausbildung". Dagegen wird in der Fußnote darauf
verwiesen, dass es nur der Anteil sozialversicherungspflichtiger
Beschäftigter ist.
Zieht man die
Statistik für Mecklenburg-Vorpommern (31.03.2018) und hier für den
Landkreis Mecklenburgische Seenplatte (Tabelle 12, S.18) heran. Dann
gab es dort 96.218 sozialversicherungspflichtige Beschäftigte und
3.532 Auszubildende, was ca. 3,7 % entspricht. Betrachtet man dagegen
nur die Vollzeitbeschäftigten, dann läge der Anteil bei 5,2 %. Es ist
also auch eine Frage der Indikatorenauswahl, die einen
Fachkräftemangel belegen sollen.
Die Statistik gibt für die Kreise
zwar Auskunft über die Wirtschaftszweige, in denen die Beschäftigten
arbeiten, aber nicht über die Anzahl der Auszubildenden, die für diese
Wirtschaftsbereiche ausgebildet werden. Außerdem werden bei der
Betrachtung des Reports Wanderungen (Mobilität) nicht betrachtet.
Fazit: Die Zahlen, die geliefert
werden, sind nicht geeignet, um einen Fehlbedarf von Arbeitskräften in
den jeweiligen Regionen zu belegen.
SCHMOLL, Heike (2019):
Viel Geld und noch mehr Strahlkraft.
Wieso für die Hochschulen und
Universitäten von der Exzellenzentscheidung in dieser Woche noch mehr
abhängt als in der Vergangenheit,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.07.
Seit dem Jahr 2007 gibt es in
Deutschland Eliteuniversitäten. Im Jahr 2012 wurde erneut ausgewählt
und nun steht eine neue Entscheidung bevor, die die Eliteuniversitäten
noch dauerhafter vom Rest abheben soll. Aus der folgenden Tabelle sind
die Städte mit solchen Eliteuniversitäten ersichtlich.
Tabelle:
Städte mit Eliteuniversitäten |
Land |
Stadt |
Stadttyp |
Zeitraum |
Dauerhafte
Förderung
ab 2019 |
Nordrhein-Westfalen |
Aachen |
Großstadt |
2007 - 2019 |
Aachen |
Berlin |
Berlin |
Metropole |
2007 - 2019 |
Berlin |
Nordrhein-Westfalen |
|
|
|
Bonn |
Bremen |
Bremen |
Metropole |
2012 - 2019 |
|
Sachsen |
Dresden |
Metropole |
2012 - 2019 |
Dresden |
Baden-Württemberg |
Freiburg |
Großstadt |
2007 - 2012 |
|
Niedersachsen |
Göttingen |
Großstadt |
2007 - 2012 |
|
Hamburg |
|
|
|
Hamburg |
Baden-Württemberg |
Heidelberg |
Großstadt |
2007 - 2019 |
Heidelberg |
Baden-Württemberg |
Karlsruhe |
Großstadt |
2007 - 2012 |
Karlsruhe |
Nordrhein-Westfalen |
Köln |
Metropole |
2012 - 2019 |
|
Baden-Württemberg |
Konstanz |
Mittelstadt |
2007 - 2019 |
Konstanz |
Bayern |
München |
Metropole |
2007 - 2019 |
München |
Baden-Württemberg |
Tübingen |
Mittelstadt |
2012 - 2019 |
Tübingen |
|
Quelle:
Wikipedia |
Derzeit gibt es unter den Städten
mit Eliteuniversitäten mit Konstanz und Tübingen nur zwei
Mittelstädte, die beide zu Baden-Württemberg gehören. 2019 haben sich
Universitäten aus 18 Städten beworben. Darunter die Städte Bochum,
Bonn, Braunschweig, Hamburg, Hannover, Kiel, Münster und Stuttgart -
allesamt Großstädte oder Metropolen. Werden nun also die beiden
Mittelstädte der Zentralisierung der Forschungsförderung geopfert?
DEMLING, Alexander/MÜLLER, Anja/RICKENS, Christian (2019): Keine Lust
auf Risiko.
HB-Wochenendthema: Angst vor dem
Scheitern, fehlende Finanzierung, Bürokratie: In Deutschland gibt es
immer weniger Firmengründer. Gleichzeitig sterben die Unternehmertypen
alter Manier aus. Die Zukunft der Wirtschaft ist bedroht.,
in:
Handelsblatt v. 17.07.
Die Zukunft der Wirtschaft ist
bedroht? Das wollen uns DEMLING/MÜLLER/RICKENS belegen, u.a. mit dem
Gründungsmonitor 2019 der KfW-Bank mit dem Titel:
Gründungstätigkeit in Deutschland stabilisiert sich: Zwischenhalt oder
Ende der Talfahrt? Das Fazit der Experten:
"Die Veränderung der Planerquote
ist (...) ein guter Indikator für die Entwicklung der Gründerquote im
Folgejahr. Abgesehen von zwei Ausnahmen trafen die von der Entwicklung
der Planerquote ausgehenden Signale bisher zu. Ob sich letztlich die
gesamtwirtschaftliche Entwicklung oder die Entwicklung der Planerquote
als das richtige Signal für die Gründertätigkeit 2019 erweist, ist
abzuwarten. Die Frage »Zwischenhalt oder Ende der Talfahrt?« bleibt
also offen."
Es ist keine Neuigkeit, dass
deutsche Journalisten gerne über fehlende Unternehmertypen jammern.
Jede neue Generation ist bekanntlich unfähiger als die Vorangegangene.
"Da ist zum einen die Risikoscheu
der jüngeren Generation. Nur zwei Prozent der Hochschulabsolventen
denken an eine Gründung. Viel attraktiver scheint der öffentliche
Dienst zu sein, den immerhin fast zehn Prozent anstreben."
Ist das schlimm? Den neoliberalen
Umbau des Sozialstaats der 1990er Jahre begleitete bekanntlich das
Vollkaskomentalitäts-Verdikt. Und die Verkünder einer Berliner
Republik forderten bekanntlich ebenfalls mehr Unternehmer und weniger
Kleinbürgermentalität. Feindbild war die Bonner Arbeitnehmerrepublik.
DEMLING/MÜLLER/RICKENS brühen also lediglich kalten Kaffee neu auf!
Ganz am Schluss fordern die Autoren
sogar die Sicherheitsreißleinen bei Versicherungen und Pensionsfonds
zu beseitigen, damit diese die Altersvorsorgegelder in risikoreiche
Investments von "Venture-Capital-Fonds" anlegen dürfen. Die
Nationalsozialisten haben bekanntlich das Umlageverfahren der
Rentenversicherung bekämpft, um mit Hilfe der Kapitaldeckung Kriege
finanzieren zu können. Nichts anderes wollen nun unsere Neoliberalen,
um Wirtschaftskriege führen zu können. In Deutschland fehle die Not,
denn dann würde alles besser! Geht's noch?
STEINHARTER, Hannah (2019):
Dynamik in der Provinz.
HB-Serie Zukunftsatlas -
Berliner Umland (5): Teltow-Fläming im Süden von Berlin ist der
Top-Aufsteiger. Keine andere Region in Deutschland konnte ihre
wirtschaftlichen Zukunftschancen schneller verbessern,
in:
Handelsblatt
v. 19.07.
WR/DFG (2019): Entscheidungen in der Exzellenzstrategie:
Exzellenzkommission wählt zehn Exzellenzuniversitäten und einen
Exzellenzverbund aus,
in:
Pressemitteilung Wissenschaftsrat und Deutsche
Forschungsgemeinschaft v. 19.07.
RITZER, Uwe (2019): Turnhalle.
Wirtschaftsreport: Adidas hat kaum
noch etwas gemeinsam mit der Firma, die Adi Dassler vor 70 Jahren
gründete. Das zeigt sich vor allem in der neuen Konzernzentrale.
Zugleich versuchen sie in Herzogenaurach verzweifelt, die
Vergangenheit zu bewahren,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 19.07.
Uwe RITZER beschreibt den Wandel des in
Herzogenaurach gegründeten Familienunternehmen zum Global Player.
Herzogenaurach ist mit über 20.000 Einwohnern die größte Stadt im
bayerischen Landkreis
Erlangen-Höchstadt. Im
Zukunftsatlas 2019
rangiert der Kreis auf Platz 20 (Klassenstufe 2). Im Zukunftsatlas
2004 lag der Kreis noch auf Rang 44 (Klassenstufe 3). Im Bereich
soziale Lage & Wohlstand gehört er zu den 10 Besten (Platz 9). Der
Adidas-Konzern dürfte dazu einiges beigetragen haben.
NEIßE, Wilfried (2019):
Die Grundstückspreise steigen
weiter.
Brandenburg: In Kleinmachnow
kostete der Quadratmeter Bauland im vergangenen Jahr 680 Euro - mehr
als in Potsdam,
in:
Neues Deutschland v. 19.07.
Wilfried NEIßE berichtet über den am Donnerstag veröffentlichten
Grundstücksmarktbericht 2018 für Brandenburg. Zum Berliner Umland
werden vom Grundstücksmarktbericht folgende Gemeinden in Brandenburg
gezählt:
Tabelle:
Gemeinden im Berliner Umland in Brandenburg |
Landkreis/
kreisfreie Stadt |
Gemeinden |
Stadttyp |
Potsdam |
Potsdam
(Landeshauptstadt) |
Großstadt |
Barnim |
Ahrensfelde |
|
Bernau bei
Berlin |
|
Panketal |
|
Wandlitz |
|
Werneuchen |
|
Dahme-Spreewald |
Eichwalde |
|
Königs
Wusterhausen |
|
Mittenwalde |
|
Schönefeld |
|
Schulzendorf |
|
Wildau |
|
Zeuthen |
|
Havelland |
Brieselang |
|
Dallgow-Döberitz |
|
Falkensee |
|
Schönwalde-Glien |
|
Wustermark |
|
Märkisch-Oderland |
Altlandsberg |
|
Fredersdorf-Vogelsdorf |
|
Hoppegarten |
|
Neuenhagen
bei Berlin |
|
Petershagen/Eggersdorf |
|
Rüdersdorf
bei Berlin |
|
Strausberg |
|
Oberhavel |
Birkenwerder |
|
Glienicke/Nordbahn |
|
Hennigsdorf |
|
Hohen
Neuendorf |
|
Leegebruch |
|
Mühlenbecker
Land |
|
Oberkrämer |
|
Oranienburg |
|
Velten |
|
Oder-Spree |
Erkner |
|
Gosen-Neu
Zittau |
|
Grünheide
(Mark) |
|
Schöneiche
bei Berlin |
|
Woltersdorf |
|
Potsdam-Mittelmark |
Kleinmachnow |
|
Michendorf |
|
Nuthetal |
|
Schwielowsee |
|
Stahnsdorf |
|
Teltow |
|
Werder
(Havel) |
|
Teltow-Fläming |
Blankenfelde-Mahlow |
|
Großbeeren |
|
Ludwigsfelde |
|
Rangsdorf |
|
|
Quelle:
Grundstücksmarktbericht 2019, S.11 |
NIMZ, Ulrike & Antonie RIETZSCHEL (2019): "Zeigen, dass hier noch was
geht".
Sachsen: Was können West- und Ostdeutsche
aus der OB-Wahl von Görlitz lernen? Ein Disput zwischen Octavian Ursu
von der CDU, der nur mit Mühe gegen die AfD gewann, und dem Autor
Lukas Rietzschel,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 20.07.
LUIG, Arno (2019): Farce auf Schienen.
In seinem Heimatland Großbritannien
gilt Go-Ahead als "das schlechteste Bahnunternehmen". Ein Ruf, der
offenbar auch in Baden-Württemberg verpflichtet, wo der Konzern seit
Juni auf einigen Strecken fährt. So schlimm ist die Lage, dass
Verkehrsminister Hermann mit dem Geld seiner Bürger nun einen
"Lokführer-Pool" schaffen will - in ganz Europa sucht er dafür
Personal,
in:
Kontext:Wochenzeitung. Beilage der TAZ v. 20.07.
Vorabdruck aus dem Buch
Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn
von Arno LUIG. In dem Buchauszug geht es um den Privatisierungswahn
des Grünen-Verkehrsminister in Baden-Württemberg, der Chaos im
Nahverkehr zu verantworten hat. Baden-Württemberg zeigt, dass die
Grünen alles andere als eine zukunftsfähige Verkehrspolitik zu bieten
haben.
HENGER, Ralph & Michael VOIGTLÄNDER (2019): Ist der Wohnungsbau
auf dem richtigen Weg?
Aktuelle Ergebnisse des
IW-Wohnungsbedarfsmodells,
in:
IW-Report 28 v. 22.07.
Die neoliberale Lobbyorganisation
IW Köln hat wieder einmal den Wohnungsbedarf in Deutschland vermessen.
Solche Berechnungen sind nur so gut wie die dahinterstehenden Annahmen
zur Bevölkerungsentwicklung. Das Institut ist jedoch bekannt für
Prognosen nach
Gutsherrenart, d.h. die neoliberalen Interessen der
Zentralisierung (Motto: Die Starken stärken) bestimmen die Annahmen.
Die Angaben zu den Annahmen bleiben daher sehr unkonkret, wenn es
heißt:
"Die jetzige Neuberechnung
berücksichtigt unter anderem neue Bevölkerungsprognosen (Deschermeier,
2017), Leerstandszahlen (BBSR), sowie neue Wohnkonsumentwicklungen (SOEP
v34, 2019) und Baufertigstellungszahlen (Statistisches Bundesamt).
(...).
Die Veränderung der Bevölkerungszahl und -struktur wird mit den
Bevölkerungsfortschreibungen des IW (Deschermeier,
2017) und der Bertelsmann Stiftung (Loos
et al., 2015) abgebildet. Die Eckwerte setzt dabei die aktuellere
Bundesländerprognose von Deschermeier aus dem Jahr 2017, welche die
Rekordzuwanderung des Jahres 2015 und die sich abzeichnende hohe
Nettomigration in den Folgejahren berücksichtigt. Die
Netto-Zuwanderung wird dort anhand einer stochastischen Prognose
geschätzt und beläuft sich für den Zeitraum 2016 bis 2020 auf jährlich
570.000, für 2021 bis 2025 auf jährlich 248.000 und für 2026 bis 2030
auf jährlich 214.000. In Folge der Zuwanderung steigt die Bevölkerung
von aktuell 82,8 Mio. (Stand 2017) auf 83,9 Mio. im Jahr 2025, ehe sie
danach bis 2035 auf 83,1 Mio. zurückgeht. Die Bundesländerprognosen
von Deschermeier werden mit den Kreisprognosen der Bertelsmann
Stiftung verknüpft, so dass die altersdifferenzierten
Bevölkerungszahlen auf der Kreisebene mit denen der Länderebene
korrespondieren. Das Modell bildet die Jahre 2015, 2020, 2025 und 2030
ab.(...). Bis 2030 werden 71 Kreise mehr als 5 Prozent an Bevölkerung
gewinnen. Dies betrifft vor allem die Metropolen wie Berlin, Hamburg,
München oder Köln. Auch einige ostdeutsche Großstädte wie Leipzig oder
Dresden verzeichnen hohe Wachstumsraten. Gleichzeitig werden jedoch
auch 72 Kreise mehr als 5 Prozent an Bevölkerung verlieren, die sich
vor allem in den neuen Bundesländern befinden. Aber auch im Saarland,
dem südlichen Rheinland-Pfalz, den nördlichen Randgebieten von Bayern
und dem nördlichen Hessen ist mit einer rückläufigen Bevölkerung zu
rechnen. In 19 Kreisen ist sogar von einem Bevölkerungsschwund von
über 10 Prozent auszugehen (z. B. Suhl)." (S.4f.)
Regionalisierte
Bevölkerungsvorausberechnungen veralten in der Regel bereits nach 3
Jahren so sehr, dass sie unbrauchbar sind. "Prognosen" bis 2030 sind
daher lediglich Kaffeesatzleserei und suggerieren lineare
Zukunftsentwicklungen, die mit der Realität nichts gemein haben.
Bereits die Zuwanderungszahlen für
die Jahre bis 2020 liegen mit jährlich 570.000 über der tatsächlichen
Zuwanderung, d.h. der Wohnbedarf in den Großstädten wird überschätzt.
Zugleich werden Zahlen der Bertelsmann-Stiftung zugrunde gelegt, die
den Bevölkerungsrückgang jenseits der Großstädte überschätzen.
Das neoliberale Unternehmen
Empirica hat eine
Wohnungsmarktprognose 2019 - 2020 im Dezember 2018 veröffentlicht.
Dort werden immerhin 3 Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung
vorgestellt, jedoch zur Geburtenentwicklung nur eine, die mit 1,4
Kinder pro Frau überholt ist. Eine solche Prognose verfehlt also den
Bedarf für Familienwohnungen und zeigt einmal mehr, dass die
Berechnungen zur Wohnungsnachfrage - zumal auf Kreisebene - mehr als
kritisch sind und in erster Linie den Bedürfnissen der Auftraggeber
entsprechen.
Die Propaganda in den Medien
lautet: Zu wenig Wohnungsbau in den Städten (z.B. Michael Fabricius
"Stadtleben wird zur Utopie", Welt 23.07.2019). Aber stimmt das
überhaupt? Die Welt präsentiert uns eine Grafik, die nur
Großstädte und Metropolen auflistet. Der höchste Bedarf besteht
demnach in Kiel, wo nur 25 % des Bedarfs gedeckt ist. Potsdam, die
Landeshauptstadt von Brandenburg, hat dagegen zu viel Wohnungen gebaut
(102 %).
"Während in den großen Städten zu
wenig gebaut wird, gibt es auch Landkreise und Orte mit Bedarfsdeckung
von über 100 Prozent - wo also mehr gebaut wird als nötig. Dutzende
kleine und mittelgroße Städte sind darunter, etwa Bautzen, Calw oder
Passau",
erzählt uns FABRICIUS. Tatsächlich
handelt es sich bei
Bautzen nicht um die Stadt, sondern um den gleichnamigen Landkreis
in Sachsen (165 %). Auch Calw wird vom IW Köln nicht als Stadt,
sondern nur als Landkreis gelistet (160 %). Lediglich Passau wird vom
IW Köln zum einen als kreisfreie Stadt (151 %) und zum anderen als
Landkreis gelistet (137 %). FABRICIUS verbreitet also Fake-News!
Ein Blick auf die 401 betrachteten
Regionen zeigt ebenfalls ein anderes Bild. Aus der folgenden Tabelle
sind die 10 Regionen mit dem höchsten Bedarf bzw. dem höchsten
Wohnungsüberhang aufgeführt:
Tabelle: Die
10 Regionen mit höchstem Wohnungsüberhang bzw.
Wohnungsfehlbedarf in Deutschland |
Rang |
Land |
Region |
Regionstyp |
Stadttyp |
Verhältnis
Fertigstellungen (2016-2018)
zum Bedarf im Jahr 2020 |
1 |
Rheinland-Pfalz |
Speyer |
kreisfreie
Stadt |
Mittelstadt |
21 % |
|
2 |
Schleswig-Holstein |
Kiel |
kreisfreie
Stadt |
Großstadt |
25 % |
|
3 |
Thüringen |
Eisenach |
kreisfreie
Stadt |
Mittelstadt |
27 % |
|
4 |
Rheinland-Pfalz |
Frankenthal |
kreisfreie
Stadt |
Mittelstadt |
29 % |
|
5 |
Niedersachsen |
Braunschweig |
kreisfreie
Stadt |
Großstadt |
35 % |
|
6 |
Bayern |
Garmisch-Partenkirchen |
Landkreis |
|
37 % |
|
7 |
Hessen |
Main-Kinzig-Kreis |
Landkreis |
|
38 % |
|
8 |
Thüringen |
Saale-Holzland-Kreis |
Landkreis |
|
38 % |
|
9 |
Thüringen |
Gera |
kreisfreie
Stadt |
Mittelstadt |
39 % |
|
10 |
Thüringen |
Weimar |
kreisfreie
Stadt |
Mittelstadt |
40 % |
|
392 |
Hessen |
Schwalm-Eder-Kreis |
Landkreis |
|
|
277 % |
393 |
Nordrhein-Westfalen |
Höxter |
Landkreis |
|
|
283 % |
394 |
Rheinland-Pfalz |
Vulkaneifel |
Landkreis |
|
|
299 % |
395 |
Baden-Württemberg |
Kaiserslautern |
Landkreis |
|
|
303 % |
396 |
Bayern |
Coburg |
Landkreis |
|
|
319 % |
397 |
Rheinland-Pfalz |
Cochem-Zell |
Landkreis |
|
|
324 % |
398 |
Bayern |
Neustadt a.d.
