|
Einführung
Seit 2004 veröffentlicht
das Handelsblatt alle drei Jahre die Ergebnisse des
Zukunftsatlas der neoliberalen Prognos AG, mit dem die
Demografisierung gesellschaftlicher Probleme betrieben wird. Es
ist kein Zufall, dass dies erstmals in der Hochphase der Agenda
2010-Debatte passiert, bei der der demografische Wandel als
Hauptproblem des "kranken Manns Europas" gesehen wurde.
Lediglich 15 Jahre später erscheint nun der demografische Wandel
nicht mehr als das Hauptproblem, sondern wirtschaftspolitische
Weichenstellungen. Die zukünftige Situation in Ostdeutschland
wird nun außerordentlich optimistisch dargestellt. Dieser
Rhetorikwandel ist lediglich verständlich, wenn man dies als
Wahlkampfhilfe für die in Bedrängnis geratenen
Regierungsparteien bei den anstehenden Landtagswahlkämpfen in
Brandenburg, Sachsen und Thüringen betrachtet.
Ostdeutschland in der demografischen Falle? Fehlanzeige!
In der Titelgeschichte
Aufholjagd der Schmuddelkinder vom 5. Juli 2019 werden von
Christian RICKENS die sächsische Großstadt Leipzig und der
brandenburgische Landkreis Teltow-Fläming als Beispiele für die
abnehmende Kluft zwischen den Regionen in Deutschland
hervorgehoben
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"In dieser aufwendigen Regionalstudie ermittelt das
Forschungsinstitut Prognos seit 2004 alle drei Jahre anhand von
insgesamt 29 statistischen Indikatoren die wirtschaftliche
Zukunftsfähigkeit der 401 deutschen Landkreise und kreisfreien
Städte. (...). Auf Basis dieser Daten erstellt Prognos ein
Ranking und ordnet die Region in eine von acht Kategorien ein,
die von »besten Zukunftschancen« bis
»sehr hohen Zukunftsrisiken« (...). Erstmals erhebt Prognos
zusätzlich das Verhältnis von Wohnungsangebot zu -Nachfrage in
einem eigenen Immobilienatlas (...).
(...).
Der Weg Leipzigs vom Schmuddelkind zum Wunderkind ist
bezeichnend für eine Trendwende, die sich im Zukunftsatlas 2019
zeigt: Über zwei Jahrzehnte hinweg sah es so aus, als wären die
Zukunftschancen in Deutschland zunehmend ungleich verteilt. Doch
der Abgesang auf Ostdeutschland, das Ruhrgebiet und viele
ländliche Landkreise in den alten Bundesländern wurde womöglich
zu früh angestimmt.
Denn nun rücken Deutschlands Regionen wieder näher zusammen. »In
früheren Ausgaben des Zukunftsatlas betrug der Unterschied
zwischen der erst- und letztplatzierten Region maximal 32
Indexpunkte, jetzt sind es noch 29 Indexpunkte«, sagt
Prognos-Chef Christian Böllhoff."
(S.45)
|
Im
Jahr 2004 gab es in Deutschland noch 439 Landkreise und
kreisfreie Städte in Deutschland, also 38 mehr als 15 Jahre
später. Der abnehmende Unterschied könnte also auch auf der
Reduzierung der Kreise beruhen, denn in der Regel verschwinden
eher die strukturschwachen Gebiete von der Landkarte (siehe
weiter unten). Zudem
verhindern die Veränderung der Kriterien und Kategorien über die
bislang 6 Rankings die Vergleichbarkeit. Die Interpretation von Prognos kann vom Leser aufgrund der Intransparenz der
Faktendarlegung sowohl auf der Website des Unternehmens als auch
des Artikels nicht überprüft werden. Wir werden dadurch auf den
Glauben verwiesen. Damit Wissenschaft nicht zur neuen Religion
wird, hilft nur das Hinterfragen der Argumentation. Das soll
hier geschehen.
Sachsen
im Spiegel des Zukunftsatlas 2004 und 2019: Wie Kreisreformen in
Rankings politisch zu Aufstiegen umdeutbar sind, obwohl ihnen
gar keine Verbesserungen entsprechen müssen
Am Beispiel Sachsen soll
anhand der 8 Stufen der Zukunftschancen und -risiken betrachtet
werden, inwiefern die sächsischen Regionen auf- bzw. abgestiegen
sind und was die Gründe dafür sein können. Die folgende Tabelle
bietet einen Überblick über die Zuordnung der Kreise/kreisfreien
Städte in Sachsen zu den Zukunftschancen und -risiken im Jahr
2004 und 2019:
Tabelle:
Zukunftsfähigkeit der im Jahr 2004 18
Landkreise/kreisfreien Städte im Vergleich der
2019 nur noch 13 Landkreise/kreisfreien
Städte in Sachsen |
Klassen-
Stufe |
Regionskategorien |
Zukunftsatlas
2004 |
Zukunftsatlas
2019 |
Anzahl der Kreise
und Städte in Sachsen |
Region |
Anzahl der Kreise
und Städte in Sachsen |
Region (verdeckter Auf-/Abstieg um Anzahl Stufen) |
1 |
2004:
Region mit Top-Zukunftschancen
2019: Region mit bester Chance |
0 |
- |
0 |
- |
2 |
2004:
Region mit sehr hohen Zukunftschancen
2019: Region mit sehr hohen Chancen |
0 |
- |
1 |
Dresden (+3) |
3 |
2004:
Region mit hohen Zukunftschancen
2019: Region mit hohen Chancen |
0 |
- |
0 |
- |
4 |
2004:
Region mit Zukunftschancen
2019: Region mit leichten Chancen |
0 |
- |
1 |
Leipzig (+2) |
5 |
2004:
Region mit ausgeglichenem Chancen- und Risikomix
2019: Regionen mit ausgeglichenen Chancen/Risiken |
1 |
Dresden |
5 |
Chemnitz (+1) |
Zwickau
(fusioniert
mit Chemnitzer Land und Zwickauer Land) |
Sächsische Schweiz/Osterzgebirge (Fusion von
Sächsische Schweiz mit
Weißeritzkreis) |
Bautzen (fusioniert mit
Hoyerswerda und
Kamenz) |
Meißen (+1) (fusioniert mit
Riesa-Großenhain (+1)) |
6 |
2004: Region mit
Zukunftsrisiken
2019: Regionen mit leichten Risiken |
15 |
Leipzig |
3 |
Landkreis Leipzig
(+1) (ehemals Leipziger Land) |
Mittweida |
|
Vogtlandkreis (0) |
Chemnitz |
|
Mittelsachsen (Fusion von Döbeln (0), Freiberg (0)
und Mittweida (0)) |
Chemnitzer Land |
|
|
Freiberg |
|
|
Zwickauer Land |
|
|
Zwickau |
|
|
Meißen |
|
|
Muldentalkreis |
|
|
Bautzen |
|
|
Döbeln |
|
|
Vogtlandkreis |
|
|
Weißeritzkreis |
|
|
Riesa-Großenhain |
|
|
Stollberg |
|
|
7 |
2004: Region mit hohen
Zukunftsrisiken
2019: Region mit hohen Risiken |
10 |
Delitzsch |
3 |
Erzgebirgskreis (vormals Annaberg (0),
Aue-Schwarzenberg (0), Mittlerer Erzgebirgskreis (0)
und
Stollberg (-1)) |
Kamenz |
Nordsachsen (ehemals Delitzsch (0) und
Torgau-Oschatz (0)) |
Sächsische Schweiz |
Görlitz (+1) (fusioniert mit Löbau-Zittau (0)
und Niederschlesischer Oberlausitzkreis (+1)) |
Plauen |
Vogtlandkreis
(+1) |
Aue-Schwarzenberg |
|
Torgau-Oschatz |
|
Annaberg |
|
Mittlerer Erzgebirgskreis |
|
Leipziger Land |
|
Löbau-Zittau |
8 |
2004: Region mit sehr
hohen Zukunftsrisiken
2019: Region mit sehr hohen Risiken |
3 |
Görlitz |
0 |
|
Niederschlesiger-Oberlausitzkreis |
|
Hoyerswerda |
|
|
Quelle:
Prognos AG
Zusammenfassung Zukunftsatlas 2004, S.15ff., eigene
Berechnungen, Zukunftsatlas 2019: Deutschlandkarte,
eigene Berechnungen |
Wie weiter oben bereits
erwähnt, führen Kreisreformen in der Regel dazu, dass
strukturschwache Kreise von der Landkarte verschwinden. Dass in
Sachsen die Stufe mit der geringsten Zukunftsfähigkeit
weggefallen ist, liegt nicht an einem Aufstieg der Regionen,
sondern daran, dass die Kreise/kreisfreien Städte mit stärkeren
Kreisen fusioniert wurden und damit entweder aus dem Ranking
fielen oder sich mit einem anderen Gebietszuschnitt
verbesserten.