Waldnaab |
Landkreis |
|
|
351 % |
399 |
Bayern |
Hof |
kreisfreie
Stadt |
Mittelstadt |
|
357 % |
400 |
Bayern |
Main-Spessart |
Landkreis |
|
|
392 % |
401 |
Bayern |
Rhön-Grabfeld |
Landkreis |
|
|
401 % |
|
Quelle:
IW-Report 28/2019, S.28ff; eigene Berechnungen |
Unter den 10 Regionen mit dem
höchsten Wohnraumbedarf findet sich in der Welt-Grafik einzig
Kiel. Leipzig mit 45 % gehört schon nicht mehr dazu. Auffällig ist,
dass insbesondere in Thüringen Wohnraumbedarf gesehen wird, während in
Bayern die höchsten Wohnraumüberschüsse bestehen. Erstaunlich ist,
dass sich die
"erschöpfte Stadt" Gera unter jenen Städten mit dem höchsten
Wohnraumbedarf befindet. Im
Zukunftsatlas 2019
belegt Gera Platz 366 (Klassenstufe 7).
MERSI, Frederick (2019): "Lokführer kann man sich nicht einfach
backen".
Bayern: Viele Landstriche in Bayern
fühlen sich abgehängt, da die Bahn sehr unzuverlässig ist,
in:
Neues Deutschland v. 22.07.
Nicht nur in
Baden-Württemberg, sondern auch in Bayern führt die Privatisierung
der Bahn zu Problemen:
"Das Zentrum von Eichstätt, der
Großen Kreisstadt, (...) hat seit dem 10. Juli kein Zug der
Bayerischen Regiobahn (BRB) mehr erreicht. Es fehlen Lokführer. In
Bayern können sie die Grünen noch als Oppositionspartei über die
Regierung empören. In Baden-Württemberg haben sie das Desaster auf der
Schiene mitzuverantworten.
"Durch die Privatisierung der
Bahnunternehmen und deren unterschiedlichen Fahrzeugtypen seien die
Einsatzgebiete für Lokführer im Nahverkehr immer kleiner geworden. Als
erstes eingeschränkt werden oft Strecken in ländliche Gebiete. Dort
sind meist weniger Fahrgäste betroffen. Das sei auch ein Grund,
weshalb die BRB zwischen Eichstätt und Ingolstadt auf Busse und Taxis
setze, so ein Sprecher",
schreibt Frederick MERSI.
GREIVE, Martin (2019): Schuldenschnitt für Pleite-Kommunen.
Kommunale Selbstverwaltung:
Ökonomen unterstützen die Pläne von Finanzminister Scholz,
verschuldeten Kommunen ihre Altschulden zu erlassen,
in:
Handelsblatt v. 23.07.
Die neoliberale Lobbyorganisation
IW Köln hat Vorstellungen für die Altschuldenlösung, die im Interesse
der Arbeitgeber sind. So soll die Gewerbesteuer abgeschafft werden und
dafür eine höhere Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuer
erfolgen. Nach einer wirklichen Problemlösung sieht das eher nicht
aus, denn dazu wären radikalere Lösungen erforderlich. Statt Kommunen
zu bestrafen, die "schlechte Risiken" nicht durch Gentrifizierung über
die Gemeindegrenzen entsorgen können, sollten "schlechte Risiken"
durch finanzielle Umverteilung solidarisch getragen werden, dann würde
sich auch das Problem der sozialen Segregation besser lösen lassen.
KÖCHER, Renate (2019):
Das ostdeutsche Identitätsgefühl.
In Ostdeutschland verstärkt sich
das Empfinden, abgehängt zu sein. Das schlägt sich in den
Parteipräferenzen nieder,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.07.
Renate KÖCHER hat mit Allensbach abgefragt, was die Menschen in
Deutschland aus der Medienberichterstattung gelernt haben und wundert
sich, dass das genau dem entspricht, was die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme in den Köpfen der Ostdeutschen angerichtet
hat. Neoliberalismus und Nationalkonservatismus haben zur
Ursachenumdeutung beigetragen. In dieser Umkehrung der Ursachen ist
nicht der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaftsstruktur, sondern
die dadurch verursachte Abwanderung, also die Demografie das Problem.
Es wundert also kaum, dass die Ostdeutschen in
der Demografie ihr Schicksal sehen. Jahrzehntelange
Medienberichterstattung und die neoliberalisierten Regierungsparteien
im Osten haben die Wirkung nicht verfehlt. Genauso absurd ist die
Gegensatzbildung zwischen Nation und "ostdeutscher Identität":
"Ostdeutsche Anhänger der AfD und
der Linken sind in hohem Maße von diesem spezifisch ostdeutschen
Identitätsgefühl geprägt, während sich die Anhänger der anderen
Parteien mit großer Mehrheit primär mit der Nation identifizieren. So
sehen sich rund zwei Drittel von diesem primär als Deutsche, während
59 Prozent der Anhänger der Linken und 62 Prozent der ostdeutschen
AfD-Anhänger sich in erster Linie als Ostdeutsche sehen."
Die Fragestellung ist schon allein
deshalb abwegig, weil Deutschsein und Westdeutschsein im Grunde
dasselbe meint, da Ostdeutschland nie mehr als ein Beitrittsgebiet
war. Aber dies zu hinterfragen, ist keine Sache von
Nationalkonservativen.
Aufschlussreicher sind die
Ansichten von KÖCHER zur Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, die
in der Interpretation der Umfrageergebnisse deutlich mitschwingen:
"Die Politik kämpft mit der durch
das Grundgesetz legitimierten Erwartungshaltung, dass alles getan
werden muss, um in allen Regionen Deutschlands gleichwertige
Lebensverhältnisse sicherzustellen. 61 Prozent der Bürger unterstützen
diese Forderung, in Ostdeutschland 77 Prozent. Entsprechend breit wird
der Vorschlag abgelehnt, die Förderung verstärkt auf die
wirtschaftlich starken Regionen zu konzentrieren und die Förderung der
schwächeren Regionen zurückzufahren. Nur 13 Prozent befürworten den
Vorschlag, 68 Prozent sehen ihn kritisch, in Ostdeutschland 86
Prozent. Auch wenn argumentiert wird, dass die Förderung
wirtschaftlich starker Regionen das Potential hat, auf das Umfeld
auszustrahlen und Wachstumsimpulse zu geben, wächst die Unterstützung
nur von 17 Prozent. Knapp zwei Drittel halten dagegen, dass gerade die
schwachen Regionen gefördert werden müssten, damit sie nicht ganz den
Anschluss verlieren."
Im Subtext für die Eliten heißt
das, dass die Eliten andere Argumente vorbringen sollen, damit die
Zustimmung zur neoliberalen Politik der Förderung der Starken und der
Vernachlässigung der Schwachen wächst.
Im
Zukunftsatlas 2019
wird im neoliberalen Ökonomie- und Journalistensprech von "Spill-over-und
Tripple-down-Effekten" gesprochen. Dieses Argument verfängt jedoch bei
der Bevölkerung nicht, stattdessen hat sie die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme bereits mit der Muttermilch aufgesogen,
weshalb die Demografieargumente zur selbsterfüllenden Prophezeiung
geworden sind. Nicht der Strukturzusammenbruch der Wirtschaft stehet
am Anfang der Misere, sondern deren demografischen
Begleiterscheinungen, die als "Teufelskreis" oder "Abwärtsspirale" die
Köpfe verwirrt:
"Es ist ein Teufelskreis: Die
Abwanderung der letzten Jahrzehnte hat zu einer ungewöhnlich raschen
Alterung und gleichzeitig Ausdünnung insbesondere der ländlichen
Regionen geführt; damit wird es schwieriger, die Infrastruktur
aufrechtzuerhalten, sei es die Abdeckung mit Schulen oder die
medizinische Versorgung; die Attraktivität als Standort für den Handel
wie Produktionsbetriebe sinkt, was den Wegzug weiter antreibt. Auch in
Ostdeutschland gibt es durchaus vitale Zentren (...). Es sind jedoch
zu wenige, und die Entwicklung in den übrigen Regionen drückt viele
nieder."
In Sachsen kann man exemplarisch
die Verwüstungen dieser neoliberalen Propaganda studieren: Jenseits
von Dresden und Leipzig herrscht die Verwüstung. Der jetzige
Ministerpräsident Michael KRETSCHMER stand für diese Politik als
Generalsekretär. Seit der Ministerpräsident ist, hat er das abgehängte
Land entdeckt, weil ihm die AfD im Nacken sitzt. Wem glaubt man also?
Denjenigen, die nun ein wenig Geld in die vernachlässigten Regionen
schaufeln? Oder denjenigen, die dafür gesorgt haben, dass dies
überhaupt geschieht? Die Quittung gibt es im September bei der
Landtagswahl!
"(Es) hängt viel
davon ab, dass die existierenden vitalen Zentren weiter wachsen und
ihren Radius vergrößern",
erklärt uns KÖCHER das, was als
"Spill-over-und Tripple-down-Effekte" bezeichnet wird. Es ist völlig
verfehlt, auf die existierenden Zentren zu setzen, statt neue vitale
Zonen zu schaffen. In Sachsen, dem neoliberalen Vorzeigeostland, ist
diese Politik radikal gescheitert und hat die AfD stark gemacht. Aber
offenbar hofft man darauf, dass eine CDU/AfD-Koalition einfach so
weitermachen könnte wie bisher, wenn dort die "Gemäßigten" also
Neoliberale und Nationalkonservative die Macht an sich reißen könnten.
DESTATIS (2019): Armutsgefährdung 2018 in Bayern am geringsten, in
Bremen am höchsten.
Alleinerziehende und ihre
Kinder sind am stärksten von Armut bedroht,
in:
Pressemitteilung
Statistisches Bundesamt Wiesbaden
v.
25.07.
Die taz titelt einen Tag
später: "Die Ost-West-Schere wird kleiner". Dort heißt es aber auch:
"(L)ediglich das Sorgenkind
Bremen liegt mit einer Armutsgefährdungsquote von 22,7 Prozent vor den
ostdeutschen Bundesländern",
erzählt uns David RUTSCHMANN in
dem taz-Artikel. Verschwiegen wird jedoch, dass in Bremen die
Armutsgefährdungsquote zwischen 2015 und 2018 um 2,1 Prozent gesunken
ist und nun nur noch 0,4 Prozent über dem Wert von 2005 liegt.
FRICKE, Christiane (2019): Das Wunder von Bamberg.
Bayern: Fleißige Händler haben die
Antiquitätenwochen zum Erfolg geführt. Jetzt proben sie den
Schulterschluss mit der Gegenwartskunst,
in:
Handelsblatt v. 26.07.
Während Christiane FRICKE
letztes Jahr
noch ausführlich auf die Bedeutung der Antiquitätenwochen und des
Kunsthandels für Bamberg einging, beschränkt sich dies dieses Jahr auf
den Satz:
"Bamberg ist immer noch die
Hochburg des Antiquitätenhandels - deutschlandweit."
GAMMELIN, Cerstin (2019): Ende Gelände.
Wirtschaftsreport: Im Osten der
Lausitz stand einst das größte Energiekombinat der DDR. Den Fall der
Mauer hat es nicht überlebt. Heute gibt es immerhin noch einen echten
Exportschlager - zumindest bis 2038. Und dann?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 27.07.
JUNG, Alexander (2019):
Rüber und retour.
Deutscher Osten I: Seit der Wende
lautete für Millionen Ostdeutsche die Devise "Go West", dort waren die
Jobs. Jetzt kehren erstmals mehr Bürger in die neuen Länder zurück als
fortziehen - weil die Sehnsucht nach der Familie groß ist und
Fachkräfte dringend gesucht werden,
in:
Spiegel Nr.32 v. 03.08.
Vor den Wahlen in Ostdeutschland sind angesichts der Umfragen zur AfD
positive Meldungen gefragt. Aber wie aus einer Mücke einen Elefanten
machen?
"Zwischen 1991 und 2017 zogen rund
3,7 Millionen Bürger aus dem Osten fort. Im selben Zeitraum kamen 2,5
Millionen aus dem Westen in die neuen Bundesländer. Unter dem Strich
büßten die ostdeutschen Flächenländer rund 1,2 Millionen Einwohner ein
(...). Es verschwand zwar keine ganze Generation, wie manchmal
behauptet wird, doch wer fortzog, war häufig besonders qualifiziert,
ambitioniert und mobil, geografisch wie geistig.
Die erste Welle startete gleich nach der Wende. Damals waren es
überproportional viele junge Frauen (...). Eine zweite Hochphase
folgte in den Nullerjahren (...). Die Bürger, gerade die jüngeren,
verließen insbesondere die peripheren Lagen Ostdeutschland. (...).
Seit einigen Jahren nun schwindet die Anziehungskraft, die der West
ausgeübt hat",
erklärt uns Alexander JUNG, der uns
die Einschätzung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung
präsentiert. Ein
Plus von 4.000 Menschen
im Jahr 2017 wird uns als Trendwende
verkauft. Ausgerechnet
Sachsen
und
Brandenburg (Wahlen!) hätten am meisten profitiert. Die Datenlage
ist jedoch miserabel:
"Aktuelle Zahlen, wie viele der
Ostzuzügler tatsächlich Rückkehrer sind, gibt es nicht. Doch laut
einer Erhebung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
sind von den rund 324.000 Ostbürgern, die zwischen 2000 und 2012 in
die alten Länder übersiedelten, nur rund 53.000 wieder zurückgegangen,
das ist jeder Sechst. Diese Gruppe verbrachte im Schnitt 3 Jahre im
Westen".
Bei diesen Zahlen handelt es sich
also um Angaben zur zweiten Welle der Abwanderung, während die erste
Welle viel umfangreicher war.
"In den Westen wegen der Arbeit,
aus privaten Gründen zurück, das ist das typische Muster der neuen
West-Ost-Wanderer",
wird uns mitgeteilt. Die Rückkehrer
werden in drei Gruppen untergliedert:
- Männer und Frauen Anfang 30, die
eine Familie gegründet haben (größte Gruppe)
- Fünfzig Plus, die sich um ihre alte Eltern kümmern wollen bzw. ihr
Haus erbten
- Senioren, die in die vertraute Umgebung zurückkehren, um dort den
Lebensabend zu verbringen.
Am Ende des Artikels kommt dann
jedoch die Ernüchterung:
"Die 'Ballungszentren, insbesondere
Leipzig, gewinnen Einwohner hinzu, die Provinz blutet förmlich
aus. In allen fünf ostdeutschen Flächenländern wird die
Bevölkerungszahl in den kommenden 15 Jahren zudem voraussichtlich
zurückgehen, weil die Geburtenrate niedrig ist. Einzelne Regionen
werden wohl ein Drittel der Erwerbsfähigen verlieren. Diese Lücke wird
auch die aktuelle Rückkehrerbewegung nicht schließen können."
Der neoliberale Ökonom Joachim
RAGNITZ, der schon aufgrund seiner Interessenlage zum Pessimismus
neigen muss, prognostiziert daher zwar den Stopp der Abwanderung, aber
eine weitere Bevölkerungsschrumpfung im Osten. Bekanntlich hat sich in
den letzten Jahrzehnten die Mehrzahl der Prognosen in Wohlgefallen
aufgelöst!
HÜTHER, Michael/SÜDEKUM, Jens/VOIGTLÄNDER, Michael (2019): 19 Mal
akuter Handlungsbedarf.
Regionalentwicklung: Deutschlands
Metropolregionen boomen, während der ländliche Raum und der Osten
darben? Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)
in Kooperation mit Wissenschaftlern vier deutscher Hochschulen wollte
es genauer wissen. Das Ergebnis: 19 von insgesamt 96 deutschen
Regionen haben Probleme. Längst nicht alle liegen in Ostdeutschland
oder auf dem platten Land,
in:
Pressemitteilung IW Köln v. 08.08.
Das neoliberale Institut der Deutschen Wirtschaft reagiert mit der
Broschüre Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen
Vielfalt und Gleichwertigkeit auf den Niedergang des progressiven
Neoliberalismus und den Erfolg der AfD. Um den wirtschaftsliberalen
Interessen ein wenig Glanz zu verleihen, wurden neben den üblichen
institutseigenen Wissenschaftlern auch 4 Autoren verpflichtet, die an
Hochschulen lehren, so der Ökonom Jens SÜDEKUM, der Soziologe Rolf G.
HEINZE, der Rechtswissenschaftler Wolfgang KAHL und der Raumplaner
Peter DEHNE.
Statt wie üblich werden nicht 401
Kreise und kreisfreie Städte betrachtet, sondern 96
Raumordnungsregionen. In den Medienberichten wird dies ignoriert
und stattdessen so getan, als ob Landkreise und kreisfreie Städte
betrachtet worden wären. Die Begründung der Regionsauswahl ist den
wirtschaftsliberalen Lobbyinteressen geschuldet, die sich an den Bund
und nicht an die Länder richten (vgl. S.92).
Im Artikel Gefährliche
Abwärtsspirale von Silke KERSTING (Handelsblatt 09.08.2019)
heißt es:
"19 von Insgesamt 96 deutschen
Regionen haben Probleme, in sechs Regionen ist die Lage sogar
auffallend schlecht, darunter Duisburg, Saar, Bitterfeld-Wittenberg
und Oberlausitz. (...).
Mit Blick auf die Wirtschaft liegen die Schlusslichter in
Westdeutschland. Besonders düster sieht es in den Ruhrgebietsregionen
Duisburg/Essen und Emscher-Lippe sowie Bremerhaven aus. (...)
Ostdeutschland hat vor allem ein Demografie-Problem. »Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg,
Lausitz-Spreewald, Oberlausitz-Niederschlesien sowie Ost- und
Südthüringen weisen ein hohes Durchschnittsalter der Bevölkerung auf,
das in den vergangenen Jahren auch noch überproportional gestiegen
ist«, heißt es in der Studie. (...).
Bei der infrastrukturellen Entwicklung (...) stehen (...) erneut die
drei westdeutschen Regionen Emscher-Lippe gemeinsam mit Trier und der
Westpfalz."
Aus der folgenden Tabelle sind die
Raumordnungsregionen mit ihren zugehörigen Landkreisen bzw.
kreisfreien Städten der 19 gefährdeten Regionen in Deutschland
ersichtlich. Zudem wird für die Landkreise bzw. kreisfreien Städte die
Bewertung der Regionen im
Zukunftsatlas 2019
angegeben.