Bei den fusionierten
Kreisen/kreisfreien Städte können die Auf- bzw. Abstiege der
Teilgebiete mit der Entwicklung des neuen Gesamtgebiet
verglichen werden. Das Beispiel des Landkreises Bautzen ist
besonders interessant, weil dort sehr unterschiedliche Gebiete
fusioniert wurden. Die Kreisstadt Bautzen wurde zum einen mit
dem Schlusslicht, der einstigen Kreisstadt Hoyerswerda
fusioniert, die damit verdeckt um 2 Stufen aufgestiegen ist. Zum
anderen ist Kamenz ebenfalls verdeckt um eine Stufe
aufgestiegen. Die Fusion führte zwar nicht zu einem Abstieg der
Kreisstadt Bautzen, könnte aber deren Aufstieg verhindert haben.
Bautzen ist eine der Hochburgen der AfD, was angesichts der
Zusammenlegung mit problembehafteren Gebieten kaum verwundern
dürfte. Es stellt sich deshalb auch die Frage, ob für
Kreisreformen, die oftmals nur scheinbare Verbesserungen
bringen, nicht ein zu hoher Preis zu zahlen ist (siehe weiter
unten). Solche Fragen
aber werden bei solchen Rankings nicht aufgeworfen.
Beim Landkreis Meißen
wurden zwei Gebiete der gleichen Stufe fusioniert, was zu
einem Aufstieg um eine Stufe führte. Ob dies einem tatsächlichen oder
nur einem scheinbaren Aufstieg entspricht, müsste eine genaue
Analyse klären, die in diesem Rahmen nicht geleistet werden
kann. Das Beispiel zeigt damit die Problematik von Vergleichen,
bei denen die Interpretationsspielräume durchaus groß sein
können.
Die zweitschlechteste
Stufe des Rankings wurde in Sachsen insbesondere durch die
Fusion von Kreisen/kreisfreien Städten von 9 auf 3 um ein
Drittel reduziert und bildet durch den Aufstieg des Landkreises
Görlitz nun die sächsische Schlusslichtkategorie. Görlitz gehört
wie Bautzen zu den Hochburgen der AfD. Die Fusion der Gebiete mag zwar unter
Rankingsgesichtspunkten scheinbar erfolgreich gewesen sein,
politisch ist sie dagegen eher zweifelhaft. Dieser politische
Zusammenschluss problembeladener Gebiete könnte bei der
anstehenden Landtagswahl dem sächsischen Ministerpräsidenten Michael
KRETSCHMER das Direktmandat kosten. Für Görlitz gilt wie für
Bautzen, dass die Frage, ob es sich hier um einen tatsächlichen
Aufstieg handelt unbeantwortet bleiben muss.
Für Sachsen gilt, dass die
Großstädte den größten Anteil am Aufstieg verbuchen konnten,
während die anderen Gebiete kaum aufschließen konnten. Es kann
also kaum davon gesprochen werden, dass die Kluft zwischen
Metropolen und ländlichem Raum spürbar geringer geworden ist,
wie das im Artikel suggeriert wird. Aus der folgenden Tabelle
sind die Veränderungen bei den Landkreisen zwischen 2004 und
2019 ersichtlich:
Tabelle:
Veränderung der Regionalstruktur zwischen 2004 und 2019 |
Monat/Jahr |
Land |
Anzahl
weggefallener
Regionen |
Gesamtzahl
Regionen
Deutschland |
6/2007 |
|
|
439 |
7/2007 |
Sachsen-Anhalt |
10 |
429 |
8/2008 |
Sachsen |
16 |
413 |
10/2009 |
Nordrhein-Westfalen |
1 |
412 |
9/2011 |
Mecklenburg-Vorpommern |
10 |
402 |
11/2016 |
Niedersachsen |
1 |
401 |
|
Quelle:
Wikipedia |
Während in Ostdeutschland
36 Regionen von der Landkarte verschwunden sind, waren es in
Westdeutschland nur zwei Regionen. Sachsen lag dabei mit 16
Regionen an erster Stelle. Gemäß Prognos wurden bei der
Indexberechnung der Einfluss von Größeneffekte zwar
ausgeschlossen, aber das heißt nicht, dass die Regionenstruktur
keinerlei Einfluss auf die Platzierung im Ranking hätte, da der
Auswahl der Indikatoren Annahmen über deren Relevanz im
Gesamtgefüge unterliegen. Falsche Annahmen führen deshalb zu
falschen Einstufungen von Regionen.
Neoliberale Top-Down-Ökonomie und Vulgärdemografie
Die neoliberale
Sichtweise, die RICKENS verbreitet ist schlicht: Das
Wirtschaftswachstum wird hauptsächlich in den Metropolen bzw.
Ballungsräumen generiert. Wenn dort die Rahmenbedingungen nicht
stimmen (z.B. "Wohnungsbaulücke"), dann können zuerst die
Umlandsgemeinden ("Speckgürtel") profitieren und zuletzt die
ländlichen Räume ("Spill-over-und Tripple-down-Effekte"). Anhaltendes
Wirtschaftswachstum wird damit zur Grundvoraussetzung der
Zukunftsfähigkeit erklärt. Mit diesem Leuchtturm-Neoliberalismus
korrespondiert eine Vulgärdemografie, bei der die Schrumpfung
der Bevölkerung zum Hauptproblem wird. Entsprechend lautet die
frohe Botschaft des Artikels: Das Aussterben ist abgesagt!
Während die kürzlich vorgestellte 14. koordinierte
Bevölkerungsvorausberechnung die unaufhaltsame Alterung der
Bevölkerung betonte, arbeitet sich der Artikel dagegen an der
Fehleinschätzung der Demografen/Ökonomen zur
Bevölkerungsentwicklung ab, die auch den vergangenen Prognos-Analysen zugrunde liegen:
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"Vom Tiefpunkt in den 90er Jahren, als pro Frau nur noch rund
1,3 Kinder zur Welt kamen, ist die Geburtenrate auf derzeit 1,57
Kinder angestiegen. Zusammen mit der anhaltenden Zuwanderung
nach Deutschland sorgt diese Entwicklung dafür, dass die
Einwohnerzahl der Bundesrepublik nicht wie lange prognostiziert
sinkt, sondern steigt.
Jede zehnte Region schafft sogar einen sogenannten natürlichen
Geburtenüberschuss. (...). Dieses
kleine Geburtenwunder gelang besonders häufig in Großstädten.
Sie ziehen viele junge Menschen an, die die Familiengründung
noch vor sich haben. Aber auch eine ländliche Gegend zwischen
Bremen und Osnabrück widerlegt seit Jahren das Vorurteil von der
zwangsläufig aussterbenden Provinz."
(S.46)
|
Der
geburtenstarke Landkreis Vechta widerlegt die Rede von der
Demografie als Ursache der Wirtschaftsschwäche von Regionen
In den letzten zwanzig
Jahren pilgerten Heerscharen von Journalisten in den Landkreis
Vechta (mehr noch nach Cloppenburg!), um das dortige Geburtenwunder als Lösung für die
Wirtschaftskrise in Deutschland zu präsentieren. RICKENS erzählt
uns diese Geschichte folgendermaßen:
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"Lebten im Kreis Vechta in den Siebzigern noch rund 90.000
Bürger, sind es heute mehr als 140.000, Tendenz weiter steigend.
Die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 3,4 Prozent, weit unter
Bundesdurchschnitt. Viele weltweit aktive Familienunternehmen
sind seit Jahrzehnten in der Region verwurzelt.
(...). Vechta ist katholische Enklave im protestantisch
geprägten Niedersachsen, das schweißt zusammen. Die CDU holte
bei der letzten Kreistagswahl 2016 knapp 60 Prozent. (...).
Trotz allem rutscht der Landkreis im Vergleich zum Zukunftsatlas
2016 um 60 Plätze ab und gilt nun nicht mehr als Region mit
hohen, sondern als eine mit »leichten Chancen«. Als schwach
bewertete Prognos unter anderem die steigende Zahl von
Einwohnern, die in Bedarfsgemeinschaften leben, auch die
niedrige Akademikerquote und der geringe Anteil an Beschäftigten
im Dienstleistungssektor fallen negativ auf. (...).
Spricht man mit Unternehmern und Bürgern vor Ort, sind es zwei
andere Dinge, die zunehmend Probleme bereiten: fehlendes Bauland
und zu wenig flexible Kinderbetreuung. (...).
Die meisten Familien entscheiden sich notgedrungen für das
klassische Modell."
(S.49)
|
Das Problem von Rankings
wie dem Zukunftsatlas ist, dass sie die sozioökonomische
Diversität über einen einzigen neoliberalen Kamm scheren. Statt
Vielfalt herrscht damit Einfalt - entgegen der neoliberalen
Rhetorik. Warum sollten sich Deutschlands Regionen entsprechend
den neoliberalen Vorstellungen vereinheitlichen, obwohl Krisen
in der Regel durch Monokultur verursacht werden? Warum sollten
nicht unterschiedliche Lebensstile besser sein als das
neoliberale Einheitsmodell der Doppel-Karriere-Familie, deren
Ressourcenausstattung die Einkommensklasse einer gehobenen
Mittelschicht voraussetzt? Wenn alle Kommunen nur die
Zielgruppen der Studenten und Akademiker mit
Doppel-Karriere-Familie im Auge haben, dann werden weite Teile
der Bevölkerung und deren anders gelagerten Bedürfnisse
missachtet und die damit verbundenen Chancen vertan..
Viel wichtiger ist jedoch
die Erkenntnis, dass demografische Rahmenbedingungen keinen
Erfolg im neoliberalen Wettbewerbsstaat garantieren, sondern
umgekehrt politische Weichenstellungen und Entscheidungen der
Wirtschaftsunternehmen entscheidender sind. Vergleicht man im
übrigen den Landkreis Vechta nicht mit dem Zukunftsatlas 2016,
sondern mit dem Zukunftsatlas 2004, dann ergibt sich bei Vechta
kein Abstieg um eine Stufe, sondern Stillstand: Vechta ist da,
wo es auch schon vor 15 Jahren war! Gute demografische
Ausgangslage hin und her. Im Zukunftsatlas 2004 wurde Vechta
hinsichtlich seiner Demografie mit Rang 4 bedacht, 2019 dagegen
nur mit Rang 26.
Tabelle: Die 5
besten Landkreise und kreisfreien Städte
im Bereich Demografie beim Zukunftsatlas 2004 und 2019 |
Rang |
Zukunftsatlas
2004 (2019) |
Zukunftsatlas
2019 (2004) |
Landkreis/kreisfreie Stadt |
1 |
Würzburg (29) |
Darmstadt
(36) |
2 |
Freiburg im
Breisgau (10) |
Osnabrück
(40) |
3 |
Cloppenburg
(16) |
Bamberg (180) |
4 |
Vechta (26) |
Flensburg
(20) |
5 |
Freising (40) |
Leipzig (236) |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Zukunftsatlas 2004: Prognos |
Der Zusammenhang zwischen
Demografie und Regionalentwicklung ist offenbar viel komplexer
als es die vorherrschende Sichtweise verlautbaren lässt. Bamberg
und Leipzig zeigen, dass Demografie kein Schicksal ist, die in
eine ökonomische Abwärtsspirale führt. Gute demografische
Rahmenbedingungen sind andererseits kein Garant, der vor einer
Abwärtsspirale schützt. Vielmehr sorgen im neoliberalen
Wettbewerbsstaat eine Vielzahl von sich gegenseitig
verstärkenden bzw. abschwächenden Faktoren über die Entwicklung
von Regionen. So faden sich z.B. 2004 mit Cloppenburg, Vechta
und Freising noch drei Landkreise unter den besten Regionen mit
sehr guten demografischen Bedingungen. 2019 waren es kein
einziger unter den besten Zehn! Es kann also gar keine Rede
davon sein, dass die Kluft zwischen Stadt und Land geringer
geworden ist. Vielmehr hat die neoliberale Wettbewerbspolitik
die Position der Metropolen und Ballungsräume gegenüber
Restdeutschland dramatisch verändert. Die neoliberale
Leuchtturmpolitik ist mitverantwortlich für die zunehmende
Polarisierung in Deutschland. Sachsen zeigt dies besonders
deutlich. Die dortigen Erfolge der AfD sind kein Zufall, sondern
das Ergebnis einer Politik, die die Kluft vergrößert hat.
Welchen
Anteil hat der demografische Wandel an den Problemen in
Ostdeutschland? Und hilft dabei das Ranking überhaupt weiter?