Tabelle: Die
19 gefährdeten Raumordnungsregionen in Deutschland im
Vergleich mit dem Zukunftsatlas 2019 |
Rang |
Land |
Raumordnungsregion (Nr.) |
Landkreis/
kreisfreie Stadt |
Gefährdungs-
Punkte |
Rang (Klasse)
im
Zukunftsatlas
2019 |
1 |
Sachsen-Anhalt |
Altmark
(1501) |
Altmarkkreis Salzwedel |
3,25 |
400 (8) |
Stendal |
401 (8) |
2 |
Sachsen-Anhalt |
Anhalt-Bitterfeld-Wittenberg (1502) |
Anhalt-Bitterfeld |
2,75 |
381 (7) |
Dessau-Roßlau |
353 (6) |
Wittenberg |
385 (7) |
3 |
Nordrhein-Westfalen |
Emscher/Lippe (0509) |
Bottrop |
2,75 |
338 (6) |
Gelsenkirchen |
371 (7) |
Recklinghausen |
349 (6) |
4 |
Nordrhein-Westfalen |
Duisburg/Essen
(0507) |
Duisburg |
2,5 |
317 (6) |
Essen |
239 (5) |
Kleve |
244 (5) |
Mülheim a. d. Ruhr |
241 (5) |
Oberhausen |
378 (7) |
Wesel |
242 (5) |
5 |
Sachsen |
Oberlausitz-Niederschlesien (1402) |
Bautzen |
2,0 |
294 (5) |
Görlitz (Lkr) |
379 (7) |
6 |
Saarland |
Saar (1001) |
Merzig-Wadern |
2,0 |
330 (6) |
Neunkirchen |
362 (7) |
Saarlouis |
260 (5) |
Saar-Pfalz-Kreis |
254 (5) |
Stadtverband Saarbrücken |
327 (6) |
Sankt Wendel |
281 (5) |
7 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Mecklenburgische Seenplatte (1301) |
Mecklenburgische Seenplatte |
1,75 |
391 (7) |
8 |
Thüringen |
Nordthüringen
(1602) |
Eichsfeld |
1,75 |
289 (5) |
Kyffhäuserkreis |
386 (7) |
Nordhausen |
368 (7) |
Unstrut-Hainich-Kreis |
365 (7) |
9 |
Thüringen |
Südthüringen
(1604) |
Eisenach |
1,75 |
321 (6) |
Hildburghausen |
315 (6) |
Schmalkalden-Meiningen |
360 (7) |
Sonneberg |
384 (7) |
Suhl |
324 (6) |
Wartburgkreis |
274 (5) |
10 |
Brandenburg |
Lausitz-Spreewald
(1202) |
Cottbus |
1,75 |
363 (7) |
Dahme-Spreewald |
200 (5) |
Elbe-Elster |
393 (8) |
Oberspreewald-Lausitz |
358 (7) |
Spree-Neiße |
397 (8) |
11 |
Rheinland-Pfalz |
Westpfalz (0705) |
Donnersbergkreis |
1,75 |
296 (5) |
Kaiserslautern (Stadt) |
221 (5) |
Kaiserslautern (Lkr) |
306 (5) |
Kusel |
387 (7) |
Pirmasens |
376 (7) |
Südwestpfalz |
343 (6) |
Zweibrücken |
230 (5) |
12 |
Nordrhein-Westfalen |
Bochum/Hagen
(0504) |
Bochum |
1,75 |
292 (5) |
Ennepe-Ruhr-Kreis |
226 (5) |
Hagen |
354 (6) |
Herne |
357 (7) |
Märkischer Kreis |
282 (5) |
13 |
Thüringen |
Ostthüringen
(1603) |
Altenburger Land |
1,5 |
389 (7) |
Gera |
366 (7) |
Greiz |
367 (7) |
Jena |
029 (2) |
Saale-Holzland-Kreis |
372 (7) |
Saale-Orla-Kreis |
380 (7) |
Saalfeld-Rudolstadt |
375 (7) |
14 |
Sachsen-Anhalt |
Magdeburg (1504) |
Börde |
1,5 |
325 (6) |
Harz |
369 (7) |
Jerichower Land |
399 (8) |
Magdeburg |
290 (5) |
Salzlandkreis |
390 (7) |
15 |
Sachsen-Anhalt |
Halle/Saale
(1503) |
Burgenlandkreis |
1,5 |
382 (7) |
Halle (Saale) |
310 (6) |
Mansfeld-Südharz |
398 (8) |
Saalekreis |
348 (6) |
16 |
Sachsen |
Südsachsen (1403) |
Chemnitz |
1,5 |
243 (5) |
Erzgebirgskreis |
359 (7) |
Mittelsachsen |
336 (6) |
Vogtlandkreis |
322 (6) |
Zwickau |
247 (5) |
17 |
Schleswig-Holstein |
Ostholstein
(0103) |
Ostholstein |
1,5 |
300 (5) |
Lübeck |
276 (5) |
18 |
Nordrhein-Westfalen |
Dortmund (0506) |
Dortmund |
1,5 |
255 (5) |
Hamm |
332 (6) |
Unna |
234 (5) |
19 |
Bremen |
Bremerhaven
(0303) |
Bremerhaven |
1,5 |
383 (7) |
Niedersachsen |
Cuxhaven |
316 (6) |
Niedersachsen |
Wesermarsch |
278 (5) |
|
Quelle:
IW-Regionalstudie, Abb. 5.9, S.109; Zukunftsatlas 2019 -
Auf einen Blick |
Die Übersicht zeigt, dass die
Raumordnungsregionen teils sehr unterschiedliche Regionen auf der
Ebene der Landkreise bzw. kreisfreien Städte zusammenfassen. Von den
10 im Zukunftsatlas 2019 am schlechtesten eingestuften Regionen
(Klassenstufe 8) finden sich nur 6 auch bei der IW-Regionalstudie
wieder. Die restlichen 4 Regionen werden dagegen aufgrund der
Zusammenfassung zu Raumordnungsregionen unsichtbar, wobei
unterschiedliche Rankings durchaus zu abweichenden Bewertungen kommen
können (siehe Vergleich
Die demographische Lage der Nation).
Würde z.B. die kreisfreie Stadt
Jena nicht zur Raumordnungsregion Ostthüringen gehören, dann würde die
Region sicherlich wesentlich schlechter abschneiden.
Fazit: Rankings treffen durch die
Auswahl der Betrachtungsebene bereits Vorentscheidungen über die
Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von Problemen. Hinter der Auswahl von
Raumordnungsregionen statt von Landkreisen bzw. kreisfreien Städten
verbirgt sich bereits ein ganz spezifisches Politikverständnis, das
folgendermaßen formuliert wird:
"Zwar gibt es auch innerhalb der
Regionen relevante Entwicklungsunterschiede. Allerdings fallen diese
lokalen Belastungen und möglichen Abkopplungen nach dem
Subsidiaritätsprinzip in den Aufgabenbereich der Länder und Kommunen
und nicht in den des Bundes. Überdies gibt es zur Wahrung der
Handlungsfähigkeit der Länder bereits das Instrument des
Länderfinanzausgleichs." (S.92)
LOCKE, Stefan (2019): Dem Osten eine Zukunft.
Leidartikel: Geld ist nicht alles, aber ohne Geld ist alles nichts:
Den Kommunen im Osten fehlt es bis heute,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 08.08.
Stefan LOCKE fordert den Ausverkauf von Know How im Osten zu
verhindern, die Steuerverteilung gerechter zu organisieren und mehr
Behörden und Institutionen im Osten anzusiedeln.
ECKERT, Daniel (2019): Droht Ihrer Region die Abwärtsspirale?
Hohe Arbeitslosigkeit, marode Infrastruktur, Abwanderung: Ein Fünftel
Deutschlands ist laut einer Studie nicht zukunftsfest. Forscher
fürchten, dass die Gebiete abgehängt werden - und schlagen
Gegenmaßnahmen vor,
in:
Welt v. 09.08.
"Sowohl Strukturschwäche als auch demografisches Ausbluten können zu
sch selbst verstärkenden Prozessen führen (...).
Und es gibt noch einen Faktor, der den Prozess beschleunigen kann:
eine schwache Infrastruktur",
stellt
Daniel ECKERT die Ergebnisse des IW-Regionenranking vor. Eine solche
Sicht verkennt die Sachlage, denn primärer Faktor von Abwärtsspiralen
ist die Strukturschwäche von Regionen, während demografische Prozesse
und die Vernachlässigung der Infrastruktur nur Begleitprozesse sind.
Der Versuch diese Ursachenverkettung zu verschleiern, kann als
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme beschrieben werden.
Nur weil im Osten die Deindustrialisierungsprozesse zum zeitweisen
Geburtenausfall und zur Abwanderung führten und keine angemessenen
politischen Gegenmaßnahmen getroffen wurden, werden nun "demografische
Probleme" sichtbar, die jedoch lediglich Versäumnisse der
Vergangenheit darstellen.
Rankings und deren Fehlinterpretationen führen zudem zu Fremd- und
Selbststigmatisierungen von ganzen Regionen, die eine Umkehr solcher
Prozesse zusätzlich erschweren. Schließlich müssen die Medien, die
solche Rankings unreflektiert in Umlauf bringen, nicht für die
Imageschäden haften, die sie anrichten.
KERSTING, Silke (2019): Gefährliche Abwärtsspirale.
Während viele Großstädte wachsen,
verlassen gerade junge und gut ausgebildete Menschen ländlich geprägte
oder strukturschwache Regionen. Ökonomen warnen die Politik vor
abgehängten Regionen,
in:
Handelsblatt v. 09.08.
Silke KERSTING hebt 3 Klassen von Regionen hervor: 6 Regionen mit
auffallend schlechter Lage, 13 gefährdete Regionen und der große Rest
von 77 nicht-gefährdeten Regionen, wobei die 11 Regionen zu
Ostdeutschland zusammengefasst werden, während die 8 westdeutschen
Regionen unter den 19 gefährdeten Regionen explizit Bundesländern
zugeordnet werden.
Für KERSTING liegt die Brisanz der
Ergebnisse in den ostdeutschen AfD-Erfolgen begründet (Der Beitrag
Frust treibt der AfD Wähler zu widmet sich diesem Aspekt). Es wird
bei den Indikatoren nur die Gesamtzahl 12 und die 3 Bereiche genannt.
In der Broschüre
Die Zukunft der Regionen in Deutschland. Zwischen Vielfalt und
Gleichwertigkeit
findet sich eine Tabelle mit den Zugehörigkeiten der Indikatoren zu
den einzelnen Bereichen (S.92).
Der Bereich Demografie wird durch
die Indikatoren Fertilitätsrate (TFR), die Lebenserwartung und das
Durchschnittsalter sowie die Bevölkerungszahl abgebildet, wobei
unterschiedliche Zeiträume der Vergangenheit betrachtet werden. Diese
Daten beziehen sich jedoch nicht auf die Raumordnungsregionen, sondern
auf die 401 Kreise, d.h. die Autoren aggregieren die Daten, wobei die
Kriterien ein Geheimnis sind. Auch die Umsetzung in Gefährdungspunkte
ist nicht nachvollziehbar. Die Behandlung des Demografiebereichs auf
S.102/103 gibt auch keine Aufschlüsse über die Beurteilungskriterien,
da hier wiederum nur Gefährdungspunkte aufgelistet werden.
Fazit: Das Ranking ist für einen
Leser nicht nachvollziehbar, weil die Kriterien nicht offen gelegt
werden. Seriöse Wissenschaft geht anders. Die 290seitige Broschüre
besteht überwiegend aus Zusammenfassungen bereits veröffentlichter
Daten, die mit der knappen empirischen Untersuchung nichts zu tun
haben.
Einzig die interaktive Karte auf der Website nennt für die
einzelnen Indikatoren die zugehörigen Gefährdungspunkte, z.B. für die
Raumordnungsregion Altmark. Wer sich die Mühe macht, kann im
Prinzip also die Kriterien aus der
interaktiven Karte herausdestillieren. Viel Vergnügen!
LEHMANN, Timo/MÜLLER, Ann-Katrin/PIEPER, Milena (2019): Sie sind schon
da.
Demokratie: In den drei ostdeutschen Bundesländern, in denen bald
gewählt wird, ist die AfD längst Volkspartei, sie könnte auf dem
ersten Platz landen. Woher schöpft die Partei ihre Kraft? Eine
Spurensuche in fünf Gemeinden,
in:
Spiegel Nr.33 v. 10.08.
LEHMANN/MÜLLER/PIEPER stellen uns AfD-Politiker aus
Weira und Gera (Thüringen),
Blankenfelde-Mahlow und Dallgow-Döberitz (Brandenburg) und aus
Pirna in Sachsen vor, die von der CDU und FDP zur AfD gewechselt
sind und als Neoliberale und Nationalkonservative keine
Berührungsängste mit dem Völkischen kennen und somit die AfD im Osten
auf der kommunalen Ebene salonfähig machen.
Der Spiegel will mit dem
Politikwissenschaftler Michael LÜHMANN an einem einzigen Beispiel die
These belegen, dass die AfD keine "Partei der Abgehängten". Eine
Allensbach-Umfrage
wird als Beleg für die Nicht-Existenz eines Ost-West-Unterschieds
hinsichtlich der Wirtschaftssituation gedeutet. Beliebt ist beim
progressiven Neoliberalismus, dem der Spiegel verpflichtet ist,
auch die Studie der neoliberalen Bertelsmann-Stiftung, bei der jedoch
die Bundestagswahlkreise 2017 die Grundlage für eine grobe Analyse
waren. Danach sei die Gesellschaft zwischen Befürwortern und
Skeptikern der Modernisierung gespalten und die AfD sei die Partei der
Modernisierungsskeptiker.
Tatsächlich kann jedoch die AfD
durch ihre Indifferenz bei zentralen Themen noch ganz unterschiedliche
gesellschaftliche Strömungen bedienen, die von den "Abgehängten" bis
zu den neoliberalen und nationalkonservativen Milieus der oberen
Mittelschicht bzw. Oberschicht reichen. Der Versuch die AfD auf den
völkischen Flügel zu reduzieren, ist - wie die steigenden
Umfragewerte zeigen, grandios gescheitert.
LEMBKE, Judith (2019): "Das Dorf muss gentrifiziert werden".
Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz über die neue Landliebe urbaner
Hipster und wie sie verlassene Dörfer retten kann,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 11.08.
DÄHNER, Susanne u.a. (2019): Urbane Dörfer.
Wie digitales Arbeiten Städter aufs Land bringen kann, herausgegeben
vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und Neuland21 e.V.
Das Berlin-Institut für Bevölkerung
und Entwicklung hat wieder einmal eine Propaganda-Broschüre erstellt.
Urbane Dörfer ist eine neoliberale Vision, wonach Hipster die Dörfer
(vorzugsweise) im Speckgürtel der Metropolen beatmen sollen. Dazu
werden nun die folgenden 19 Projekte aus dem kosmopolitischen Milieu
vorgestellt:
Tabelle:
Übersicht der 19 Vorzeigeprojekte |
Projekt |
Land |
Landkreis |
Gemeinde |
Stadttyp |
Projektname |
1 |
Brandenburg |
Uckermark |
Gerswalde |
|
Libken |
2 |
Brandenburg |
Barnim |
Lunow-Stolzenhagen |
|
Gut
Stolzenhagen |
3 |
Projekt noch in
Planung |
Oranienburg |
|
Annagarten |
4 |
Projekt noch in
Planung |
Prötzel |
|
Hof
Prädikow |
5 |
Projekt noch in
Planung |
Küstriner
Vorland |
|
Gut Gorgast |
6 |
Brandenburg |
Märkisch-Oderland |
Alt-Tucheband |
|
Hof
Hackenow |
7 |
Brandenburg |
Oder-Spree |
Steinhöfel |
|
Haus des
Wandels |
8 |
Brandenburg |
Oder-Spree |
Steinhöfel |
|
Zusammen in
Neuendorf |
9 |
Brandenburg |
Potsdam-Mittelmark |
Werder (Havel) |
Mittelstadt |
Uferwerk |
10 |
Brandenburg |
Potsdam-Mittelmark |
Bad Belzig |
Kleinstadt |
Coconat |
11 |
Brandenburg |
Potsdam-Mittelmark |
Wiesenburg/Mark |
|
KoDorf |
12 |
Brandenburg |
Potsdam-Mittelmark |
Brück |
|
Die Frieda |
13 |
Brandenburg |
Potsdam-Mittelmark |
Brück |
|
Alte Mühle
Gömnigk |
14 |
Brandenburg |
Teltow-Fläming |
Jüterbog |
Kleinstadt |
Bauernhof
Grüna |
15 |
Sachsen-Anhalt |
Harz |
Harzgerode |
Kleinstadt |
Freie
Feldlage |
16 |
Sachsen-Anhalt |
Mansfeld-Südharz |
Seegebiet
Mansfelder Land |
|
Lebensraum
Röblingen |
17 |
Projekt noch in
Planung |
bei Leipzig |
|
Schwarzgestein |
18 |
Sachsen-Anhalt |
Burgenlandkreis |
Zeitz |
Mittelstadt |
Kloster
Posa |
19 |
Sachsen |
Landkreis
Görlitz |
Mittelherwigsdorf |
|
Kulturfabrik Meda |
|
Quelle:
Urbane Dörfer, S.16f. |
Viele der Vorzeigeprojekte sind
entweder noch im Planungsstadium oder sollen durch zukünftige Projekte
aufgewertet werden. Außerdem ist der Begriff "Urbane Dörfer" für
einige Projekte glatter Etikettenschwindel.
HANDELSBLATT-Titelthema:
Aufstand der Abgehängten |
GREIVE, Martin/KERSTING, Silke/WASCHINSKI, Gregor (2019): Weckruf der
Absteiger.
Mehrere Ministerpräsidenten
schlagen Alarm: Der Bund muss mehr gegen das wirtschaftliche Gefälle
im Land tun. Innenminister Seehofer verspricht Hilfe,
in:
Handelsblatt v. 12.08.
Auf dem Titelbild pranken der
sächsische Ministerpräsident Michael KRETSCHMER und CSU-Minister Horst
SEEHOFER. Das Titelthema ist entsprechend in erster Linie
Wahlkampfpropaganda für die sächsische CDU.
GREIVE, Martin/HÖPNER, Axel/KERSTING, Silke/SIGMUND,
Thomas/WASCHINSKI, Gregor (2019): Hilferuf aus den Problemregionen.
Etliche Teile Deutschlands drohen
abgehängt zu werden. Landespolitiker fordern nun endlich Taten statt
Worten und hegen neue Hoffnung: Der Niedergang von Gegenden im Westen
könnte neuen Schwung in die Debatte bringen,
in:
Handelsblatt v. 12.08.
Statt Aufklärung werden wir mit
Propaganda vollgesülzt, denn der Artikel enthält in erster Linie
Nullinformationen! Nullinformationen sind Informationen, die ohne
Vergleichsmaßstab daherkommen, die zur Einordnung der Fakten notwendig
sind. Typisch für Nullinformationen sind solche Sätze:
"Vor mehr als zehn Jahren übernahm
der Passauer Unternehmer Günther Bessinger eine Maschinenbaufirma in
einer kleinen Gemeinde im sächsischen Erzgebirgskreis. Die MN
Maschinenbau Niederwürschnitz GmbH ist eine Erfolgsgeschichte in der
strukturschwachen Gegend. Das Unternehmen (...) konnte Geschäft und
Arbeitsplätze stark ausbauen.
Doch auch wenn der Betrieb läuft, ist Bessinger unzufrieden.
Unzufrieden mit der Politik (...).
Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) liegt
der Erzgebirgskreis in einer von 19 Regionen in Deutschland, die vor
großen Zukunftsproblemen stehen und dauerhaft den Anschluss zu
verlieren drohen. Allein elf dieser gefährdeten Landstriche befinden
sich im Osten, vier in Nordrhein-Westfalen entlang der Ruhr. Und auch
in Bremerhaven, dem Saarland, Schleswig-Holstein und der Westpfalz
sehen die IW-Forscher angesichts der erheblichen Strukturprobleme
»akuten« Handlungsbedarf",
erklärt uns das Journalistenteam.
Um diese Fakten einordnen zu können, bedarf es eines Wissens über die
Raumordnungsregionen in Deutschland, das hier vorausgesetzt wird. Aus
der folgenden Tabelle sind die 96 Raumordnungsregionen nach
Bundesländern untergliedert und den 19 gefährdeten Regionen
gegenübergestellt.