Welchen Einfluss die
Demografie auf die Regionalentwicklung hat, das hängt u.a. davon
ab, welche Indikatoren als wichtig betrachtet werden. Prognos
betrachtet nur vier Demografiefaktoren: die Geburtenrate, den
Anteil bzw. den Wanderungssaldo junger Erwachsener sowie die
Entwicklung der Bevölkerungszahl. Welchen Stellenwert die
einzelnen Faktoren im Index einnehmen ist Betriebsgeheimnis und
damit intransparent.
Der Artikel von RICKENS
ist mit Schaubildern garniert, die wenig aussagekräftig sind. So
wird uns ein Vergleich der zwölf größten Städte präsentiert, bei
dem die Rangplatzierungen von 2004 bis 2019 ablesbar sind.
Prognos weist dagegen ausdrücklich darauf hin, dass ein solcher
Vergleich wenig sinnvoll ist, weil die Reduzierung der Kreise im
Verlaufe der Zeit die Aussagekraft erheblich vermindert.
Nichtsdestotrotz liefert uns auch Prognos - entgegen der eigenen
Aussagen! - auf der Website nur Rangaufsteiger bzw. -absteiger
und nicht etwa die Indexaufsteiger bzw. -absteiger oder noch
eindeutiger die Klassenstufenaufsteiger bzw. -absteiger. Aus der
folgenden Tabelle sind die Anzahl der Regionen ersichtlich, die
zwischen 2004 und 2019 den jeweiligen Klassenstärken zugeordnet
wurden.
Tabelle:
Die Zuordnung von Regionen zu Klassenstufen im
Zukunftsatlas zwischen 2004 und 2019 |
Klassen-
Stufen |
Merkmal |
2004 |
2007 |
2010 |
2013 |
2016 |
2019 |
1 |
Überwiegen der
Chancen |
6 |
8 |
7 |
10 |
11 |
12 |
Prozentanteil der
klassenbesten Regionen |
1,4 % |
1,8 % |
1,7 % |
2,4 % |
2,7 % |
3,0 % |
2 |
Überwiegen der
Chancen |
17 |
35 |
30 |
27 |
33 |
30 |
Prozentanteil der
Regionen mit Stufe 2 |
3,9 % |
8,0 % |
7,3 % |
6,7 % |
8,2 % |
7,5 % |
3 |
Überwiegen der
Chancen |
28 |
39 |
41 |
41 |
45 |
51 |
Prozentanteil der
Regionen mit Stufe 3 |
6,4 % |
8,9 % |
10,0 % |
10,2 % |
11,2 % |
12,7 % |
4 |
Überwiegen der
Chancen |
58 |
99 |
49 |
58 |
54 |
50 |
Prozentanteil der
Regionen mit Stufe 4 |
13,2 % |
22,6 % |
11,9 % |
14,4 % |
13,4 % |
12,5 % |
Gesamtzahl der
Regionen mit Chancenplus |
109 |
138 |
127 |
136 |
143 |
143 |
Prozentanteil der
Regionen mit Chancenplus |
24,8 % |
31,4 % |
30,8 % |
33,8 % |
35,6 % |
35,7 % |
5 |
Gesamtzahl
der Regionen im Gleichgewicht |
210 |
202 |
176 |
167 |
163 |
166 |
Prozentanteil
der Regionen im Gleichgewicht |
47,8 % |
46,0 % |
42,7 % |
41,5 % |
40,5 % |
41,4 |
6 |
Überwiegen der
Risiken |
62 |
48 |
56 |
61 |
54 |
45 |
Prozentanteil der
Regionen mit Stufe 6 |
14,1 % |
10,9 % |
13,6 % |
15,2 % |
13,4 % |
11,2 % |
7 |
Überwiegen der
Risiken |
47 |
40 |
42 |
27 |
31 |
37 |
Prozentanteil der
Regionen mit Stufe 7 |
10,7 % |
9,1 % |
10,2 % |
6,7 % |
7,7 % |
9,2 % |
8 |
Überwiegen der
Risiken |
11 |
10 |
11 |
11 |
11 |
10 |
Prozentanteil der
klassenletzten Regionen |
2,5 % |
2,3 % |
2,7 % |
2,7 % |
2,7 % |
2,5 % |
Gesamtzahl der
Regionen mit Risikoplus |
120 |
98 |
109 |
99 |
96 |
92 |
Prozentanteil der
Regionen mit Risikoplus |
27,3 % |
22,3 % |
26,5 % |
24,6 % |
23,9 % |
22,9 % |
Gesamtzahl der
Regionen |
439 |
439 |
412 |
402 |
402 |
401 |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2004 bis 2019: Prognos |
Betrachtet man die
Verteilung der Regionen auf die Klassenstufen, dann zeigt sich
bei den Regionen mit Zukunftsrisiken - trotz positiver
demografischer Entwicklung kein Aufwärtstrend, sondern im Jahr
2007 gab es prozentual weniger betroffene Regionen als im Jahr
2019. In der Kategorie der Klassenletzten war der Prozentanteil
im Jahr 2004 genauso hoch wie im Jahr 2019. Die beste
Risikoklasse war im Jahr 2013 besser besetzt als in den
nachfolgenden Jahren. Verbesserungen sehen anders aus!
Ganz im Gegenteil hat die
Polarisierung in Deutschland stark zugenommen, denn die
Klassenbesten konnten ihren Anteil von 1,4 % im Jahr 2004 auf
3,0 % im Jahr 2019 mehr als verdoppeln. Die folgende Tabelle
zeigt die Klassenauf- und abstiege bei den Klassenbesten
Tabelle:
Veränderungen bei den Klassenbesten im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Rang |
2004 |
2007 |
2010 |
2013 |
2016 |
2019 |
1 |
München
(Landkreis) |
München
(Landkreis) |
München
(Landkreis) |
München
(Landkreis) |
München
(Landkreis) |
München
(Landeshauptstadt) |
2 |
München
(Landeshauptstadt) |
München
(Landeshauptstadt) |
München
(Landeshauptstadt) |
München
(Landeshauptstadt) |
München
(Landeshauptstadt) |
München
(Landkreis) |
3 |
Starnberg
(Landkreis) |
Starnberg
(Landkreis) |
Erlangen |
Erlangen |
Ingolstadt |
Ingolstadt |
4 |
Darmstadt |
Erlangen |
Starnberg
(Landkreis) |
Ingolstadt |
Böblingen
(Landkreis) |
Darmstadt |
5 |
Freising
(Landkreis) |
Regensburg |
Böblingen
(Landkreis) |
Böblingen
(Landkreis) |
Wolfsburg
(VW-Stadt) |
Stuttgart
(Landeshauptstadt) |
6 |
Heidelberg |
Stuttgart
(Landeshauptstadt) |
Ingolstadt |
Darmstadt |
Erlangen |
Erlangen |
7 |
|
Freising
(Landkreis) |
Frankfurt am Main
(Global City) |
Regensburg |
Stuttgart
(Landeshauptstadt) |
Böblingen
(Landkreis) |
8 |
|
Ingolstadt |
|
Starnberg
(Landkreis) |
Starnberg
(Landkreis) |
Starnberg
(Landkreis) |
9 |
|
|
|
Wolfsburg
(VW-Stadt) |
Darmstadt |
Wolfsburg
(VW-Stadt) |
10 |
|
|
|
Stuttgart
(Landeshauptstadt) |
Frankfurt am Main
(Global City) |
Frankfurt am Main
(Global City) |
11 |
|
|
|
|
Regensburg |
Main-Taunus-Kreis
(Landkreis) |
12 |
|
|
|
|
|
Düsseldorf
(Landeshauptstadt) |
|
|
|
|
|
|
|
|
Stuttgart
(Landeshauptstadt)
Rang 8/Stufe 2 |
Darmstadt
Rang 29/Stufe 2 |
Darmstadt
Rang 12/Stufe 2 |
Freising
(Landkreis)
Rang 29/Stufe 2 |
Freising
(Landkreis)
Rang 44/Stufe 2 |
Freising
(Landkreis)
Rang 34/Stufe 2 |
|
Ingolstadt
Rang 14/Stufe 2 |
Heidelberg
Rang 26 /Stufe 2 |
Freising
(Landkreis)
Rang 13/Stufe 2 |
Heidelberg
Rang 11/Stufe 2 |
Heidelberg
Rang 14/Stufe 2 |
Heidelberg
Rang 13/Stufe 2 |
|
Erlangen
Rang 7/Stufe 2 |
Böblingen
(Landkreis)
Rang 23/Stufe 2 |
Heidelberg
Rang 20/Stufe 2 |
Frankfurt am Main
(Global City)
Rang 22/Stufe 2 |
Main-Taunus-Kreis
(Landkreis)
Rang 13/Stufe 2 |
|
|
|
Frankfurt am Main
(Global City)
Rang 39/Sufe 2 |
Stuttgart
(Landeshauptstadt)
Rang 14/Stufe 2 |
|
Düsseldorf
(Landeshauptstadt)
Rang 21/Stufe 2 |
|
|
|
|
Regensburg
Rang 11/Stufe 2 |
|
|
|
|
|
|
Wolfsburg
Rang 8/Stufe 2 |
|
|
|
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Zukunftsatlas 2004 bis 2016: Prognos |
Bei den Klassenbesten gab
es zwischen 2004 und 2019 sechs Aufsteiger und nur zwei
Absteiger. Alle Auf- und Abstiege geschahen zwischen den ersten
beiden Klassenstufen, wobei beide Abstiege zwischen 2007 und
2010 stattfanden. Zwischendurch gab es 4 Regionen, die zwar
abstiegen, dann aber wieder aufgestiegen sind. Nur 3 Regionen
konnten sich dauerhaft im Bereich der Klassenbesten behaupten.
Alle drei liegen in Bayern. Diese Regionen können am ehesten
darüber Auskunft geben, welche Faktoren für eine gute
Platzierung entscheidend sind. Der Landkreis Starnberg ist dabei
besonders interessant, weil diese Region seine Platzierung im
Laufe von 15 Jahren um 6 Ränge verschlechterte. Die folgende
Tabelle zeigt die Entwicklung der Bereichsränge.
Tabelle:
Bewertung des bayerischen Landkreises Starnberg im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen) |
Gesamtrang |
Bereichsrang |
Demografie |
Lage/Wohlstand |
Arbeitsmarkt |
Innovation |
2004 (439) |
3 |
230 |
2 |
28 |
5 |
2007 (439) |
3 |
263 |
1 |
37 |
4 |
2010 (412) |
4 |
281 |
1 |
37 |
7 |
2013 (402) |
8 |
235 |
1 |
67 |
9 |
2016 (402) |
8 |
172 |
1 |
58 |
13 |
2019 (401) |
8 |
253 |
1 |
44 |
10 |
|
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2016: Prognos |
Die Demografie ist kein
entscheidender Faktor für eine Platzierung unter den
Klassenbesten. Alle Demografiewerte liegen - abgesehen von 2016
- in der zweiten Hälfte der Rangwerte. Gute Werte schützen
dagegen nicht vor dem Abstieg wie z.B. Heidelberg oder Freising
zeigen. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung des
Absteigers Freising:
Tabelle:
Bewertung des bayerischen Landkreises Freising im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen) |
Klassen-
Stufe |
Gesamtrang |
Bereichsrang |
Demografie |
Lage/Wohlstand |
Arbeitsmarkt |
Innovation |
2004 (439) |
1 |
5 |
5 |
18 |
23 |
10 |
2007 (439) |
1 |
7 |
20 |
21 |
10 |
66 |
2010 (412) |
2 |
13 |
23 |
16 |
44 |
31 |
2013 (402) |
2 |
29 |
37 |
52 |
52 |
82 |
2016 (402) |
2 |
44 |
65 |
65 |
65 |
77 |
2019 (401) |
2 |
34 |
40 |
73 |
54 |
71 |
|
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2016: Prognos |
Auch Wiederaufsteiger wie
Darmstadt können interessante Hinweise auf die Voraussetzungen
für eine Platzierung unter den Klassenbesten geben. Aus der
nachfolgenden Tabelle ist die Entwicklung der hessischen Stadt
Darmstadt ersichtlich.
Tabelle:
Bewertung der hessischen Stadt Darmstadt im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen) |
Klassen-
Stufe |
Gesamtrang |
Bereichsrang |
Demografie |
Lage/Wohlstand |
Arbeitsmarkt |
Innovation |
2004 (439) |
1 |
4 |
36 |
330 |
9 |
4 |
2007 (439) |
2 |
29 |
18 |
289 |
24 |
49 |
2010 (412) |
2 |
12 |
8 |
222 |
6 |
49 |
2013 (402) |
1 |
6 |
1 |
291 |
2 |
23 |
2016 (402) |
1 |
9 |
2 |
298 |
2 |
46 |
2019 (401) |
1 |
4 |
1 |
301 |
1 |
13 |
|
Quelle: Zukunftsatlas 2004 bis 2016: Prognos |
Darmstadt ist so ziemlich
das Gegenteil von Starnberg: Gute Demografiewerte, aber
miserable Werte bei sozialer Lage und Wohlstand.
Bei der Klassenstufe 2
gibt es - im Gegensatz zu den Klassenbesten - keine einheitliche Tendenz, weshalb hier eine
Analyse der Klassenauf- und absteiger notwendig ist.
Bei der Klassenstufe 3
gibt es wieder eine aufsteigende Tendenz, die jedoch sowohl von
Klassenabsteigern als auch von Aufsteigern verursacht sein kann.
Die Verteilung bei der Klassenstufe 4 weist eine gravierende
Abweichung im Jahr 2007 auf, bei der sich die Frage stellt,
inwiefern dies auf eine mangelnde Trennschärfe der
Klassifizierung hindeutet.
Zusammenfassend kann
gesagt werden, dass die Betrachtung der Verteilung der Regionen
auf die einzelnen Klassenstufen keine Tendenz der Annäherung der
regionalen Unterschiede zwischen 2004 und 2019 erbracht hat.
Aussagekräftiger wäre eine
Analyse der Entwicklung der
Indexwerte, die uns jedoch für die Jahre 2010 bis 2019 vorenthalten werden. Dies gilt auch für
alle anderen Schaubilder und die überwältigende Mehrheit der
Angaben im Text.