Tabelle:
Die 96 Raumordnungsregionen in Deutschland und ihre
Verteilung
über die Bundesländer sowie die Verteilung der
gefährdeten Regionen |
Bundesland |
Anzahl
Raum-
ordnungs-
regionen |
Anzahl
gefährdeter
Regionen |
Alte
Bundesländer |
Baden-Württemberg |
12 |
0 |
Bayern |
18 |
0 |
Berlin |
1 |
0 |
Bremen* |
1 |
0 |
Niedersachsen* |
13 |
3* |
Hamburg |
1 |
0 |
Hessen |
5 |
0 |
Nordrhein-Westfalen |
13 |
4 |
Rheinland-Pfalz |
5 |
1 |
Saarland |
1 |
1 |
Schleswig-Holstein |
5 |
1 |
Neue
Bundesländer |
Brandenburg |
5 |
1 |
Mecklenburg-Vorpommern |
4 |
1 |
Sachsen |
4 |
2 |
Sachsen-Anhalt |
4 |
4 |
Thüringen |
4 |
3 |
Deutschland
(Gesamt) |
96 |
21 |
|
Es zeigt sich, dass Sachsen
keineswegs das Problemkind Nr.1 ist. Sorgenkind Nr.1 ist
Sachsen-Anhalt, denn dort ist das gesamte Bundesland gefährdet. Dort
lebten Ende 2018 rund 2,21 Millionen Menschen. Nur ist dort eben
gerade kein Wahlkampf. Danach käme
Thüringen, wo zwei Drittel der Bevölkerung und drei Viertel der
Regionen betroffen ist. Auch das kleine Saarland ist als ganzes
Bundesland gefährdet. Dort sind fast eine Million Menschen betroffen.
Stattdessen wird uns Sachsen, der
neoliberale Musterknabe präsentiert, dessen Niedergang im ländlichen
Raum voll und ganz die seit der Wende regierende CDU zu verantworten
hat. Dort wo der CDU-Ministerpräsident Michael KRETSCHMER sein
Bundestagsmandat verlor, in der Raumordnungsregion
Oberlausitz-Niederschlesien mit den Landkreisen
Bautzen und Görlitz, konnte die AfD besonders hohe Zuwächse verbuchen.
KRETSCHMER muss also viel versprechen und jede Menge
Absichtserklärungen vorweisen, um überhaupt noch wahrgenommen zu
werden. Im Interview "Wir verspielen die Zukunft" schwadroniert er,
dass wir kein "Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem" hätten. Ah
ja? Als Generalsekretär war davon nichts zu hören, sondern die CDU
berauschte sich an ihrer Leuchtturmpolitik.
AFHÜPPE, Sven (2019): Rettungsplan für die Abgehängten.
Leidartikel: Die ökonomische
Aufholjagd ist in Ostdeutschland zum Stillstand gekommen. Ohne eine
Perspektive droht sich der AfD-Aufschwung aber zu verfestigen,
in:
Handelsblatt v. 12.08.
Die AfD kann sich bei Journalisten wie Sven AFHÜPPE bedanken, denn er
sagt nichts anderes, als dass es ohne die AfD keinen politischen
Handlungsbedarf in den abgehängten Regionen geben würde. Damit treibt
er die Wähler der AfD regelrecht in die Arme, denn so die
Schlussfolgerung: Nur wer die AfD wählt, kann die Politik der
Regierenden zum Handeln zwingen. Was aber, wenn die AfD derart stark
ist, dass sie an die Regierung kommt - trotz Allparteienbündnissen.
Darüber macht sich offenbar niemand Gedanken!
ZSCHIECK, Marco
(2019): Im Osten was Neues.
Jahrzehntelang kennzeichneten Massenarbeitslosigkeit und Abwanderung
die ostdeutschen Bundesländer. Heute steht die Wirtschaft dort vor
anderen Problemen,
in:
TAZ
v. 12.08.
Marco ZSCHIECK hängt sich an eine Spiegel-Story
ran, zitiert aber ausgiebig den neoliberalen IWH-Forscher Oliver
HOLTEMÖLLER. Im Mittelpunkt stehen zum einen die Brandenburger
Kreisgebiete im Berliner Umland:
"Dort sind es (...) auch Industrie,
die sich vor allem südlich von Berlin angesiedelt hat. Rolls Royce
baut Turbinen in Dahlewitz, Daimler LKWs in Ludwigsfelde, dazu kommen
Logistiker an den Autobahnen und Bahnstrecken. Der Flughafenkreis
Dahme-Spreewald gehört laut einer Bertelsmann-Studie zu den fünf
Kreisen mit den höchsten Steuereinnahmen pro Kopf in Deutschland."
Zum anderen Thüringen, das mit
Eisenach, Erfurt und Jena der sächsischen Leuchtturmpolitik nacheifern
soll.
CROCOLL, Sophie (2019): Endlich angekommen.
Der Politiker
abgehalftert, das Thema verstaubt: Als Horst Seehofer (CSU) das
Bundesinnenministerium zu einem Heimatministerium erweiterte, war der
Spott groß. Nach anderthalb Jahren zeigt sich: Immerhin wird über das
wichtige Zukunftsthema geredet. Und sogar ein bisschen was getan,
in:
WirtschaftsWoche
Nr.34 v. 16.08.
Da im Osten eine desaströse
Niederlage der etablierten Volksparteien droht, entdeckt die
wirtschaftsliberale Presse die Vorzüge des Heimatministeriums. Da ist
von einem "Paradigmenwechsel" die Rede, wo nur Getriebenheit und
Aktionismus herrscht. Das Heimatministerium ist in erster Linie ein
Rhetorikministerium, das für gute Laune sorgen soll, wo
Problembewältigung vonnöten wäre.
Das einzige Vorzeigeprojekt: Die
Ansiedlung von Behörden im strukturschwachen Raum. Dafür gibt es
mittlerweile viele Absichtserklärungen, aber keine Taten:
"Seehofer selbst hat bereits
angekündigt, eine Außenstelle des Bundesamts für Sicherheit in der
Informationstechnik bei Freital anzusiedeln, die neue Agentur für
Innovation in der Cybersicherheit soll in den Raum Leipzig/Halle."
Freital und Leipzig liegen in
Sachsen, dem Epizentrum des AfD-Bebens, aber nicht in den gefährdeten
Regionen. Mehr als die übliche neoliberale Leuchtturmpolitik ist das
nicht! Anschaulicher lässt sich die unangemessene Getriebenheit aber
nicht sichtbar machen. Garniert wird der Bericht mit zwei Grafiken aus
dem Deutschlandatlas - einer
Ansammlung von Karten, denn die Bundesregierung war zu feige, den
Abschlussbericht der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse
zeitig vor den Landtagswahlen im Osten zu veröffentlichen, stattdessen
wurden Absichtserklärungen produziert, die gute Laune machen sollen.
FRANKE, Fabian (2019): Frau Hartmann kommt halb
acht.
Reportage: Stefanie
Hartmann ist Altenpflegerin. Täglich fährt sie von Haus zu Haus, quer
durch die ländliche Region Südniedersachsens. Sie bleibt, wo andere
gehen: in der Region, im Pflegeberuf,
in:
TAZ
v. 17.08.
"Stefanie Hartmann ist Altenpflegerin (...). in der Kleinstadt
Herzberg am Harz, Südniedersachsen. Viele ziehen nach der Schule von
hier weg, zurück bleiben die Alten. Zwischen 2012 und 2030 könnte die
Bevölkerung der Stadt um knapp 20 Prozent sinken, prognostiziert das
Demografieportal Wegweiser Kommune. Über ganz Deutschland verteilen
sich Gemeinden mit ähnlichem Schicksal",
erzählt uns Fabian FRANKE, der
unreflektiert auf die
Zahlen der neoliberalen BertelsmannStiftung zurückgreift.
Inwieweit
Herzberg am Harz im niedersächsischen Landkreis Göttingen für
deutsche Kommunen typisch ist, wird nicht belegt, sondern nur
behauptet. Für Deutschland ist keineswegs eine starke Schrumpfung der
Gemeinden bis 2030 typisch, sondern eine Vielfalt an
Entwicklungspotenzialen.
Das Bild, das FRANKE von
Deutschland zeichnet, passt jedoch zur politischen Zielsetzung des
Artikels:
"Kürzlich reiste
Gesundheitsminister Jens Spahn nach Kosovo, von hier sollen künftig
Pflegekräfte angeworben werden. (...).
25 Jahre nach ihrer Einführung holt der demografische Wandel die
Pflegeversicherung ein",
behauptet FRANKE. Die
Pflegeversicherung wurde jedoch aus ganz anderen Grünen eingeführt:
zum einen sollte sie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für
Frauen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt benötigt wurden, sichern,
und zum anderen sollte sie der Pflege- und Baubranche einen lukrativen
Markt sichern. Im Mittelpunkt stand bei der Einführung die steigende
Lebenserwartung der Bevölkerung und die Annahme einer rapiden Zunahme
von Pflegefällen, die außerhalb der Familie gepflegt werden müssen.
Von Anfang an war die Pflegeversicherung jedoch für die
gesellschaftlichen Entwicklungen nicht ausreichend ausgestattet. Vom
Einholen durch den demografischen Wandel kann deswegen keine Rede
sein.
FREIBERGER, Harald & Meike SCHREIBER (2019): Wo ist denn hier die
Bank?.
Bayerns kleinstes Geldhaus gibt auf - ein Sinnbild für die tiefe
Krise, in der Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken stecken. Die
Institute schieben es auf die niedrigen Zinsen und die Regulierung.
Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit,
in: Süddeutsche Zeitung
v. 17.08.
"Raiffeisenbank
Bruck in der Oberpfalz (...). Drei Wochen ist es her, dass Schießl
das Ende der kleinsten Bank Bayerns einläutete, die 1903 gegründet
wurde. 116 Jahre lang war man in dem 4.400-Einwohner-Ort 30 Kilometer
nördlich von Regensburg stolz auf die eigene Bank, die nur aus der
Hauptstelle am Marktplatz besteht (...). Doch jetzt wirft sich die
Bank in die Arme eines größeren Partners",
erzählen uns FREIBERGER &
SCHREIBER. Die Überschrift könnte falsch gedeutet werden, nämlich als
Bankensterben im ländlichen Raum. Doch wo die Filialschließungen
stattfinden, wird nicht ersichtlich. Die Daten stammen aus der
Pressemitteilung
Bankstellenentwicklung im Jahr 2018 der Bundesbank vom 4.
Juli.
FRANZ, Christian/FRATZSCHER, Marcel/KRITIKOS, Alexander S. (2019):
Grüne und AfD als neue Gegenpole der gesellschaftlichen Spaltung in
Deutschland,
in:
DIW-Wochenbericht Nr.34 v. 21.08.
FRANZ/FRATZSCHER/KRITIKOS haben die
Ergebnisse der Europawahl 2019 anhand von drei Dimensionen analysiert:
"Erstens die ökonomische Situation
beziehungsweise Stärke bestimmter Regionen, gemessen an der
unterschiedlichen Partizipation der Menschen an den
Einkommenszuwächsen der letzten Jahre, an der Höhe der verfügbaren
Einkommen und an den lokalen Arbeitslosenquoten. Die zweite Dimension
ist die strukturelle Verwundbarkeit der Wirtschaft: Die
Automatisierung vieler Prozesse (zum Beispiel durch die
voranschreitende Digitalisierung) schafft Gewinner, für die sich neue
berufliche Chancen ergeben. Gleichzeitig gibt es auch viele
potentielle Verlierer, etwa Arbeiterinnen und Arbeiter, die fürchten,
ihren Job zu verlieren (oder ihn schon verloren haben). Drittens
werden demografische Entwicklungen analysiert: Manche Regionen in
Deutschland sind von starker, auch innerdeutscher Zuwanderung geprägt,
andere sehen sich mit Abwanderung konfrontiert." (2019, S.593)
Das Problem bei solchen Analysen
besteht darin, dass die Indikatoren keineswegs die Lage zum Zeitpunkt
der Wahlentscheidungen angeben, sondern entsprechend der Verfügbarkeit
der Daten ausgewählt werden. Zum anderen kommt hinzu, dass die Auswahl
der Indikatoren nicht begründet wird. Die demografische Situation z.B.
wird durch Abiturquote im Jahr 2017, den durchschnittlichen
Wanderungssaldo 2000-2017 und den Anteil der Menschen im Alter von 60
Jahren und älter Ende 2017 operationalisiert (vgl. Tabelle 1, S.594).
Der durchschnittliche
Wanderungssaldo z.B. kann Umkehrungen im Wanderungsverhalten nicht
angemessen darstellen, sondern ebnet die Unterschiede ein. Im
Gegensatz zu dieser statistischen Nivellierung werden uns im Text nur
die üblichen Extremwerte aufgezeigt:
"Die Salden der Gesamtwanderung
(also die Differenz aus Zuzügen und Fortzügen je 1.000 Einwohnerinnen
und Einwohner) in den Jahren 2000 bis 2017 ergeben ein zur
Altersstruktur passendes Bild (...). In der kreisfreien Stadt Suhl
sind zum Beispiel durchschnittlich zehn Menschen je 1.000
Einwohnerinnen und Einwohner mehr fort- als hinzugezogen. Bei der in
Deutschland niedrigen Fertilitätsrate führt dies zu einem dramatischen
Bevölkerungsschwund. In Suhl lebten Ende 2017 knapp 13.000 weniger
Menschen als Ende des Jahres 2000." (S.596)
Wenn aber der Wanderungssaldo
gleichsam ein Indikator für den Anteil Älterer/Jüngerer darstellt,
dann stellt sich die Frage danach, warum zwei Indikatoren, die
offensichtlich das gleiche Phänomen beleuchten, verwendet werden und
nicht ein Indikator, der die gesamte Bandbreite der demografischen
Lage abbildet. Man hätte die regionalen Lebensverhältnisse z.B. besser
anhand von Infrastrukturen und deren Fehlen messen können.
Dass die Variablen nicht unbedingt
stichhaltig ausgewählt wurden, zeigt u.a. dass der Erklärungswert der
Parteipräferenzen z.B. bei den Grünen nur bei 75 % liegt und die
Wahlergebnisse unter- bzw. überschätzt werden:
"Für bestimmte Kreise kann das
Modell die Wahlergebnisse weniger gut erklären. Bei der AfD trifft das
auf alle sächsischen Kreise – mit Ausnahme der Stadt Leipzig – zu:
Dort unterschätzt das Modell das tatsächliche AfD-Ergebnis (...). In
Mecklenburg-Vorpommern dagegen überschätzt das Modell die
tatsächlichen Stimmanteile der AfD. Unter der Annahme, dass die
gewählten Variablen und das Modell in der Lage sind, die ökonomische,
strukturelle und demografische Situation eines Kreises richtig zu
erfassen, bedeuten diese Über- und Unterschätzungen, dass die
Wahlentscheidung in diesen Kreisen zu einem entsprechenden Teil von
anderen Faktoren, etwa der regionalen Bekanntheit und Popularität
bestimmter Kandidatinnen und Kandidaten, bestimmt wurde. Bei den
Grünen unterschätzt das Modell die Stimmanteile in vielen Kreisen in
Schleswig-Holstein (...), in Flensburg etwa fielen die Ergebnisse um
über zehn Prozentpunkte höher aus als die Schätzung ergab. Im Saarland
und in Rheinland-Pfalz dagegen fuhr die Partei niedrigere Ergebnisse
ein, als die Schätzung es erwarten ließ. In den drei bayerischen
Kreisen Straubing, Straubing-Bogen und Eichstätt wurden die Ergebnisse
der Grünen am meisten überschätzt: Die gute wirtschaftliche Situation
und eine attraktive demografische Entwicklung hätten einen um acht bis
neun Prozentpunkte höheren Stimmanteil für die Grünen erwarten
lassen." (S.599)
Die Erklärung, dass die Beliebtheit
eines Politikers das Ergebnis verfälscht, ist wenig stichhaltig, da
nicht die Erstimmenanteile der Direktkandidaten, sondern nur die
Zweitstimmenanteile analysiert wurden. Das Beispiel Sachsen deutet
darauf hin, dass der Infrastrukturaspekt nicht ausreichend beachtet
wurde, denn als neoliberaler Musterknabe war dort der Personal- und
Infrastrukturabbau besonders krass.
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.)(2019):
Teilhabeatlas Deutschland. Ungleichwertige Lebensverhältnisse und
wie die Menschen sie wahrnehmen
Im Vorfeld der
Landtagswahlen im
Osten veröffentlicht das neoliberale Berlin-Institut für
Bevölkerung und Entwicklung eine Publikation, die zum einen
beansprucht die Teilhabechancen aller 401 Regionen objektiv in einem
Ranking zu erfassen und zum anderen die Frage zu beantworten wie die
Menschen diese Lage bewerten. Die subjektive Wahrnehmung wird jedoch
nicht repräsentativ erhoben, sondern nach Gutsherrenart dargelegt.
Die
Clusteranalyse fußt zum einen auf einer Trennung in Land und Stadt und
zum anderen werden jeweils 3 Teilhabeklassen unterschieden. Teilhabe
wird anhand dreier Faktoren mittels Indikatoren erfasst:
wirtschaftliche Teilhabe (SGB-II-Quote 2017, Jährliches verfügbares
Haushaltseinkommen je Einwohner 2016, Kommunale Steuereinnahmen 2017),
soziale Teilhabe (Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss 2017,
Lebenserwartung 2013-2015, Wanderungssaldo 18-29-Jährige 2013-2017)
und Versorgung (Versorgungsindex 2014-2016, Breitbandversorgung 2017).
Zum Versorgungsindex heißt es:
"Der Versorgungsindex gibt die
Anzahl ausgewählter Versorgungseinrichtungen an, die im jeweiligen
Kreis im Schnitt weniger als 1.000 Meter entfernt vom Wohnort liegen:
Apotheken (2015), Hausärzte (2015), Supermärkte/Discounter (2015),
Grundschulen (2014-2016), Oberschulen (2014-2016) und Haltestellen des
öffentlichen Nahverkehrs mit mindestens zehn Abfahrten am Tag (2016)."
(S.80)
Bereits
die Erfassung der objektiven Lage ist problematisch, da die Daten
selektiv und nicht aktuell sind, sondern vergangene Lagen
unvollständig widerspiegeln. Wenn subjektive Wahrnehmung und objektive
Lage also auseinanderklaffen, dann muss immer berücksichtigt werden,
dass sich die objektive Lage verändert haben kann bzw. die Indikatoren
nicht das ganze Spektrum repräsentiert. Es kann also nicht davon
ausgegangen werden, dass die subjektive Wahrnehmung falsch ist.
Tabelle:
Übersicht der 6 Kategorien inklusive Anzahl der
betroffenen Regionen |
Teilhabe-
klasse |
Stadt |
Land |
Typ |
Anzahl |
Typ |
Anzahl |
1 |
Reiche
Großstädte und ihre Speckgürtel |
19 |
Erfolgreiche ländliche Regionen |
89 |
2 |
Attraktive
Großstädte |
51 |
Ländliche
Regionen mit vereinzelten Problemen |
133 |
3 |
Großstädte
mit Problemlagen |
51 |
"Abgehängte" Regionen |
58 |
|
Quelle:
Teilhabeatlas Deutschland, S.12, S.14f. |
Wie aussagekräftig aber sind diese
Zahlen für die betroffene Bevölkerung? Da die Teilhabechancen an
politischen Territorien und nicht an der Anzahl der Betroffenen
festgemacht wird, ergeben sich Verzerrungen, die sich anhand der
folgenden Tabelle ersehen lassen:
Tabelle:
Die Verteilung der Regionen nach Bundesländern und nach
Bevölkerungsgröße |
Bundesland |
Kreisfreie
Städte |
Landkreise |
Gesamt |
Großstädte m.