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"Niemand hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass die
Bevölkerung in den allermeisten deutschen Regionen jemals wieder
wachsen könnte. Und erst recht nicht, dass die damalige
Schrumpfstadt Leipzig als Aufsteigermetropole Nummer eins
gefeiert würde",
(S.51)
|
erklärt uns RICKENS. War
das wirklich so? War Leipzig im Jahr 2009 eine Schrumpfstadt?
Leipzig ist seit dem Jahr 2003 ständig gewachsen, wenngleich
das Wachstum nach der Zensuskorrektur erheblich zugenommen hat.
2014 gab es erstmalig einen kleinen Geburtenüberschuss. Die
Bevölkerungsprognosen für Leipzig sahen bereits im Jahr 2007
ein - wenngleich auch geringes - Wachstum vor, das jedoch weit
hinter dem tatsächlichen Wachstum zurückblieb. RICKENS
präsentiert uns also Fake-News zu Leipzig!
Uns wird erzählt, dass der
Wirtschaftsaufschwung nur lange genug anhalten muss, damit auch
die letzte abgehängte Region profitieren kann. Natürlich ist
eine andauernde, positive Wirtschaftsentwicklung lediglich ein
Gedankenspiel ohne Alltagstauglichkeit, weshalb uns mantrahaft
die Bedingungen der Angleichung aufgezählt werden:
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"(D)die Prognos-Studie deutet darauf hin, dass der
Unterschied in Zukunft eher kleiner als größer werden könnte -
zumindest so lange die fundamentalen Trends anhalten, die
Deutschland in den vergangenen Jahren geprägt haben: das stabile
Wirtschaftswachstum und die Zuwanderung von Arbeitskräften aus
anderen EU-Staaten.
(...).
Böllhoff analysiert: (...). »Solange die positive ökonomische
und demografische Gesamtentwicklung in Deutschland anhält,
werden sich auch die Regionen weiter aneinander annähern.« In
einer längeren Phase ohne Wachstum oder mit gebremstem Zuzug
könne sich die Entwicklung hingegen umkehren. (...).
Es sind jahrzehntealte Trends und Wahrheiten, die sich da
vielleicht noch nicht in ihr Gegenteil verkehren, aber zumindest
infrage gestellt werden müssen: Das Land entvölkert sich, den
Großstädten gehört die Zukunft - wer sagt eigentlich, dass es
zwangsläufig so kommen muss? (S.45)
|
Was auffällig bei der
Indikatorenauswahl ist: 28 der 29 Indikatoren sind im Grunde
Merkmale der Bevölkerung. Nur ein einziger Indikator bezieht
sich auf die Infrastruktur: "Erreichbarkeit der
Bundesautobahnen". Die Bedeutung der Infrastruktur fließt im
Grunde nur indirekt - vermittelt über die Personenmerkmale - in
die Betrachtung ein. Der Immobilienatlas wird uns dagegen
separat präsentiert, obwohl auch dies die Infrastruktur im
weitesten Sinne betrifft. Zum Indikator "Wohnungsbaulücken" wird
uns folgendes erklärt:
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"Wohnungsbaulücken zeigen an, dass in einer Stadt bzw. in
einem Landkreis die Wohnungsnachfrage (Zahl der Haushalte) im
Zeitraum 2011 bis 2017 stärker angestiegen ist als das
Wohnungsangebot (Zahl der Wohneinheiten)"
(S.50)
|
Ein solcher Indikator ist
eher fragwürdig, denn die weder die Haushaltsgröße noch die
Wohnungsgröße fließt in die Betrachtung ein. Eine solche
Wohnungsbaulücke kann den Mangel an Wohnungen für die einzelnen
Bevölkerungsgruppen nicht angemessen erfassen. Was nützt es,
wenn jedem Haushalt eine Wohnung gegenübersteht, aber die
passende Wohnung fehlt?
Das Ranking weist im
Grunde eklatante Leerstellen auf, die "demografischen"
Personenmerkmalen eine Bedeutung zuweist, die ihr für die
zukünftige Entwicklung in Deutschland nicht zukommt. Die
Bedeutung der Infrastruktur wird nur ganz am Rande erwähnt, z.B.
auch bei der fehlenden Kinderbetreuung.
Die Vernachlässigung der
Bedeutung von Investitionen in die Infrastruktur gehört zu einem
zentralen blinden Fleck neoliberaler Ökonomensicht. Das
"Humankapital" und dessen "Demografiemerkmale" werden dagegen
überbewertet. Dadurch bleibt auch der Einfluss politischer
Entscheidungen für die Zukunftschancen unterbelichtet. Dagegen
werden im Deutschlandatlas mittels 24 Indikatoren die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse unter die Lupe genommen.
Die folgende Übersichttabelle wurde der Broschüre
Unser Plan für Deutschland entnommen, die am 10. Juli
2019 - also nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des
Zukunftsatlas publiziert wurde.
Tabelle: Die
Kluft bei den Lebensverhältnissen in Deutschland |
Indikator |
Mittelwert |
Deutschland |
für das Fünftel Deutschlands |
insgesamt |
mit geringerem
Handlungsbedarf |
mit größerem
Handlungsbedarf |
Bevölkerungsentwicklung 2016-2017 |
+ 0,3 % |
+2,6 % |
-2,8 % |
Bevölkerungsentwicklung 2008-2017 |
+0,9 % |
+13,6 % |
-12,3 % |
Anteil älterer
Menschen (über 65 Jahre) |
21,8 % |
16,7 % |
27,8 % |
Anteil Kinder und
Jugendliche |
16,4 % |
19,7 % |
13,0 % |
Angebotsmieten |
7,27 €/m2 |
5,19 €/m2 |
10,3 €/m2 |
Leerstandsquote
(Wohnungen) |
4,8 % |
2,0 % |
9,0 % |
Verfügbares
Einkommen je Einwohner/-in |
21.717 € |
25.253 € |
18.589 € |
Bruttoinlandsprodukt je Einwohner/-in |
35.573 € |
59.538 € |
22.295 € |
Arbeitslosenquote |
4,7 % |
1,8 % |
8,4 % |
Entwicklung
Arbeitsvolumen 2000 zu 2016 (pro Jahr) |
+0,9 % |
+15,5 % |
-14,5 % |
Anteil der
sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in
wissensintensiven Branchen |
10,5 % |
22,9 % |
3,1 % |
Leitungsgebundene
Breitbandversorgung der privaten Haushalte (50 MBit/s) |
76,7 % |
95,8 % |
53,5 % |
Breitbandverfügbarkeit mit LTE in der Fläche einer
Gemeinde |
90,0 % |
100,0 % |
59,3 % |
Erreichbarkeit
Lebensmittelladen |
4,1 km |
1,3 km |
8,2 km |
Erreichbarkeit
Hausarzt/-ärztin |
3,7 km |
1,2 km |
7,5 km |
Erreichbarkeit
Kinderarzt/-ärztin |
10,1 km |
3,3 km |
19,3 km |
Erreichbarkeit
Krankenhaus (Regelversorgung) |
18,2 km |
7,2 km |
32,4 km |
Erreichbarkeit
Grundschule |
3,3 km |
1,2 km |
6,6 km |
Schulabgänger/-innen ohne Hauptschulabschluss |
8,8 % |
5,1 % |
14,3 % |
Personen in SGB
II-Bedarfsgemeinschaften |
6,7 % |
2,5 % |
12,5 % |
Betreuungsquote
unter 3-Jährige in der Kindertagesbetreuung |
33,4 % |
54,7 % |
20,6 % |
Personalschlüssel
in Kindertagestätten (Anzahl Kinder pro
Betreuungskraft) |
8,6 Kinder |
6,7 Kinder |
11,3 Kinder |
Steuerkraft je
Einwohner/-in |
1.042 € |
2.248 € |
443 € |
Kommunale
Kassenkredite je Einwohner/-in |
604 € |
0 € |
2.443 € |
|
Quelle:
Unser Plan für Deutschland, 2019, S.10 |
Die 11 grau unterlegten
Indikatoren verweisen direkt auf die Infrastruktur in
Deutschland, wobei die leistungsfähigsten 20 Prozent der
Regionen mit den strukturschwächsten 20 Prozent der Regionen
sowie dem Durchschnittswert vergleichbar sind. 20 Prozent der
Regionen sind bei derzeit 401 Regionen also rund 80 Regionen.
Zusammenfassend kann
also gesagt werden, dass die Auswahl der Indikatoren bereits die
Aufmerksamkeitsrichtung eines Rankings prägt. Die Demografie
wird nur deshalb zum scheinbaren Problem, weil alternative
Sichtweisen beim Zukunftsatlas gar nicht erst berücksichtigt werden. Obwohl dem
Breitbandausbau angeblich eine große Bedeutung für die Zukunft
zukommt, ist er im Ranking nicht durch einen Indikator
vertreten. Nicht nur bei Ab- und Zuwanderungsprozessen kommt der
vorhandenen Infrastruktur - neben den vorhandenen Arbeitsplätzen
- eine hohe Bedeutung zu, denn wer will schon Kinder bekommen,
wenn die entsprechenden Einrichtungen fehlen oder deren Qualität
unzureichend ist?
Die
versteckten Schmuddelkinder von Ostdeutschland - eine
ostdeutsche Politikstrategie mit gravierenden Nebenwirkungen
Wir haben es in
Ostdeutschland weniger mit einer Aufholjagd der Schmuddelkinder
als vielmehr mit einem Versuch des Unsichtbarmachens der
politischen Misserfolge zu tun. Die folgende Tabelle zeigt, wie
durch Kreisreformen in Ostdeutschland Regionen mit hohen und
sehr hohen Risiken (Klassenstufe 7 und 8) eliminiert wurden:
Tabelle:
Klassenaufsteiger und -absteiger 2004 - 2019 |
Zukunftsatlas
2004 |
Zukunftsatlas 2019 |
Klassen-Stufe |
Gesamtrang |
Land |
Region |
Neuzuschnitt |
Gesamtrang |
Klassen-Stufe |
AfD-Ergebnis
Europawahl 2019 |
7 |
382 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Nordwestmecklenburg |
Fusion mit Wismar |
377 |
7 |
15,8 %
(-1,9 %) |
383 |
Sachsen |
Delitzsch |
Nordsachsen |
364 |
7 |
26,7 %
(+1,5 %) |
384 |
Sachsen |
Kamenz |
Nordsachsen |
364 |
7 |
26,7 %
(+1,5 %) |
385 |
Brandenburg |
Frankfurt
(Oder) |
|
361 |
7 |
20,7 %
(+ 0,8 %) |
386 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Schwerin |
|
347 |
6 |
15,8 %
(-1,9 %) |
387 |
Sachsen-Anhalt |
Bernburg |
Salzlandkreis |
390 |
7 |
21,7 %
(+1,3 %) |
388 |
Thüringen |
Saalfeld-Rudolfstadt |
|
375 |
7 |
27,6 %
(+5,1 %) |
389 |
Sachsen-Anhalt |
Halle an der
Saale |
|
310 |
6 |
16,1 %
(-4,3 %) |
390 |
Sachsen-Anhalt |
Schönebeck |
Salzlandkreis |
390 |
7 |
21,7 %
(+1,3 %) |
391 |
Sachsen |
Sächsische
Schweiz |
Sächsische Schweiz/Osterzgebirge |
286 |
5 |
32,9 %
(+7,6 %) |
392 |
Sachsen |
Plauen |
Vogtlandkreis |
322 |
6 |
23,9 %
(-1,4 %) |
393 |
Sachsen-Anhalt |
Bitterfeld |
Anhalt-Bitterfeld |
381 |
7 |
22,6 %
(+2,2 %) |
394 |
Sachsen-Anhalt |
Jerichower Land |
Fusion mit
Teilen von Anhalt-Zerbst |
399 |
8 |
19,4 %
(-1,0 %) |
395 |
Thüringen |
Nordhausen |
|
368 |
7 |
22,3 %
(-0,2 %) |
396 |
Thüringen |
Unstrut-Hainich-Kreis |
|
365 |
7 |
23,1 %
(+0,6 %) |
397 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Müritz |
Mecklenburgische Seenplatte |
391 |
7 |
19,6 %
(+1,9 %) |
398 |
Brandenburg |
Oberspreewald-Lausitz |
Widerstand gegen abgesagte Kreisreform in 2019 |
|
|
26,5 %
(+6,6 %) |
399 |
Niedersachsen |
Lüchow-Dannenberg |
|
396 |
8 |
7,5 %
(- 0,4 %) |
400 |
Brandenburg |
Märkisch-Oderland |
|
346 |
6 |
21,1 %
(+1,2 %) |
401 |
Sachsen |
Aue-Schwarzenberg |
Erzgebirgskreis |
359 |
7 |
28,1 %
(+ 2,8 %) |
402 |
Brandenburg |
Ostprignitz-Ruppin |
|
373 |
7 |
18,0 %
(-1,9 % ) |
403 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Güstrow |
Landkreis Rostock |
356 |
7 |
17,2 %
(-0,5 %) |
404 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Neubrandenburg |
Mecklenburgische Seenplatte |
391 |
7 |
19,6 %
(+1,9 %) |
405 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Ostvorpommern |
Vorpommern-Greifswald |
394 |
8 |
21,7 %
(+4,0 %) |
406 |
Sachsen |
Torgau-Oschatz |
Nordsachsen |
364 |
7 |
26,7 %
(+1,5 %) |
407 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Stralsund |
Vorpommern-Rügen |
388 |
7 |
19,6 %
(+ 1,9 %) |
408 |
Sachsen |
Annaberg |
Erzgebirgskreis |
359 |
7 |
28,1 %
(+2,8 %) |
409 |
Sachsen |
Mittlerer
Erzgebirgskreis |
Erzgebirgskreis |
359 |
7 |
28,1 %
(+2,8 %) |
410 |
Sachsen-Anhalt |
Saalkreis |
Saalekreis |
348 |
6 |
24,3 %
(-1,0 %) |
411 |
Sachsen-Anhalt |
Aschersleben-Staßfurt |
Aufteilung in Harz und Salzlandkreis |
|
7 |
x |
412 |
Brandenburg |
Prignitz |
|
395 |
8 |
19,1 %
(-0,8 %) |
413 |
Sachsen-Anhalt |
Sangerhausen |
Mansfeld-Südharz |
398 |
8 |
25,3 %
(+4,9 %) |
414 |
Sachsen-Anhalt |
Weißenfels |
Landkreis Burgenland |
382 |
7 |
24,6 %
(+4,2 %) |
415 |
Thüringen |
Greiz |
|
367 |
7 |
25,5 %
(+3,0 %) |
416 |
Sachsen |
Leipziger Land |
Landkreis Leipzig |
313 |
6 |
25,2 %
(-0,1 %) |
417 |
Brandenburg |
Uckermark |
|
392 |
8 |
20,8 %
(+0,9 %) |
418 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Rügen |
Vorpommern-Rügen |
388 |
7 |
19,6 %
(+1,9 %) |
419 |
Sachsen-Anhalt |
Mansfelder Land |
Mansfeld-Südharz |
398 |
8 |
25,3 %
(+4,9 %) |
420 |
Sachsen |