Problemlagen |
Abgehängte
Regionen |
Bevölkerung
31.12.2018 |
Betroffene
pro Kreis |
Alte Bundesländer |
Baden-Württemberg |
9 |
35 |
44 |
0 |
0 |
11.069.533 |
251.580 |
Bayern |
25 |
71 |
96 |
1 |
0 |
13.076.721 |
136.216 |
Berlin |
1 |
0 |
1 |
1 |
0 |
3.644.826 |
3.644.826 |
Bremen |
2 |
0 |
2 |
2 |
0 |
682.986 |
341.493 |
Hamburg |
1 |
0 |
1 |
0 |
0 |
1.841.179 |
1.841.179 |
Hessen |
5 |
21 |
26 |
1 |
0 |
6.265.809 |
240.993 |
Niedersachsen |
8 |
37 |
45 |
4 |
3 |
7.982.448 |
177.388 |
Nordrhein-Westfalen |
22 |
31 |
53 |
16 |
0 |
17.932.651 |
338.352 |
Rheinland-Pfalz |
12 |
24 |
36 |
5 |
3 |
4.084.844 |
113.468 |
Saarland |
0 |
6 |
6 |
2 |
1 |
990.509 |
165.085 |
Schleswig-Holstein |
4 |
11 |
15 |
4 |
2 |
2.896.712 |
193.114 |
Neue Bundesländer |
Brandenburg |
4 |
14 |
18 |
3 |
7 |
2.511.917 |
139.551 |
Mecklenburg-Vorpommern |
2 |
6 |
8 |
2 |
6 |
1.609.675 |
201.209 |
Sachsen |
3 |
10 |
13 |
2 |
8 |
4.077.937 |
313.687 |
Sachsen-Anhalt |
3 |
11 |
14 |
3 |
11 |
2.208.321 |
157.737 |
Thüringen |
6 |
17 |
23 |
5 |
17 |
2.143.145 |
93.180 |
Deutschland (Gesamt) |
107 |
294 |
401 |
51 |
58 |
83.019.213 |
207.030 |
|
Die Spannbreite der betroffenen Bevölkerung reicht von Berlin
mit mehr als 3,6 Millionen Menschen bis zu Thüringen mit
durchschnittlich 93.180 betroffenen Menschen pro Region.
Deutschlandweit liegt der Durchschnitt bei 207.030 Betroffenen pro
Kreis.
Die Stadt
Hof in Bayern gilt dem Berlin-Institut als einzige "Großstadt mit
Problemlagen" in Bayern, obwohl die kreisfreie Stadt gerade rund
46.000 Einwohner zählt und damit keine Groß- sondern eine Mittelstadt
ist. Die Typologisierung der Regionen des Berlin-Instituts ist
problematisch, weil kreisfreie Städte keineswegs immer Großstädte
sind. Dagegen wird der Landkreis Neunkirchen, der weder in die
Kategorie der kreisfreien Städte noch zu den Großstädten gehört,
ebenfalls zur Kategorie "Großstadt mit Problemlagen" gezählt. An
diesen Beispielen zeigt sich bereits, dass die Kategorienbildung einer
gewissen Willkür unterliegt.
WINTER, Steffen (2019): Der Ost-Komplex.
Landtagswahlen: Nirgendwo sonst im Land ist die AfD so stark wie im
Osten, nirgendwo sonst fühlen sich die Menschen so benachteiligt und
abgehängt - dabei geht es den meisten besser denn je. Ein Blick in die
ostdeutsche Seele,
in: Spiegel
Nr.35
v. 24.08.
Steffen WINTER, Jahrgang 1969 Ost,
will uns erklären, wie die Ossis ticken, sozusagen "Rückkehr nach
Reims" auf ostdeutsch, nur dass hier Anschlussfähigkeit an
westdeutsche Narrative gefragt sind.
Die Seelenerkundung fängt an mit dem sächsischen
Heidenau:
"Drei Tage lang protestierten im
August 2015 Tausende Demonstranten gegen die Entscheidung der
sächsischen Landesregierung, aus dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt
eine Notunterkunft für 600 Flüchtlinge zu machen. (...).
Der Heidenauer Baumarkt diente nicht mal ein Jahr lang als
Asylunterkunft. (...). 2015 wurden 70.000 Asylsuchende in Sachsen
registriert, vergangenes Jahr waren es lediglich noch 8.800.
Die Geschichte könnte hier zu Ende sein. Aber sie ist nicht vorbei.
Bei der Kommunalwahl im Mai verlor die Heidenauer CDU 20
Prozentpunkte, die fremdenfeindliche AfD wurde mit 29,5 Prozent
stärkste Kraft. Die Partei hatte nicht einmal genug Kandidaten
aufgestellt, um die sieben Sitze im Stadtrat besetzen zu können. Zwei
blieben frei.
In Heidenau zeigt sich, dass die Geschehnisse von 2015 nachwirken. Die
AfD lebt noch immer von der Flüchtlingsdebatte, in drei Bundesländern
könnte sie bald stärkste Kraft werden,
droht WINTER, der jedoch keine
Zahlen für die anstehenden Landtagswahlen präsentiert, sondern eine
Umfrage im Bund. Man könnte das Demagogie nennen. Es werden
ausschließlich Szenarien durchgespielt, die auf instabile Regierungen
hinauslaufen.
Um die ostdeutsche Seele zu
erkunden wird uns ausgerechnet das Buch Der Gefühlsstau von
Hans-Joachim MAAZ empfohlen, bekanntlich ein Buch, das der Spiegel
zum Bestseller machte:
"In Kenntnis der massen- wie
individualpsychologischen Störungen der ehemaligen DDR-Bürger sorgt
sich Maaz auch um das Zusammenwachsen von Ossis und Wessis: »Haben wir
uns gerne dumm, hilflos und versorgungsbedürftig gezeigt«, gibt er zu
denken, »so müssen wir uns jetzt . . . tüchtig, dynamisch,
selbstbewußt und konkurrenzfähig zeigen»: »Zur Unfreiheit genötigt,
sollen wir jetzt Freiheit ausfüllen und genießen.«"
heißt es in der Rezension
Fehlgeleitet, kleingemacht (31.12.1990). Im heutigen
Spiegel-Artikel liest sich das Buch dagegen wie eine Pathologie des
DDR-Bürgers. Von den
damaligen Spiegel-Journalisten wird es jedoch auch als
Individualisierungskritik gelesen. Wir Westdeutschen bilden uns ein,
dass wir die überlegenen Deutschen sind - insbesondere wenn wir
Angehörige des kosmopolitischen Milieus sind. Tatsächlich ist der
westdeutsche Normalo genauso entfremdet wie der Ostdeutsche, der nicht
im Westen auf Überanpassung getrimmt wurde. Die Normalo-Ostdeutschen
sind letztlich Pioniere des Wertewandels, der längst im Westen
angekommen ist. Die
neoliberale Freiheit mit ihren Verheißungen ist für Normalos hüben wie
drüben längst zum Albtraum geworden. Im kosmopolitischen Milieu
wird man das bald noch stärker zu spüren bekommen.
"Wer sich der ostdeutschen Seele
vorurteilsfrei nähern will, sollte ins sächsische Görlitz reisen.
Dort, keine 200 Meter von der polnischen Grenze entfert, liegt die
Fakultät der Hochschule Zittau/Görlitz. Im zweiten Stock eines
ozeanblauen Gebäudes sitzt Raj Kollmorgen, Professor für Management
des sozialen Wandels. Der 55-Jährige, geboren in Leipzig, kann wie
kaum ein Zweiter beschreiben, wie sich das Leben in Ostdeutschland
gewandelt hat - und was das in den Menschen auslöste",
meint WINTER, der uns die bekannte
ostdeutsche Transformationsgeschichte auftischt, die dann in der
Hartz-Gesellschaft auf die Spitze getrieben wurde:
"Schröder erfand Hartz IV, gerade
in dem Moment, als Ostdeutschland die höchste je gemessene Zahl an
Arbeitslosen hatte: 1,6 Millionen. Die Bürger gingen montags wieder
auf die Straße (...). Es half nichts.
Die Reform betraf den Osten überdurchschnittlich. Menschen, die
arbeiten wollten, aber keinen Job fanden, fürchteten um ihr
bescheidenes Vermögen und das kleine Häuschen."
SCHRÖDER erfand die Hartz-Reform
nicht, sondern er kupferte "Cool Britannia" ab. Dort war die neue
Klassengesellschaft dank New Labour und Anthony GIDDENS bereits in
Angriff genommen worden. Die
Generation Berlin
und die Generation Golf träumte von großbürgerlichen
Lebensverhältnissen in der neuen
Dienstbotengesellschaft. Das kosmopolitische Akademikermilieu der
oberen Mittelschicht hält sich ihre migrantische, vorwiegend weibliche
"Unterschicht" - am besten mit Hochschulabschluss - als "Dienstboten".
"Das ist die eine Wahrheit. Eine
andere ist deutlich optimistischer",
erklärt uns WINTER, der uns mit der
Wahrheit von Prognos, INSM und Umfragen zur Durchleuchtung der
Unzufriedenen die neoliberale Wahrheit präsentiert. Eine neuerdings
sehr beliebte Sozialfigur ist der "besorgte Bürger", den hat WINTER in
Dresden gefunden. Der "besorgte Bürger" ist der Gegenentwurf zu den
"Abgehängten", die es in der neoliberalen Sicht nicht gibt, sondern
eine Erfindung von linken Gutmenschen sind.
WINTER zitiert den Dresdner
Politologe Hans VORLÄNDER, dessen Studien aus dem Jahr 2015 stammen,
als die AfD noch eine ganz andere Partei war. Aber es ging um Pegida.
Der Soziologe Heinz BUDE, der Klassensprecher der Generation Berlin,
hielt bekanntlich Pegida und die AfD damals für ein kurzatmiges, bald
verschwindendes Phänomen. Unter unseren Eliten war er da in guter
Gesellschaft.
"Nur 8,1 Prozent der Menschen in
den neuen Ländern erreichen ein Einkommen von monatlich 5.000 Euro
netto und mehr, bei Migranten sind es 8,9 Prozent, im Westen sind es
13,2 Prozent",
berichtet WINTER. Ein anderes Maß
wäre der
Anteil derjenigen, die in Ost und West ein Einkommen jenseits der
Beitragsbemessungsgrenze in der Rentenversicherung haben. Die
Beitragsbemessungsgrenze ist in Ost und West - aufgrund des
Einkommensniveaus - unterschiedlich hoch und trennt die obere
kosmopolitische Akademikerschicht von denjenigen, die nicht dieser
privilegierten Schicht angehören.
"Ginge es nach dem bayerischen Regierungschef Markus Söder sollten
die Tagebaue möglichst rasch geschlossen und Ausgleichszahlungen nicht
unbedingt vor Ort ausgegeben werden. Das würde den Osten
überproportional treffen: Sieben der zehn betroffenen Tagebauen liegen
in den neuen Ländern.
Christine Herntier (...), Bürgermeisterin von
Spremberg in der
Niederlausitz, kann sich darüber in Rage reden. Die Lokalpolitikerin
ist Sprecherin der Brandenburger Kommunen der »Lausitzrunde«, durch
sie wollen kommunale Vertreter der Lausitz zusammen ihre Interessen
durchsetzen. (...).
An der Kohle hängen mehr als 13.000 Arbeitsplätze in der Lausitz.
(...). 17 Milliarden sollen über einen Zeitraum von 20 Jahren in die
Lausitz fließen (...). Noch kurz vor der Europawahl hatte man die
gewaltige Summe bekannt gegeben, das hielt viele Wähler nicht davon
ab, ihre Stimme der AfD zu geben. 33 Prozent votierten in Spremberg
für die Partei",
berichtet WINTER. Die Menschen, die
die AfD gewählt haben, können sich bestätigt fühlen, denn hätten sie
sich kaufen lassen, und dann wäre vor den Landtagswahlen nicht noch
schnell ein Gesetzentwurf vorgelegt worden. Die AfD ist momentan der
einzige Garant, dass die etablierten Parteien etwas tun - das ist das
wahrhaft Erschreckende daran!
"Fast die Hälfte der Befragten war
sich sicher, die Migranten kämen nur, um den Sozialstaat auszunutzen",
fasst WINTER das Ergebnis einer
Thüringer Befragung zusammen. 15 Jahre vorher hatten Neoliberale die
Unterschicht entdeckt, die es sich in der sozialen Hängematte bequem
machten. Was die ostdeutschen Befragten wiedergeben, ist das was sie
unter SCHRÖDERs Hartz-Reformen eingeübt haben. Jetzt da der Hass die
Migranten trifft und nicht nur der Rechtfertigung von Hartz-Reformen
dienen soll, ist die Empörung groß. Der Zauberlehrling hat die
Kontrolle über die Hack-Hierarchie verloren.
"Leipzig ist der Senkrechtstarter unter den Städten in den neuen
Ländern. Einst grau und am Tagebaurand gelegen, die
Gründerzeitfassaden verfallen, wuchs sie seit 2010 um gut 15 Prozent.
In Leipzig leben jetzt fast 600.000 Menschen, mehr als in Essen. Hier
produzieren BMW und Porsche, hier ist die Innenstadt ein
Schmuckkästchen, das die Touristen aus aller Welt anlockt.
Die Eisenbahnstraße liegt auch in Leipzig, sie befindet sich in einem
der wenigen migrantisch geprägten Viertel in Ostdeutschland. Die 1,5
Kilometer lange Meile ähnelt der Sonnenallee in Berlin-Neukölln. Auch
hier gibt es Restaurants für Falafel und Döner, Shishabars,
Spielotheken, Dealer, Frauen mit Kopftüchern. 2017 registrierte die
Polizei im Viertel 2.311 Straftaten. Drogenhändler wickeln ihre
Geschäfte ab, Passanten werden beraubt. Seit November ist um die
Straße eine Waffenverbotszone errichtet worden",
beschreibt WINTER ein Leipziger
Viertel, das gentrifiziert werden soll und deshalb dem üblichen
medialen Drehbuch folgt. Das aber ist nicht das Thema von WINTER, der
in dem Viertel den "Gegenentwurf des besorgten Bürgers" entdeckt hat:
einen Ladenbesitzer, der grün wählen will, denn:
"Es gibt weltoffene, tolerante,
großstädtische Milieus, die auch in den wenigen anderen Großstädten im
Osten existieren. Und es gibt die, die mit den Umbrüchen ihren Frieden
gemacht haben. Die sehen, was besser geworden ist und was nicht, und
für sich das Beste daraus ziehen."
So stellt sich unsere
kosmopolitisches Elite ihre Bürger vor, die sie in Ruhe - und ohne
Störung - regieren kann. Verhältnisse wie in autokratischen Staaten,
nur noch besser, d.h. selbstoptimiert.
"Es ist die Aufgabe der Politik und
Zivilgesellschaft, darauf Antworten zu finden. Vor allem aber müssen
die Menschen das Vertrauen zurückgewinnen, dass sich die Politik auch
um ihre Interessen kümmert.",
steht dagegen am Anfang des
Abschnitts. Das ist aber das Gegenteil dessen, was das Narrativ ist,
das dann folgt!
Waren das alles Beispiele
aus Sachsen und Brandenburg, so wird uns am Ende
Bitterfeld-Wolfen im
Landkreis Anhalt-Bitterfeld vorgestellt.
Im Schlussabschnitt zitiert WINTER
dann nochmals den Soziologen KOLLMORGEN, der die AfD als notwendig
erachtet, um den etablierten Parteien Druck zu machen:
"Demokratie müsse wehtun, sonst
funktioniere sie nur für die herrschenden Eliten."
Fazit: Der Artikel ist eine
rhetorische Anbiederung an die vom Spiegel Enttäuschten, denn
schließlich ist das Nachrichtenmagazin in der Krise. Es repräsentierte
die geschlossene westdeutsche Gesellschaft der oberen Mittelschicht.
Eine wirkliche Wende ist jedoch nicht sichtbar!
NIEJAHR, Elisabeth (2019): Perlen
des Ostens.
Aus Angst vor der AfD zieht die Politik die verfehlte
Subventionspolitik für Ostdeutschland weiter durch. Doch es fehlt
nicht an Geld - eher an Machern,
in: WirtschaftsWoche
Nr.36
v. 30.08.
Elisabeth NIEJAHR, die
kurz vor der Jahrtausendwende noch für die chilenische
Militärdiktatur schwärmte, erwärmt sich nun für die brutalstmögliche
Ökonomisierung des Sozialen. NIEJAHR pöbelt gegen weitere "Sozialstransfers"
in den Osten, wozu Investitionen in die von dem Kohleausstieg
betroffenen Regionen im Osten gezählt werden. Es werden die üblichen
FDP-nahen Experten zitiert. Motto: Geld in ländliche Räume zu
investieren ist Verschwendung. Stattdessen: weitere Leuchttürme in den
Zentren, die am Sankt Nimmerleinstag auch in die letzte Ecke
ausstrahlen sollen.
NIEJAHR erklärt uns, dass sich
Populisten nicht durch Sozialpolitik bekämpfen lassen. Beispielhaft
soll dafür das
sächsische Glashütte stehen. Dies ist aber eine falsche
Fragestellung. Wer bereits AfD wählt, kann nicht so leicht
zurückgeholt werden. Umgekehrt ist es richtig: Es geht in erster Linie
um diejenigen, die noch zögern die AfD zu wählen und um das Problem,
dass das Vertrauen in die etablierten Parteien und ihre Versprechungen
in Sachen Sozialpolitik geschwunden ist.
HANDELSBLATT-Wochendthema:
Ist der Osten noch zu retten?
Fachkräftemangel.
Überalterung. Strukturschwäche |
DEMLING, Alexander/GREIVE, Martin/OLK, Julian (2019): Ist der Osten
noch zu retten?
Die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen werden zum
Referendum über die Zukunft Ostdeutschlands - die Region droht
wirtschaftlich zurückzufallen. Es fehlt vor allem an qualifizierten
Arbeitskräften,
in: Handelsblatt
v. 30.08.
DEMLING/GREIVE/OLK spielen die Demografie-Karte aus, um die
Ostdeutschen davon abzuhalten die AfD zu wählen. Die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme ist inzwischen offenbar unhinterfragbar
geworden, weshalb die Negativszenarien gar nicht erst belegt werden.
Stattdessen Drohungen:
"Wenn am Sonntag im Osten gewählt
wird, müssen sich die 5,4 Millionen Wahlberechtigten entscheiden:
zwischen einer Politik, die sich den Herausforderungen der Zukunft
stellt, und einer, die in der Vergangenheit leben will."
Während uns also die etablierten
Parteien blühende Landschaften im Osten versprechen, die genauso
ungewiss sind wie jene, die Helmut KOHL in den 1990er Jahren
versprach, sind Alternativen zur AfD jenseits der selbstgerechten
Parteien nicht erkennbar.
Das Handelsblatt verspricht
uns einen neuen "Masterplan Ost" als Lösung, den uns ausgerechnet
Martin GREIVE vorstellt!
ROTHENBERG, Christian & Thomas SIGMUND (2019): Keine Mehrheiten ohne
die Grünen.
CDU und SPD drohen am Sonntag erhebliche Verluste. Die
Regierungsbildung dürfte kompliziert werden. Und die Große Koalition
in Berlin könnte weiter unter Druck geraten,
in: Handelsblatt
v. 30.08.
ROTHENBERG & SIGMUND präsentieren Umfragen von INSA vom 27.08. für
Sachsen und
Brandenburg, die teilweise weit entfernt von den tatsächlichen
Ergebnissen liegen. Für Thüringen rechnen die Autoren mit einem
Triumph von Bodo RAMELOW. Mike MOHRING von der CDU fehle eine "echte
Machtoption". Der SPD in Sachsen droht sogar das Scheitern an der
Fünf-Prozent
Hürde:
"(I)n Sachsen ist bei sieben
Prozent in den Umfragen selbst ein Reißen der Fünfprozenthürde
vorstellbar - zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wäre die
einstige Volkspartei in einem deutschen Landtag nicht mehr vertreten."
GREIVE, Martin (2019): Fünf Strategien für den Osten.
Wie lässt sich die wirtschaftliche Lücke zwischen alten und neuen
Ländern schließen? Der Handelsblatt-Redakteur stellt die wichtigsten
Ideen vor - und unterzieht sie einem Realitätscheck,
in: Handelsblatt
v. 30.08.
Martin GREIVE legt seine
neoliberale Messlatte an das Investitionsprogramm, mit dem mehr
Wachstum erkauft werden soll. Die Bewertung: Statt Straßen mehr
Datennetze. Warum Straßen und nicht mehr Schienennetz? Statt einer
Sonderwirtschaftszone ("pauschale Steuervorteile") will GREIVE weniger
Bürokratie. Die Bildungsoffensive darf natürlich nicht fehlen:
Leuchttürme statt Breitenbildung! Der Rückzug aus der Fläche würde dem
Neoliberalen gut gefallen, wenn er politisch umsetzbar wäre.
Zuwanderung fördern, um die Löhne niedrig halten und bessere
Arbeitsbedingungen umgehen zu können, ist der neoliberale Königsweg.
Fazit: Keiner der Ideen ist neu und
ein Masterplan ist dieses Sammelsurium schon gar nicht.
RICKENS, Christian & Thomas TUMA (2019): "Sammelbecken für
Enttäuschte".
Renate Köcher: Die Allensbach-Chefin über den Bevölkerungsschwund
in Ostdeutschland und seine Folgen,
in: Handelsblatt
v. 30.08.
WILLISCH, Andreas (2019): Wege aus der Desaster-Rhetorik.
Gegen rechts hilft Sachlichkeit, so heißt es gern. Aber reden wir
eigentlich sachlich über den Osten?
in: TAZ
v. 07.09.
Andreas WILLISCH, Mitherausgeber von
Neuland gewinnen - die Zukunft in Ostdeutschland gestalten
(2017), kritisiert die vorherrschende Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme, da
mit dem
Verweis auf das angebliche zukünftige Schrumpfen Denkverbote verordnet
werden:
"Ich war zwei Tage vor den Wahlen
in Demmin. Zwei mecklenburg-vorpommerische Staatssekretäre hatten zur
Sommertour geladen. Die Leute von T30 - (...) schräg gegenüber dem
AfD-Büro - sollten besucht werden. (...). Heraus kamen 15 Vorschläge,
wie das Leben in Demmin angenehmer gemacht werden könnte. Doch die
Diskussion drohte im Würgegriff der Demografie zu ersticken: Tags
zuvor waren die neuesten Prognosen bekannt geworden, wonach Demmin in
20 oder 30 Jahren noch einmal stark schrumpfen würde.
So geht die »sachliche Debatte« seit Jahren: Engagement läuft ins
Leere, weil wir in Zukunft weniger werden. (...).
Hinter der demografischen Rhetorik verbirgt sich etwas viel
Entscheidenderes: Irgendwie sind die Menschen (...) schuld, dass es
dem Ort und der Region schlechtgeht. Für die verantwortliche Politik
ist das bequem, enthebt es sie doch scheinbar der Aufgabe, dafür
politische Entscheidungen zu treffen und am Ende womöglich für eine
Region, in der sich die Leute so sehr selbst schädigen, mehr statt
weniger Geld auszugeben. (...).
An die Stelle falscher neoliberaler Politik tritt eine ganz und gar
unpolitische Sicht auf die Gesellschaft".
Die AfD betrachtet WILLISCH als
Projektionsfläche für den ganzen politischen Unmut. Die Linkspartei,
als ehemalige Partei, mit der niemand koalieren durfte, rückte dadurch
zur staatstragenden Partei auf, denn:
"Die neue Aufgabe ist jetzt, die
AfD-Mehrheit zu verhindert."
WILLISCH fordert einen neuen
"Solidaritätspakt" für die Engagierten, wer immer das sein mag.
LEHMANN, Anna (2019): Die linke Krise.
Die Linkspartei ist in
Brandenburg und
Sachsen auf das Ergebnis von 1990 zurückgefallen. Mit dem Ende als
Ostpartei steht auch ihre Existenz als bundesweite Kraft auf dem
Spiel. Wie soll es weiter gehen?
in: TAZ
v. 07.09.
"In der Parteizentrale in Berlin
gilt die Faustformel: Um 7 bis 8 Prozent bei Bundestagswahlen zu
erreichen, muss die Linke im Osten etwa 20 Prozent einfahren. Doch
nach dieser Formel käme die Partei derzeit nicht einmal über die
5-Prozent-Hürde. Die Wahlen in Sachsen und Brandenburg (...) stürzen
die Linke auch als Gesamtpartei in eine existenzielle Krise",
meint Anna LEHMANN, die sich die
Linkspartei als Kopie der Grünen zurecht schreibt. Innerparteiliches
Feindbild Nr.1 ist Sahra WAGENKNECHT und die Sammlungsbewegung
"Aufstehen".
Das Idealbild der Linkspartei ist
dagegen Thüringen, wo noch Rot-rot-grün unter dem einzigen linken
Ministerpräsidenten regiert. Dieser soll nun den Erfolg der SPD in
Brandenburg und der CDU in Sachsen replizieren. Das übersieht, dass in
diesen Ländern jeweils ein weiterer Koalitionspartner notwendig
geworden ist. Was das für Thüringen bedeuten würde, wird tabuisiert!
EBBINGHAUS, Uwe (2019): So viel Kompost war nie im Roman.
Die Longlist des Deutschen Buchpreises hat ein prägendes Thema: das
Dorf. Warum ist es so inspirierend für die neue Literatur? Eine
kursorische Lektüre,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.09.
Uwe EBBINGHAUS stellt uns jene Dorfbücher vor, die unser
elitärer Literaturbetrieb
vorsortiert hat. Darunter befinden sich auch Der Große Garten
von
Lola RANDL und Kintsugi von Miku Sophie KÜHMEL, die in dem
brandenburgischen Hipster-Dorf
Gerswalde spielen.
Fazit: Wer nicht zum urbanen
kosmopolitischen Milieu gehören will, und sich deshalb deren
Distinktionsgebräuche nicht aneignen muss, der muss sich diese öde
Dorfliteratur nicht antun.
BARLÖSIUS, Eva (2019): Infrastrukturen als soziale
Ordnungsdienste. Ein Beitrag zur Gesellschaftsdiagnose,
Frankfurt a/M: Campus Verlag
"Der Buchtitel »Infrastrukturen als soziale Ordnungsdienste«
(...) behauptet, dass, um zu verstehen, was Infrastrukturen
gesellschaftlich leisten, vorwiegend, wenn nicht sogar einzig
die soziale Seite der Infrastrukturen zu betrachten ist. Sie
begründet (...) welche sozial- und gesellschaftsstrukturierende
Eigenschaften Infrastrukturen inhärent sind, von denen eine
besonders hervorzuheben ist: sozial-räumliche Ordnungen(en) zu
fördern" (S.199),
schreibt
Eva BARLÖSIUS, die Infrastrukturkämpfe um die Durchsetzung der
Wissensgesellschaft heraufziehen sieht. Aus dieser Sicht ist das
alte wohlfahrtsstaatliche, an die Industriegesellschaft
gekoppelte Infrastrukturregime überholt, aber das neue
wissensgesellschaftliche Infrastrukturregime noch umkämpft.
BARLÖSIUS
wendet sich damit gegen jene vorherrschende Sicht, nach der der
"demografische Wandel" den Rückbau von Infrastrukturen
erforderlich macht:
"Eine
(...) verengende Forschungsperspektive, die vermieden werden
sollte, weil sie (...) das infrastrukturelle Regime der
wohlfahrtsstaatlichen Industriegesellschaft als Ausgangs- und
Referenzpunkt für die Analyse der gegenwärtigen Transformationen
der Infrastrukturen setzt, besteht darin, diese einzig oder
vorwiegend als Reaktion auf den demografischen Wandel zu
betrachten und darin begründet zu sehen (zum Beispiel Kersten et
al. 2012a; 2012b).
Eine solche Perspektive repliziert die seit einigen Jahren
beobachtbare
»Demographisierung des
Gesellschaftlichen« (...), die sich auf eine Rechtfertigung des
Wandels - meist des Abbaus und der Schließung - von
Infrastrukturen stützt, welche sich weitgehend politischer und
gesellschaftlicher Argumentationen zu entziehen vermag, indem
sie auf die Faktizität des Demografischen verweist. (...)(Für)
den Auf- und Ausbau von Infrastrukturen (waren) benötigte und
gewünschte Vorleistungen, Konzeptionen infrastruktureller
Sozialität, Regelwerke und Professionen sowie Prozesse der
Verräumlichung entscheidend, aber nicht demografische Maßgaben."
(S.93)
Anhand von vier Fallstudien
beschreibt BARLÖSIUS Wandlungsprozesse des Infrastrukturregimes.
Dabei wird dem "raumüberwindenden" Infrastrukturregime der
Industriegesellschaft die zum einen die staatsferne, von Bürgern
getragene "Verdörflichung" und zum anderen das "überräumliche"
Infrastrukturregime der Wissensgesellschaft gegenübergestellt.
Es geht hier also auch um die kulturelle Spaltung der
Mittelschicht, die z.B. bei Cornelia KOPPETSCH und Andreas
RECKWITZ als
Kulturkampf zwischen globalen Eliten und Konservativen
beschrieben wird. Während dort jedoch die symbolischen Kämpfe im
Vordergrund stehen, wobei die
materielle Dimension der Infrastruktur unterbelichtet
bleibt, setzt BALÖSIUS genau dort an, wenngleich hier die
sozialen Aspekten - zulasten der Technologie - überbetont
werden. Es geht hier also um die soziale Frage - jenseits von
klassischen Verteilungskonflikten und symbolischen
Kulturkämpfen.
KAMPMANN, David & Maja BRANKOVIC (2019):
Die neuen Bundesländer holen wirtschaftlich auf.
Ostbeauftragter stellt Bericht zur Deutschen Einheit vor. Ökonomen
fordern Hilfe für den ländlichen Raum,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.09.
"Die Geißel der neunziger Jahre, die Arbeitslosigkeit, ist heute kein
Thema mehr",
zitieren KAMPMANN & BRANKOVIC den
Ostbeauftragten. Diese Sicht ist äußerst kurzsichtig, denn die
Arbeitslosigkeit der 90er Jahre tritt uns heute als Altersarmut
entgegen. Nur wer in Politikkategorien und nicht in
Biografiekategorien denkt, kann einen solchen gedankenlosen Satz
aussprechen ohne seine Implikationen wahrzunehmen.
Ein Teil
der Wirtschaftsprofessorenschaft ist inzwischen von den AfD-Erfolgen
aufgeschreckt worden. Obwohl die Probleme des ländlichen Raums nicht
neu sind, hatten sie niemanden interessiert. Wenn also nun die
Ökonomen reagieren, stärkt das nur die AfD, weil die Wähler sehen,
dass sie nur mit der Wahl der AfD etwas bewirken können.
"Wo (...) die wirtschaftliche
Perspektive fehle, entstehe Raum für Staatsverdruss, sagte er (Anm.:
Gunther Schnabl) in Leipzig.
Als Beispiel nannte Schnabl die Stadt Hoyerswerda, wo die
Einwohnerzahl seit 1990 von 65.000 auf rund 33.000 zurückgegangen sei.
(...). Ziel müsse (...) sein, die Flucht der jungen Menschen in die
Städte einzudämmen und ihnen auch in dünnbesiedelten Regionen eine
Zukunft zu ermöglichen. Auch der Düsseldorfer Wirtschaftsprofessor
Jens Südekum warnte davor, die ländlichen Regionen zu vernachlässigen.
»Die Mehrheit der Deutschen hat nur eine äußerst geringe bis gar keine
Bereitschaft, in eine andere Stadt zu ziehen«, sagte Südekum der F.A.Z.
Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensumständen werde von diesem
Personenkreis nicht durch
»exit«,
also Wegzug, beantwortet, sondern möglicherweise durch »voice« - also
durch radikale Entscheidungen an der Wahlurne."
Bislang war Umzugsmobilität das
Allheilmittel unserer neoliberalen Hartzgesellschaft, das wurde auf
dieser Website schon im
Jahr 2002 kritisiert. Das kümmerte damals jedoch niemanden, denn
einzig die Interessen der "Umzugsmobilen" und aufstiegsorientierten
Fernpendler wurden im Parteiensystem repräsentiert. Mit der AfD haben
die "Immobilen" nun eine Stimme erhalten, auch wenn diese Partei
keineswegs ihre Probleme lösen wird.
BRINKMANN, Bastian (2019): Halb zog es sie.
Die jungen Hochqualifizierten ziehen weg, andere bleiben: Wie kann der
Staat abgehängten Regionen helfen? Neuerdings diskutieren Deutschlands
Ökonomen verstärkt darüber, wie die Politik helfen kann,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
26.09.
Anlässlich der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik in Leipzig,
berichtet Bastian BRINKMANN über eine Umlenkung des Ökonomeninteresses
durch Fördertöpfe auf regionalwirtschaftliche Fragen. Erkenntnisse von
Alexandra SPITZ-OENER werden zitiert, als ob sie neu wären. Der Mensch
ist kein Homo Oeconomicus? Neoliberale Anreizprogramme hat das bislang
nicht interessiert. Angeblich bleiben nun die flexiblen Menschen
lieber in der Heimat, trotz toller Jobs anderswo. Möglicherweise aber
haben sich nur die Fördertöpfe für Wissenschaftler verändert?
"Für junge hoch qualifizierte Leute
auf der ganzen Welt sind Ballungsräume attraktiver (...). Andere
Menschen stünden vor
»Mobilitätsbarrieren«: Sie haben Familie, ein Haus. Diese Menschen
seien sehr verhaftet in ihrer Region - und bewerten die
Zukunftsfestigkeit ihres eigenen Arbeitsplatzes überoptimistisch",
wird SPITZ-OENER zitiert. Dahinter
verbirgt sich lediglich das alte neoliberale Menschenideal. Wer nicht
diesem Ideal entspricht, der ist dann "mobilitätsbehindert" und
illusionistisch. Wer jedoch so engstirnig denkt, der übersieht die
Voice-Option jener Menschen, die sich nicht
dem Diktat des "flexiblen Menschen" unterwerfen wollen.
GRAW, Ansgar (2019): Gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz
Deutschland binnen zehn Jahren?
Innenminister Seehofer (CSU) kündigt Behördenumzug in den Osten an.
FDP-Generalsekretärin Teuteberg will Privatunternehmen mit
steuerlicher Entlastung locken,
in:
Welt v.
04.10.
BBSR (2019): Mittelstädte wachsen nicht nur im Süden.
Neue BBSR-Analyse zu Bevölkerungsdynamik und Innenentwicklung,
in:
Pressemitteilung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und
Raumforschung v.
15.10.
"Eine neue Studie des
Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) lenkt
den Blick auf die 624 Mittelstädte in Deutschland: Sie zeigt,
dass sich die Bevölkerung zwischen 2011 und 2017 in den Städten
mit 20.000 bis 100.000 Einwohnern überwiegend positiv entwickelt
hat.
Knapp 30 Prozent der Einwohner Deutschlands leben in Städten
mittlerer Größe. Diese bilden damit für viele Menschen den
Lebensmittelpunkt. Beliebt sind vor allem große Mittelstädte:
Sie wuchsen gemessen an ihrer Bevölkerung zwischen 2011 und 2017
durchschnittlich um 3,2 Prozent. Spitzenwerte liefern Gießen
(+14,8 Prozent), Böblingen (+10,8 Prozent) und Landshut (+10,8
Prozent). Besonders häufig vertreten sind unter den Top 20
südlich gelegene große Mittelstädte. Viele kleine Mittelstädte
zeigen aber ebenfalls eine positive Dynamik – im Schnitt lag das
Wachstum hier bei 2,6 Prozent. Sie können Metropolen mit
überhitzten Wohnungsmärkten entlasten.
Speziell Mittelstädte mit größeren Hochschulen wirken besonders
für junge Menschen anziehend. So gibt es neun westdeutsche
Hochschulstädte unter den Top 20 der Mittelstädte, die zwischen
2011 und 2017 den stärksten Zuwachs junger Menschen zu
verzeichnen hatten. In Kleve und Gießen erhöhte sich der Anteil
der 18- bis 30-Jährigen zwischen 2011 und 2017 am deutlichsten,
um jeweils mehr als 3 Prozent. Außerdem sind Mittelstädte –
besonders im Umland der größten deutschen Städte – für
Ruhestandswanderer attraktiv, also für den relativ kleinen
Anteil der über 50-Jährigen, die noch einmal umziehen. Kommunen
können und müssen das Bevölkerungswachstum steuern.
Wie sie unter unterschiedlichen Bedingungen dabei
Innenentwicklung betreiben, veranschaulichen die Fallbeispiele
Celle und Konstanz. Die BBSR-Analyse zeigt, wie Mittelstädte
dabei vorgehen und auf eine qualitätvolle, kompakte und
ressourcenschonende Siedlungsentwicklung hinwirken können.
Gleichzeitig müssen sie sich mit den Herausforderungen der
Innenentwicklung wie hohen Bodenpreisen auseinandersetzen und
unterschiedliche Ansprüche von Wohnen, Gewerbe, Stadtgrün und
Infrastruktur miteinander vereinbaren",
meldet das Bundesinstitut für
Bau-, Stadt- und Raumforschung anlässlich der Veröffentlichung
der Studie
Bevölkerungsdynamik und Innenentwicklung in Mittelstädten.
TÖNNESMANN, Jens (2019): Da geht was.
Eine neue Studie zeigt: Familienunternehmer haben
die Wendezeit erstaunlich gut überstanden - und treiben nun die
Wirtschaft Ostdeutschlands an,
in:
Die ZEIT
Nr.43. 17.10.
Jens
TÖNNESMANN preist anlässlich einer Auftragsstudie den Erfolg
mittelständischer Unternehmen in Ostdeutschland. Exemplarisch werden
drei Unternehmen präsentiert: Die
Bauerfeind AG in Thüringen, das Pharmaunternehmen Apogepha in
Dresden-Striesen (Sachsen) und Miltitz Aromatics im Chemiepark von
Bitterfeld (Sachsen-Anhalt).
ARNU, Titus (2019): Schlamm drüber.
Rheinland-Pfalz: Lange waren die alten Kurorte in der Krise, nun leben
sie wieder auf - als Refugien für ausgelaugte Performer,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
26.10.
SCHWILDEN, Frédéric (2019): "Man hat die Gesellschaft auf dem Land
vergessen".
Die meisten Deutschen leben in Kleinstädten und Dörfern. In Berlin und
anderen Metropolen fordern Grüne Fahrverbote und Enteignungen. Ein
Realitätscheck der grünen Wirklichkeit außerhalb der Großstadt-Blase,
in:
Welt v.
26.10.
DESTATIS (2019): 30 Jahre Deutsche Einheit: Familien in Ost- und
Westdeutschland werden sich immer ähnlicher,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt v. 07.11.
"Aufgrund der Unterschiede im
Altersaufbau der Bevölkerung leben in den ostdeutschen Bundesländern
gegenwärtig weniger potenzielle Eltern. Obwohl die jährlichen
Geburtenraten der ostdeutschen Frauen seit 2008 höher sind als
diejenigen der westdeutschen Frauen, wurden 2018 im Osten Deutschlands
nur 8 Kinder je 1000 Einwohnerinnen und Einwohner geboren. Im Westen
waren es 10 Kinder",
berichtet das Statistische
Bundesamt unter der irreführenden Überschrift Höhere Geburtenraten,
aber weniger potenzielle Eltern im Osten.
Statt der Anzahl potenzieller Eltern wird uns lediglich die
rohe Geburtenziffer
genannt, die ein Indikator für eine unterschiedliche
Altersstruktur ist. Zudem handelt es sich um eine Momentaufnahme, aber
nicht um eine Entwicklungsrichtung, die für die Zukunft
ausschlaggebend ist.
Während in den vergangenen Jahren
die rohe Geburtenziffer in der Regel nur im internationalen Vergleich
bzw. in einigen ostdeutschen Bundesländern herausgestrichen wurde,
wird seit einiger Zeit dieser Indikator auch zum innerdeutschen
Vergleich herangezogen. Es ist der Versuch das Thema Alterung der
Bevölkerung über die Hintertür in den Debattenvordergrund zu rücken.
Nachdem der Bevölkerungsrückgang,
der in den Nuller Jahren als Hysteriegenerator gedient hat, seit fast
10 Jahren floppt, soll die Alterung nun den Hysteriefaktor beim
demografischen Wandel liefern. Aber auch das ist nur eine
Halbwahrheit, denn die Alterung in Ostdeutschland ist die Folge des
Zusammenbruchs der DDR-Wirtschaft nach der Wende und die Vernichtung
von Frauenarbeitsplätzen durch die Treuhand-Privatisierung in den
1990er Jahren. Die folgende Abwanderung junger Frauen in den Westen
tritt uns nun als "demografisches" Problem entgegen, obwohl es ein
Kollateralschaden des Politikversagens ist. Auf dieser Website wird
deshalb von einer Demografisierung gesellschaftlicher Probleme
gesprochen. Es geht hier um Problemverschiebungen und den Versuch die
Aufarbeitung geschichtlicher Fehlentwicklungen zu verhindern.
Fazit: Mit der Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme werden Ursachen wegdefiniert. Wer vom
Fehlen potenzieller Mütter schwadroniert, der sucht die Ursache im
falschen Geburtenverhalten, statt in strukturellen Problemen in der
Folge der Wiedervereinigung.
FRÖNDHOFF, Bert/KNITTERSCHEIDT, Kevin/WITSCH, Kathrin (2019):
Auferstanden aus Ruinen.
Mit der Stahlproduktion in Eisenhüttenstadt, dem Chemiepark in
Leuna und dem Braunkohlerevier in der Lausitz haben drei
wichtige Industriezentren Ostdeutschlands den Untergang der DDR
überlebt. Nun stehen sie vor dem nächsten Umbruch,
in:
Handelsblatt v.
07.11.
"Bis 1994 hat die Treuhand rund 3.500 DDR-Betriebe abgewickelt.
Der Rest wurde privatisiert: 85 Prozent des Produktivvermögens
gingen in westdeutsche Hände.
Eine De-Industrialisierung der ehemaligen DDR hat es aus Sicht
von Historikern und Ökonomen aber nicht gegeben. In vielen
Kernregionen Ostdeutschlands haben sich aus den Ruinen bis heute
wieder neue und erfolgreiche industrielle Zentren entwickelt. So
etwa im Stahl, in der Chemie und im Braunkohleabbau",
verkünden uns FRÖNDHOFF/KNITTERSCHEIDT/WITSCH zum Jubiläum des
Mauerfalls eine schöngefärbte West-Meinung. Als Historiker wird
uns ein Angestellter eines Stahlwerks in Eisenhüttenstadt
präsentiert, der für die positive Unternehmensdarstellung
zuständig ist. Die Erfolge lesen sich dagegen folgendermaßen:
"Von den 20.000 Mitarbeitern,
die das EKO zu seinen Hochzeiten ernährte, sind heute nur noch
rund 2.300 übrig geblieben. Auch die Stadt drumherum ist
geschrumpft. Seit den Achtzigerjahren hat sich die Bevölkerung
auf 25.000 Menschen halbiert."
Das wird von dem
Unternehmenshistoriker dann als geglückte Privatisierung
bezeichnet. Die Betroffenen dürften das jedoch anders sehen.
Auch Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt wird uns als tolle
Erfolgsgeschichte präsentiert:
"Die Stadt galt als
dreckigster Ort in Europa. (...).
Heute präsentiert sich die in Bitterfeld-Wolfen umbenannte Stadt
neu und herausgeputzt, ähnlich wie der nahe gelegene
Chemiepark."
Die Stadt Bitterfeld wurde
jedoch nicht einfach nur umbenannt, sondern zwei schrumpfende
Städte, nämlich Bitterfeld und Wolfen wurden zu einer Stadt
fusioniert. Bitterfeld-Wolfen wird uns als Chemiestandort
präsentiert, aber nicht als
geflopptes Zentrum der Solarindustrie. Stattdessen geht es
weiter zum Chemiepark Leuna und zum BASF-Werk in
Schwarzheide (Brandenburg). In Schwarzheide wurde die AfD
bei der Landtagswahl 2019 mit 32,7 % stärkste Partei. Das sind
die Resultate dieser Erfolgsgeschichte!
Zum Abschluss wird uns die
Erfolgsgeschichte Lausitz präsentiert, obwohl auch dort die AfD
überdurchschnittliche Ergebnisse erzielte.
Fazit: Wer solch unverschämte
Jubelprosa verfasst, darf sich nicht wundern, wenn die
etablierten Parteien in Deutschland dafür die Denkzettel
kassieren!
TERPLITZ, Katrin (2019):
Das langsame Sterben der kleinen Läden.
Gewerbevielfalt: Das Kleingewerbe hält dem Wettbewerb großer
Ketten immer weniger stand. Die Folge: verödete Innenstädte,
in:
Handelsblatt v.
08.11.
NIMZ, Ulrike & Antonie RIETZSCHEL (2019): Wo die Einheit wohnt.
Die Wende hat die Landkarte verändert. Es gibt keine Grenze mehr
- dafür Straßen, Plätze, Brücken und Tunnel der Einheit. Eine
Deutschlandreise,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
09.11.
Die angebliche Deutschlandreise beschränkt sich auf
Teutschenthal in Sachsen-Anhalt und Wiesbaden, die
Landeshauptstadt von Hessen.
KERSTEN, Jens/NEU, Claudia/VOGEL, Berthold (2019): Gleichwertige
Lebensverhältnisse - Für eine Politik des Zusammenhalts,
in: Aus Politik und
Zeitgeschichte Nr.46 v. 11.11.
KERSTEN/NEU/VOGEL beschreiben in ihrem Artikel die
Kollateralschäden des progressiven Neoliberalismus in
Deutschland:
"Spätestens seit der
weltweiten Finanzkrise Ende der 2000er Jahre ist Katerstimmung
eingetreten, nicht zuletzt auch deshalb, weil die (sozialen)
Kosten der Wiedervereinigung unterschätzt und die Konsequenzen
des demografischen Wandels lange ausgeblendet wurden. Zugespitzt
formuliert: Wettbewerb und Neoliberalismus lebten lange von den
sozialstaatlichen Infrastrukturen, die sie eigentlich ablehnten
– bis diese Infrastrukturen schließlich veraltet, aufgebraucht
oder abgenutzt waren. Überdies folgte die Politik zu lange der
Maxime, dass der Markt in seiner Leistungsfähigkeit öffentlichen
Interventionen überlegen sei. Der Föderalismus in Deutschland
wurde in eine Wettbewerbsordnung umdefiniert. Wo aber der
Gedanke des Wettbewerbsföderalismus herrscht, da ist es bis zum
Wettbewerb der Regionen, Gemeinden und Bezirke nicht weit,
freilich ohne dass jemals Chancengleichheit in diesem
territorialen Wettbewerb bestanden hätte. Zugleich wurde in
diesem Kontext auch eine ganze Reihe von Sparprogrammen und
Entbürokratisierungsinitiativen umgesetzt, die die territorialen
Fliehkräfte nur beschleunigt haben und die territoriale
Ungleichheit weiter wachsen ließ." (S.6)
KERSTEN/NEU/VOGEL sehen die vollmundigen Absichtserklärungen
gleichwertiger Lebensverhältnisse durch das
Bundesverfassungsgericht faktisch auf einen Minimalstandard
reduziert:
"An die Stelle eines
wohlfahrtsstaatlich überzogenen Verständnisses gleichwertiger
Lebensverhältnisse ist ein absolutes Minimum föderalen
Zusammenhalts getreten, das eigentlich erst dann einschlägig
ist, wenn die Gesellschaft der Bundesrepublik aufgrund
ökonomischer oder demografischer Disparitäten und
Spaltungstendenzen auseinanderzufallen droht." (S.7)
Für KERSTEN/NEU/VOGEL droht Deutschland jedoch nicht
auseinanderzufallen, sondern es gibt lediglich zunehmende
Polarisierungstendenzen. Gleichzeitig wird verharmlost, wenn von
einem "flächendeckenden Problem" schwadroniert wird, obwohl sich
die Probleme der einzelnen Regionen gravierend unterscheiden.
Die Studie
Ungleiches Deutschland der Friedrich-Ebert-Stiftung
bringt das auf die Formel "Fünfmal Deutschland – fünfmal ein
anderes Land". Aus der folgenden Tabelle sind die massiven
Unterschiede in Deutschland ersichtlich:
Tabelle: Die 5
Raumtypen mit ihrer Problemstruktur und Bandbreite der
Indikatoren |
Dimension |
-/+ |
Dynamische Groß-
und Mittelstädte
mit Exklusionsgefahr |
Starkes (Um-)Land |
Solide Mitte |
Ländlicher Raum
in der dauerhaften Strukturkrise |
Städtische Räume
im
andauernden Strukturwandel |
Kreisanzahl |
78 Kreise |
62 Kreise |
187 Kreise |
53 Kreise |
22 Kreise |
Einwohner |
22,7 Mio. |
13,7 Mio.
|
32,8 Mio. |
8,1 Mio. |
5,4 Mio. |
Anteil hoch-
qualifizierter
Beschäftigter |
Min. |
Delmenhorst |
Berchtesgardener Land |
Wittmund |
Prignitz |
Pirmasens |
Max. |
Heidelberg |
München (Lkr) |
Göttingen |
Meißen |
Bochum |
Altersarmut |
Min. |
Gera |
Eichstätt |
Märkisch
Oderland |
Greiz |
Remscheid |
Max. |
Frankfurt a/M |
Lindau/Bodensee |
Emden |
Nordwestmecklenburg |
Offenbach a/M |
Kinderarmut |
Min. |
Ingolstadt |
Pfaffenhofen/Ilm |
Unterallgäu |
Eichsfeld |
Trier |
Max. |
Halle/Saale |
Pinneberg |
Salzgitter |
Uckermark |
Gelsenkirchen |
Lebens-
erwartung |
Min. |
Flensburg |
Nürnberger
Land |
Emden |
Kyffhäuserkreis |
Pirmasens |
Max. |
München |
Starnberg |
Offenbach |
Saale-Holzland-Kreis |
Offenbach a/M |
Hausarzt-
erreichbarkeit |
Min. |
München |
Main-Taunus-Kreis |
Solingen |
Zwickau |
Gelsenkirchen |
Max. |
Frankfurt/Oder |
Oberallgäu |
Emden |
Ostprignitz-Ruppin |
Pirmasens |
Bruttogehalt |
Min. |
Gera |
Berchtesgardener Land |
Teltow-Fläming |
Vorpommern-Rügen |
Pirmasens |
Max. |
Erlangen |
Main-Taunus-Kreis |
Wolfsburg |
Oder-Spree |
Mühleim/Ruhr |
Gemeinde-
schulden |
Min. |
Dresden |
Biberach |
Wolfsburg |
Hildburghausen |
Dortmund |
Max. |
Mainz |
Hochtaunuskreis |
Kusel |
Mansfeld-Südharz |
Pirmasens |
Breitband-
ausbau |
Min. |
Brandenburg/Havel |
Breisgau-Hochschwarzwald |
Eifelkreis
Bitburg-Prüm |
Jerichower Land |
Saarbrücken
(Regionalverband) |
Max. |
Regensburg;
Rosenheim |
Hochtaunuskreis |
Speyer;
Frankenthal/Pfalz |
Suhl |
Herne;
Pirmasens;
Gelsenkirchen |
Binnen-
wanderungs-
saldo |
Min. |
Frankfurt/Oder |
Aschaffenburg
(Lkr) |
Göttingen (Lkr) |
Suhl |
Offenbach a/M |
Max. |
Leipzig |
Herzogtum
Lauenburg |
Havelland |
Rostock (Lkr) |
Mülheim/Ruhr |
|
Quelle:
FES-Studie Ungleiches Deutschland, Tabellen S.10f.;
eigene Darstellung |
Aus Sicht unserer
kosmopolitischen Eliten, zu denen die Autoren gehören, sind
solche Defizite unbedeutend, solange sie sich nicht im
politischen Raum manifestieren. Der
Wahlerfolg der AfD, der von
KERSTEN/NEU/VOGEL als
"soziale Desintegrationseffekte" bezeichnet wird, führt dazu,
dass das Thema der gleichwertigen Lebensverhältnisse erneut auf
die politische Agenda gesetzt wird, nachdem sich der
Rekurs auf
den demografischen Wandel als Motiv erschöpft hatte (siehe
auch weiter unten). Das ist das eigentlich Erschreckende, denn der
Linksliberalismus von Linkspartei bis CDU war sich seiner
Vorherrschaft allzu sicher. Der Vertrauensverlust des
progressiven Neoliberalismus wird von KERSTEN/NEU/VOGEL vor
diesem Hintergrund als Aufgabe der Stärkung der
sozialintegrativen und -kohäsiven Seite der Daseinsvorsorge
formuliert.
Aus Sicht der Autoren reicht
es, wenn das klassische Zentrale-Orte-Konzept, das aufgrund der
neoliberalen Standortpolitik bereits massiv in Mitleidenschaft
gezogen wurde, durch ein "Soziale-Orte-Konzept" zu ergänzen.
Dieses Konzept ist letztlich ein sozialstaatliches
Aktivierungskonzept, das folgendermaßen formuliert wird:
"Bei der Bereitstellung
daseinsvorsorgender Infrastruktur zeigt sich die
Staatsbedürftigkeit der demokratischen Gesellschaft. Dies
bedeutet nicht, dass der Staat die Daseinsvorsorge, die
Infrastrukturen und die öffentlichen Güter selbst und allein zur
Verfügung stellen müsste oder könnte. Er ist dafür insbesondere
auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger, eine aktive
Zivilgesellschaft und eine kooperative Wirtschaft angewiesen."
(S.10)
Oder anders formuliert: Dem
Bürger kommt die Aufgabe zu die Defizite staatlicher
Daseinsvorsorge zu kompensieren. Um die Eigeninitiative zu
fördern, wird die überlokale Generierung von medialer
Aufmerksamkeit für solche vorbildliche Eigeninitiative
empfohlen. Es sollen also sozusagen analog zur DDR "Helden der (Bürger-)Arbeit"
herausgehoben werden. Davon abgesehen, dass dies längst in den
Medien praktiziert wird, ist diese Art der Politikentlastung auf
die Ressourcenstattung der oberen Mittelschicht zugeschnitten,
d.h. es besteht die Gefahr, dass die gesellschaftlichen Gräben
vertieft werden.
KERSTEN/NEU/VOGEL beteuern
zwar, dass das Soziale-Orte-Konzept kein Lückenbüßer sein dar,
aber die Hartz-Reformen haben gezeigt, dass der Anspruch des
Forderns-und-Förderns einseitig aufs Fordern beschränkt wurde
und das Fördern sich in unzureichenden Alibi-Maßnahmen
erschöpfte. Die Ausweitung dieses Aktivierungskonzeptes vom
Arbeitsmarkt auf den Sozialraum könnte deshalb leicht zu einer
Ausweitung der bekannten Sozialschmarotzer-Kampagnen führen. Das
übersteigerte Klassenselbstbewusstsein wie es sich in der
Unterschichtendebatte der Nuller Jahre ausdrückte war ja
bekanntlich der Nährboden für die Radikalisierung dieses Denkens
innerhalb der AfD. Der Kulturkampf, der sich als Kampf der
"Kulturalisierungsgewinner" über die
"Kulturalisierungsverlierer" entwickelt hat, könnte durch das
Soziale-Orte-Konzept noch gesteigert werden, weil die
Ressourcenausstattung der Bürger außer Acht bleibt.
Fazit: Kosmetische
Korrekturen wie sie von
KERSTEN/NEU/VOGEL empfohlen
werden, sind ungeeignet, um die Lebensverhältnisse zu
verbessern. Bereits das Buch
Demografie und
Demokratie der Autoren aus dem Jahr 2012, also vor
Gründung der AfD, zeigt, dass die Sicht der Autoren nicht
wirklich eine Reaktion auf den Wahlerfolg der AfD darstellt,
sondern den Wahlerfolg lediglich als Anlass nimmt, um alte
Denkschablonen als neuen Lösungsweg darzustellen. Im Kapitel 5
(S.47ff.) und Kapitel 6 (S.53ff.) wird in dem Buch bereits jene
Diagnose dargelegt, die sich auch in dem jetzigen Artikel
wiederfindet.
Das Kapitel III Infrastrukturen (S.62ff.) zeigt, dass damals
lediglich statt der AfD der
demografische Wandel als Ursache für
die notwendigen Maßnahmen beschrieben wurde.
Die Autoren sprechen damals
von einer "demografischen De-Infrastrukturalisierung" (S.69),
die zu "sozialpolitischen Desintegrationseffekten" (S.70)
geführt hat. Das Aktivierungskonzept wird als "Motivierung" der
Bürger (S.89) bezeichnet.
"(D)er motvierende Staat
(kann) auf die Aktivierung wohlverstandener Eigeninteressen der
Bürgerinnen und Bürger in Schrumpfungsregionen zur
Gewährleistung des Allgemeinwohls setzen, sofern er
Handlungsspielräume eröffnet und institutionelle Voraussetzungen
schafft sowie Eigenverantwortlichkeiten zulässt." (2012, S.91)
Schon damals wird von einem
"neuen Infrastrukturvertrag zwischen Staat, Wirtschaft und
Bürgern" (S.91) gesprochen, was nun als "Soziale-Orte-Konzept"
vermarktet wird. In einem entscheidenden Punkt aber, wird nun
eine Umkehr der Verhältnisse betrieben. Damals hießt es noch:
"Schrumpfende Infrastrukturen
und Daseinsvorsorgeleistungen zehren die Mitte lokaler
Gesellschaften aus. Die Trägergruppen bürgerschaftlichen
Engagements stehen unter Druck (...). Der Ausbau und die
Sicherung der Infrastruktur produziert auch eine spezifische
Sozialstruktur; mehr noch: Infrastrukturen stabilisieren soziale
Strukturen. (...). Die Abwertung verwaltender Tätigkeiten geht
mit der Aufwertung wettbewerbs-, leistungs- und
konkurrenzorientierter Positionen einher. (...). Diese
Positionskonflikte werden im Rahmen demografischer Schrumpfung
und sozialstruktureller Lichtung nicht gedämpft, sondern
gewinnen an Schärfe. (S.111f.)
Diese
kulturelle Spaltung der Mittelschicht, die damals noch als
Problem gesehen wurde und heute von Sozialwissenschaftlern wie
Andreas RECKWITZ ("Das Ende der Illusionen") und Cornelia
KOPPETSCH ("Die Gesellschaft des Zorns") thematisiert werden,
drückt sich inzwischen auch in den Wahlerfolgen der AfD aus. Im
aktuellen Artikel wird nun diese Spaltung vernachlässigt und
deshalb die Kompensationsmöglichkeiten von
Infrastrukturdefiziten durch die Bürger zu optimistisch
dargestellt.
ELSNER, Katharina (2019): Der Tod der Beeren.
Mecklenburg-Vorpommern: Sanddorn gilt als Vitamin-C-Bombe, reif
sind die Früchte im Herbst. Doch in Nord- und Ostdeutschland,
selbst in China sterben die Pflanzen - und niemand weiß, warum,
in:
TAZ v.
11.11.
SCHIER, Susanne (2019):
Leichte Entspannung.
Die Zahl der überschuldeten Verbraucher in Deutschland ist
erstmals seit fünf Jahren leicht gesunken. Ein Grund zur
Entwarnung ist das aber nicht,
in:
Handelsblatt v.
15.11.
Susanne SCHIER berichtet über den
Schuldneratlas 2019, in dem es um die Überschuldung von
Verbrauchern geht. Ein
Ranking der 401 Kreise und kreisfreien Städte
ermöglicht den Vergleich dieser "Regionen". Die 10 Regionen mit
den höchsten Überschuldungsquoten sind aus der folgenden Tabelle
ersichtlich:
Rang |
Kreis/kreisfreie
Stadt |
Bundesland |
Überschuldungsquote |
1 |
Bremerhaven |
Bremen |
21,7 % |
2 |
Neumünster |
Schleswig-Holstein |
18,7 % |
3 |
Pirmasens |
Rheinland-Pfalz |
18,3 % |
4 |
Herne |
Nordrhein-Westfalen |
18,3 % |
5 |
Wuppertal |
Nordrhein-Westfalen |
18,2 % |
6 |
Gelsenkirchen |
Nordrhein-Westfalen |
18,0 % |
7 |
Duisburg |
Nordrhein-Westfalen |
17,5 % |
8 |
Offenbach a/M |
Hessen |
17,2 % |
9 |
Wiesbaden |
Hessen |
17,1 % |
10 |
Wilhelmshaven |
Niedersachsen |
17,1 % |
WIRNSHOFER, Josef (2019): Home, sweet home.
Bayern: Grafenwöhr lebt seit 1945 mit und von den US-Soldaten.
Hier üben und hier lieben sie, von hier aus fahren sie in den
Krieg. Was, wenn sie abziehen?
in:
Süddeutsche Zeitung v.
15.11.
KLÄSGEN, Michael (2019): Gar nicht so fein.
Bayern:
Die Porzellan-Industrie steuert auf eine neue Krise zu. Nach Meissen
steckt auch Rosenthal in Schwierigkeiten. Eine für das
Unternehmen untypische Aktion verärgert Fachhändler und wirft
Fragen auf,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
16.11.
Michael KLÄSGEN berichtet über die Bedeutung des
Porzellanherstellers Rosenthal für das oberfränkische Selb.
HEILIG, René (2019): Xi'an - Mukran in nur zwei Wochen.
Mecklenburg-Vorpommern: Ignoriert von der Bundespolitik:
Hafen auf Rügen ist ein neuer Endpunkt der chinesischen
Seidenstraße,
in:
Neues Deutschland v. 18.11.
HEILIG, René (2019): Mukran Port.
Mecklenburg-Vorpommern: Seit Jahrzehnten befristete Lösungen
und Provisorien,
in:
Neues Deutschland v. 18.11.
REICH, Marcel (2019): "Das ist meine Stadt" heißt es jetzt.
Nordrhein-Westfalen:
Wie es dem BWL-Professor Harald Ross gelang, das verödete
Zentrum von Wassenberg (NRW) neu zu beleben,
in:
Welt v.
19.11.
"Harald Ross (...) ist Diplom-Kaufmann und Inhaber einer
Marketing- und Kommunikationsagentur (...). Von ihm erhoffte
sich die 19.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen Hilfe
(...).
Viele Menschen gingen lieber in Aachen, Düsseldorf oder Köln
shoppen. Außerdem liegt
Wassenberg an der niederländischen Grenze. Mit dem Auto sind
die Menschen innerhalb von 20 Minuten in dem im Rheinland
beliebten Outlet Roermond auf der anderen Seite der Grenze.
(...).
Ross (...) analysierte (...) die Demografie und Kaufkraft der
Bevölkerung und erkannte, dass in der Stadt überdurchschnittlich
viele ältere Menschen mit gutem Einkommen leben. (...).
Seine Idee: Es sollte fortan nichts mehr angeboten werden, was
es im Umkreis von 20 Kilometern auch woanders gibt. Dann
erstellte Ross ein auf die Stadt ausgerichtetes Konzept. Das, so
erklärt er, bestand aus vier »Wachstumssäulen«: Kultur, Genuss,
Tourismus und Events. »Es geht um Alleinstellungsmerkmale
(...).« Seine Ideen stellte er im Jahr 2015 in Wassenberg vor.
(...). Ross (plante) neue Geschäfte für Wanderer und
Erholungssuchende. Mit dem
Schwalm-Nette-Gebiet an der Grenze zu den Niederlanden liegt
idealerweise ein Naturpark in der Nähe. (...).
Kern seines Konzepts aber war der Faktor »Events«. Ross
entwickelte einen Abendmarkt, einmal im Monat. (...). Dieser
sollte nur hochwertige Produkte anbieten (...).
Es funktionierte. Der Markt zog die Menschen tatsächlich wieder
in die Stadt. (...). Mittlerweile haben
Erkelenz und
Geilenkirchen nachgezogen und ebenfalls Abendmärkte
gegründet",
beschreibt Marcel REICH das
Konzept,
das angeblich in Kleinstädten funktionieren soll. Tatsächlich
stammt das Basiskonzept aus den Großstadtdebatten der 1990er
Jahre, in denen die "Festivalisierung" im Fokus stand. Alle drei
Städte liegen im Kreis
Heinsberg, der im
Teilhabeatlas 2019
als "ländliche Region mit vereinzelten Problemen" eingeordnet
wird.
STAIB, Julian (2019): Über alle Hindernisse hinweg.
Rheinland-Pfalz: Die Hochmoselbrücke wird am Donnerstag
eröffnet. Damit findet ein Projekt der Superlative seinen
Abschluss, das bis zuletzt umstritten war,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20.11.
"Rund 25.000 Fahrzeuge sollen (...) über die Brücke fahren. Für
Fußgänger wird sie fortan gesperrt sein. (...).
Erste Überlegungen für einen Hochmosel-Übergang gab es bereits
Anfang der siebziger Jahre. Von 2011 an wurde dann gebaut.
Eigentlich war die Fertigstellung für 2016 geplant (...).
Heute spannt sich ein riesiges Bauwerk über die Mosel: (...) ein
recht banaler flacher Stahlsteg, der auf zehn riesigen
Betonpfeilern ruht. Der Steg ist 1,7 Kilometer lang und maximal
160 Meter hoch. (...). Nur die Kochertalbrücke in
Baden-Württemberg ist mit 185 Metern höher. (...).
Die Hochmoselbrücke ist Teil der Bundesstraße 50 (...). Die
Brücke verbindet nun theoretisch die Benelux-Staaten mit dem
Rhein-Main-Gebiet. Vor allem aber verbindet sie die beiden
traditionelle strukturschwachen Regionen Eifel (westlich) und
Hunsrück (östlich), die sich davon
einen wirtschaftlichen Aufwind erhoffen. (...).
An der Mosel selbst aber gab es bis zuletzt Protest (...),
angeführt von der Bürgerinitiative
»Pro Mosel« (...).
Auch in der Landespolitik wird der Bau weiterhin unterschiedlich
bewertet: Die SPD, die in Rheinland-Pfalz eine Ampelkoalition
anführt, pries die Brücke. (...). Die mitregierenden Grünen
(...) schwiegen. Die Vorsitzenden der Linken (...) kritisierten
hingegen eine »Verschwendung öffentlicher Mittel«, »ökologischen
Irrsinn« sowie eine Störung von Landschaftsbild und
Lebensqualität.
(...). Die Brücke wurde am Rande des Ortes
Zeltingen-Rachtig errichtet und schwebt hoch über ihm. Der
Ort hat etwas mehr als 2.000 Einwohner, fein renovierte
Fachwerkhäuser und viel Besuch von Touristen. Die könnten nun
wegblieben, so die Sorge",
berichtet Julian STAIB über
die kontroversen Sichtweisen zum Bau der Hochmoselbrücke, der
zeigt, dass die Verkehrswende nur eine hohle Phraseologie ist.
Bauwerke, die lediglich dem Autoverkehr dienen und sowohl Bahn,
Rad und Fußgänger außen vor lassen, sollten verboten sein.
"Superlative" ist kein Begriff, der politisch von Bedeutung sein
sollte.
WIRTSCHAFTSWOCHE-Titelgeschichte:
Leben Sie in der richtigen Stadt?
Von
Rostock bis München, von Aachen bis Berlin: 71 Kommunen im Test.
Wo es sich in Deutschland am besten wohnen und arbeiten lässt -
und von wo man lieber wegziehen sollte |
LOOSE, Bert & Sophie CROCOLL (2019): Wo es euch gefällt.
Der demografische Wandel verschärft den Wettbewerb der Kommunen
um Menschen und Unternehmen. Welche Stadt verfügt über das
größte Potenzial, welche punktet mit der stärksten
Wirtschaftsdynamik - und welche bereitet sich am besten auf die
Digitalisierung vor? Der große Städtetest der WirtschafsWoche
liefert die Antworten
in:
WirtschaftsWoche Nr.49 v. 22.11.
LOOSE & CROCOLL stellen uns das jährliche Städteranking des
neoliberalen IW Köln vor, in dem es um die Attraktivität der
deutschen Großstädte für die globale, kosmopolitische Elite
geht. Der US-amerikanische Guru Richard FLORIDA steht Pate für
diese Art des globalen Standortwettbewerbs der
Wissensgesellschaften. Motto dieser Ideologie:
"Früher zogen die
Arbeitnehmer dorthin, wo die Jobs waren. Heute ist es oft
umgekehrt: Firmen siedeln sich dort an, wo sie ein hohes
Fachkräftepotenzial sehen."
In unserer gespaltenen
Gesellschaft gilt das lediglich für die "Happy Few", während
sich "Normalos" einer geschlossenen Gesellschaft gegenüber
sehen. Die Konsequenz: Die AfD kann sich ihres wachsenden
Wählerpotenzials gewiss sein.
Ostdeutschland ist nicht der seltene Ausnahmefall, sondern
zeigt die Tendenzen auch für die westdeutschen Vorzeigeländer
Baden-Württemberg, Bayern und Hessen an. Das neoliberale
Städteranking verklärt das bayerische Mittelfranken (Fürth,
Erlangen und Nürnberg) und das hessische Darmstadt zu
Vorzeigestandorten:
"Droht Fürth die
Bochumisierung? (...)
2009: Quelle pleite, mehr als 4.000 Menschen arbeitslos (...).
2005 zog AEG seine Haushaltsgeräteproduktion aus Nürnberg ab.
2003 meldete Grundig Insolvenz an. 1995 zogen die letzten
US-Soldaten ab - und ließen 2.500 Zivilbeschäftigte zurück.
Fürth, Nürnberg und das nahe Erlangen, der ganzen Metropolregion
drohte damals das Schicksal einer Armutsinsel im prosperierenden
Bayern. (...).
Die Bochumisierung ist ausgeblieben. (...).
Mehr noch: Die drei Städte in Mittelfranken bilden die
Aufsteigerregion des Jahres. (...).
Der Aufstieg von Mittelfranken ist kein Zufall. (...). Man
setzte auf Bildung, Hightech, den Aufbau industrieller Cluster -
und auf Kooperation."
Die neoliberale Phraseologie
bedient sich gerne der Valley-Metapher, die als ideologische
Basis das "Silicon Valley" hat. Für die mittelfränkische
Metropolregion wird nun der Begriff "Medical Valley" bemüht.
Andere Valleys zeigen dagegen, dass solche Erfolgsgeschichten
auch scheitern können. Dafür steht z.B. das "Solar Valley".
Das hessische Darmstadt gilt
dagegen als Beispiel für eine erfolgreiche, innovative
Hochschulstadt. Vor 15 Jahren kam Darmstadt beim neoliberalen
Großstadtvergleich nicht einmal vor, weil das Augenmerk nur auf
den 50 einwohnerstärksten Großstädten lag. Dies zeigt im Grunde
deutlich die Scheuklappen solcher Rankings, die ideologischen
Moden unterworfen sind.
Fazit: Im neoliberalen
Standortwettbewerbsdenken kommen nur Großstädte vor, während
Klein- oder Mittelstädte außen vor bleiben. Standen vor 15
Jahren jedoch nur die 50 einwohnerstärksten Großstädte im Fokus,
so sind es nun alle Städte mit mehr als 100.000 Einwohner. Wann
also erfährt das neoliberale Städteranking eine weitere
Ausdehnung auf Städte mit weniger als 100.000 Einwohner? Der
Tesla-Standort in der Kleinstadt
Grünheide in Brandenburg zeigt, dass der Standortwettbewerb
längst die ideologischen Grenzen unserer vergangenheitsfixierten
Neoliberalen überwunden hat.
JORDAN, Thomas (2019): Aus alt mach neu.
Obwohl in Deutschland immer mehr Züge fahren, hinkt die Reaktivierung
stillgelegter Bahnstrecken hinterher. Das könnte sich nun
ändern,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
25.11.
Verkehrswende? Fehlanzeige! Da nützt es auch nichts, dass Thomas
JORDAN Ausnahmebeispiele präsentiert:
"Niedersachsen. Dort,
zwischen den Orten Bad Bentheim und Neuenhaus fahren seit Juli
2019 wieder Personenzüge. Nach 45 Jahren. Damit ist auch die
letzte große Kreisstadt in Deutschland, Nordhorn, wo immerhin
50.000 Menschen leben, an den Bahnverkehr angeschlossen. Damit
könnten die Niedersachsen zum Vorbild für andere Bundesländern
werden. (...).
Die Investition hat sich laut Joachim Berends, dem Chef der
privaten Betreibergesellschaft Bentheimer Eisenbahn, gelohnt.
Anstatt der vorhergesagten 1.700 Fahrgäste nutzen bis zu 2.500
Menschen das Angebot an Werktagen",
wird uns erzählt.
Ausgerechnet das grün-schwarze Hessen, das einen grünen
Verkehrsminister hat, soll eine Vorreiterrolle übernehmen:
"Eines der Projekte, die von
der Finanzspritze des Bundes profitieren sollen, ist die
Lumdatalbahn in Hessen. (...) Seit Langem setzen sich Bürger
(...) dafür ein, dass auf der 13 Kilometer lange Strecke
zwischen der Kleinstadt
Lollar und dem Ortsteil
Londorf wieder Personenzüge fahren",
erzählt uns JORDAN. Londorf
ist kein Ortsteil von Lollar wie der Leser meinen könnte,
sondern von
Rabenau. Die Strecke liegt damit im Landkreis Gießen. Die
Lumdatalbahn fuhr einstmal bis
Grünberg. Der Streckenabschnitt Londorf bis Grünberg wurde
zurückgebaut und wird nun teilweise als Radwanderweg genutzt.
Besonders hervorgehoben
werden geänderte Kriterien für die Bewertung der Reaktivierung.
So soll nun neben der "prognostizierten Anzahl der Fahrgäste pro
Tag" auch "Nachhaltigkeit" und "Klimaschutz" berücksichtigt
werden. Problematisch ist jedoch die Definition dieser
Modewörter:
"So (...) wird (...)
miteinbezogen, ob eine reaktivierte Bahnstrecke dazu beiträgt,
dass städtische Verkehrssysteme besser funktionieren."
Das schließt Reaktivierungen
aus, die den Zentren keinen Nutzen bringen, denn die Grünen sind
bekanntlich eine Großstadtpartei. Die Verkehrswende endet
dementsprechend am Rande der (geplanten) Speckgürtel dieser
Zentren. Bei der Lumdatalbahn geht es um Vorteile für Gießen.
JORDAN präsentiert zudem 10
stillgelegte Bahnstrecken, deren Reaktivierung sich lohne, wobei
die
5 km lange Strecke zwischen Blankenstein und Marxgrün als
reine Güterverkehrsstrecke schon einmal für den Personenverkehr
wegfällt. Fünf Bahnstrecken sind unter 20 Kilometer lang, drei
zwischen 20 und 30 Kilometer. Nur mit Gunzenhausen - Nördlingen
in Bayern gibt es eine Bahnstrecke, die 40 Kilometer lang ist.
Lediglich 3 Bahnstrecken befinden sich in Ostdeutschland: Barth
- Zingst - Prerow (Mecklenburg-Vorpommern),
Abzweig Schönwalde - Berlin (Brandenburg) und Blankenstein -
Marxgrün (Thüringen).
KEILHOLZ, Christine (2019): Nur weg hier.
Sachsen: Dem Osten laufen die Frauen weg. Deshalb wählen die
Männer rechts,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 15.12.
BARTZ, Tim u.a. (2019): 2020. Dekade des Umbruchs.
Zukunft: Im kommenden Jahrzehnt werden sich Deutschland und die
Welt wohl stärker verändern als je zuvor. Einige Trends lassen
sich vorhersehen, die Rentnerwell zum Beispiel; andere nur
erahnen, etwa die Gefahr von Cyberattacken. Elf Prognosen für
die Zeit bis 2030,
in:
Spiegel Nr.1 v. 28.12.
Dystopien zum demografischen Wandel gab es in den letzten 50
Jahren mehr als genug. Merkwürdigerweise ähneln sich zwar das
Narrativ, aber es wechseln die Orte, in denen man angeblich
schon heute so lebt wie in den dystopischen Jahren.
"Wer in Bad Lippspringe
aufwächst, weiß, wie die deutsche Kleinstadt in dreißig Jahren
aussieht",
wusste die
taz bereits im Jahr 2003. 2030 sei Deutschland ein
Rentnerpark. Der
Spiegel hat nun Harzgerode zum exemplarischen Ort
auserkoren:
"Wer
heute schon einen Eindruck vom Leben im Jahr 2030 haben möchte,
kann ihn in Harzgerode, einer Kleinstadt im Unterharz, mit
Fachwerkhaus, Fürstenschloss - und vielen älteren Menschen. Es
gibt einen Seniorenclub und eine Osteoporose-Selbsthilfegruppe,
die Altenheime heißen »Goldener Herbst« oder
»Seniorenpark Waldblick«. Und
ist einmal ein Gehweg zu erneuern, wird der Bordstein so
abgeflacht, dass sich Rollatoren leicht über die Straße schieben
lassen.
In Harzgerode leben knapp 8.000 Bürger, sie sind im Schnitt 51,6
Jahre alt, gut sieben Jahre älter als der Durchschnittsdeutsche.
Im vorigen Jahr wurden in der Gemeinde 46 Kinder geboren - bei
159 Sterbefällen.
Harzgerode nimmt vorweg, was Deutschland bevorsteht. 2030 werden
rund 19 Millionen Bürger 67 Jahre oder älter sein, rund 2,8
Millionen mehr als 2020. Deutschland wird zur Altenrepublik.
»Der Prozess lässt sich nicht mehr abwenden«, sagt der Bochumer
Ökonom Martin Werding, Experte für die Folgen des demografischen
Wandels."
Harzgerode
ist eine Kleinstadt in
Sachsen-Anhalt und gehört zum Landkreis Harz. Dass es 2030
in Deutschland überall so aussehen soll wie dort, ist äußerst
unwahrscheinlich, denn hier wird die Kluft zwischen wachsenden
und schrumpfenden Städten und Regionen ausgeblendet, die das
Leben in Deutschland entscheidender prägen wird als die
demografische Entwicklung, die hier auf den Altersdurchschnitt
reduziert wird.
Vergleicht man die
Alterspyramide von Harzgerode Ende 2018 mit der aktuellen
14. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen
Bundesamtes für das Jahr 2030, dann ergeben sich eklatante
Unterschiede:
|
Harzgerode (31.12.2018) |
14. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung |
Deutschland: junge Bevölkerung
(Variante 5: 2030) |
Deutschland: alte Bevölkerung
(Variante 4: 2030) |
Bevölkerungsstand |
7.745 (100 %) |
|
|
Anteil unter 20 Jahre |
1.029 (13,3 %) |
18,5 % |
19,5 % |
Anteil 65 Jahre und mehr |
2.476 (32,0 %) |
25,4 % |
26,3 % |
Harzgerode entspricht also in
keiner Weise der deutschen Normalität des Jahres 2030, sondern
gehört zum negativen Bereich der Stadtentwicklung im Jahr 2030.
Harzgerode verdoppelte im Jahr 2009 seine Einwohnerzahl durch
Zusammenlegung mit anderen Gemeinden (2008: 4047; 2009: 8.159).
Inwieweit solche territorialen Aspekte für die nächsten 10 Jahre
typisch sein werden, darüber kann lediglich spekuliert werden.
Fazit: Was den demografischen
Wandel in Deutschland betrifft, so wird dieser offensichtlich zu
negativ dargestellt.
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