Löbau-Zittau |
Landkreis Görlitz |
379 |
7 |
32,4 %
(+7,1 %) |
421 |
Thüringen |
Kyffhäuserkreis |
|
386 |
7 |
23,2 %
(+0,7 %) |
422 |
Sachsen-Anhalt |
Burgenlandkreis |
Landkreis Burgenland |
382 |
7 |
24,6 %
(+4,2 %) |
423 |
Sachsen-Anhalt |
Anhalt-Zerbst |
Aufteilung in 3
Landkreise |
|
7/8 |
x |
424 |
Brandenburg |
Spree-Neiße |
|
397 |
8 |
30.9 %
(+11,0 %) |
425 |
Sachsen-Anhalt |
Quedlinburg |
Harz |
369 |
7 |
17,9 %
(-2,5 %) |
426 |
Sachsen-Anhalt |
Halberstadt |
Harz |
369 |
7 |
17,9 %
(-2,5 %) |
427 |
Thüringen |
Altenburger
Land |
|
389 |
7 |
27,1 %
(+4,6 %) |
428 |
Sachsen-Anhalt |
Köthen |
Anhalt-Bitterfeld |
381 |
7 |
22,6 %
(+2,2 %) |
8 |
429 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Nordvorpommern |
Vorpommern-Rügen |
388 |
7 |
19,6 %
(+1,9 %) |
430 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Mecklenburg-Strelitz |
Mecklenburgische
Seenplatte |
391 |
7 |
19,6 %
(+1,9 %) |
431 |
Sachsen |
Görlitz |
Landkreis Görlitz |
379 |
7 |
32,4 %
(+7,1 %) |
432 |
Sachsen-Anhalt |
Altmarkkreis
Salzwedel |
|
400 |
8 |
17,2 %
(-3,2 %) |
433 |
Brandenburg |
Elbe-Elster |
Widerstand gegen abgesagte Kreisreform in 2019 |
393 |
8 |
24,7 %
(+4,8 %) |
434 |
Sachsen-Anhalt |
Stendal |
|
401 |
8 |
19,4 %
(-1,0 %) |
435 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Uecker-Randow |
Vorpommern-Greifswald |
394 |
8 |
21,7 %
(+4,0 %) |
436 |
Sachsen |
Niederschlesischer Oberlausitzkreis |
Landkreis Görlitz |
379 |
7 |
32,4 %
(+7,1 %) |
437 |
Sachsen-Anhalt |
Wittenberg |
Fusion mit Teilen
von Anhalt-Zerbst |
385 |
7 |
21,8 %
(+1,4 %) |
438 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Demmin |
Mecklenburgische
Seenplatte |
391 |
7 |
19,6 %
(+1,9 %) |
439 |
Sachsen |
Hoyerswerda |
Landkreis Bautzen |
294 |
5 |
32,1 %
(+6,8 %) |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Zukunftsatlas 2004: Prognos |
Von den 58
strukturschwächsten Regionen aus dem Jahr 2004 (11 Regionen der
Klassenstufe 7 und 47 Regionen der Klassenstufe 8) schafften nur
drei Regionen (Schwerin, Halle an der Saale und Märkisch
Oderland) einen Klassenaufstieg ohne Neuzuschnitt der Region.
Selbst ein Neuzuschnitt war kein Garant für den Klassenerhalt.
Fünf Regionen stiegen trotz Neuzuschnitt mit ihrer neuen Region
ab.
Betrachtet man die
Klassenletzten und das Abschneiden der AfD bei der Europawahl
2019,
dann ergeben sich erstaunliche Einsichten. In den Landkreisen
von Sachsen-Anhalt, die von der letzten Kreisreform verschont
geblieben sind (Altmarkkreis Salzwedel und Stendal) blieb die AfD unter dem Landesdurchschnitt von 20,4 %.
In Brandenburg
plante die rot-rote Landesregierung im Jahr 2017 die
Reduzierung der Regionen auf 8 (Gesetzesentwurf 13.07.2017),
u.a. die Fusion der Landkreise Elbe-Elster und
Oberspreewald-Lausitz. Das Vorhaben wurde dann jedoch aufgrund
des großen Widerstandes fallengelassen. In allen Regionen mit
Neuzuschnitt gewann die AfD überdurchschnittlich an Stimmen
hinzu. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Regionen im
Ranking einen verdeckten Aufstieg machten.
Auch in Thüringen
scheiterte die
geplante Kreisreform der rot-rot-grünen Landesregierung
aufgrund der Widerstände.
2019 hat sich die Zahl der
Klassenletzten um eine einzige Region auf 10 verringert, aber 9
Regionen liegen weiterhin in Ostdeutschland. Die einzige
westdeutsche Region unter den 58 strukturschwächsten Regionen
ist um eine Klassenstufe abgestiegen .
Die Klassenstufe 7
reduzierte sich dagegen um 10 Regionen auf 37. Davon liegen nun
8 in Westdeutschland.
Die Bilanz der 58
strukturschwächsten Regionen sieht folgendermaßen aus: 27 der 38
zwischen 2004 und 2019 weggefallenen Kreise, also mehr als zwei
Drittel, fallen in diesen Bereich. 15 westdeutsche Regionen sind
zwischen 2004 und 2019 in diesen Bereich abstiegen. Dazu kommen
10 ostdeutsche Absteiger, wobei 8 mit Brandenburg und Thüringen
aus jenen ostdeutschen Ländern kommen, in denen geplante
Kreisreformen scheiterten. Vier sächsische Regionen sind durch
Kreisreformen heraus gefallen. Lediglich die kreisfreie Stadt
Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt ist den 58
strukturschwächsten Regionen aus eigener Kraft entkommen. Für
Sachsen-Anhalt gab es dadurch jedoch keine Verbesserung, weil
die kreisfreie Stadt Dessau-Roßlau neu hinzukam.
Inwieweit kann aber der
Abstieg von 15 westdeutschen Regionen unter die 58
strukturschwächsten Kreise als Erfolg einer ostdeutschen
Aufholjagd gesehen werden? Die folgende Übersicht zeigt in
wiefern es sich bei den westdeutschen Regionen um
Klassenabsteiger handelt.
Tabelle: 15
westdeutsche Regionen, die sich im Zukunftsatlas 2019 -
im Ver-
gleich zu 2004 neu unter den 58 strukturschwächsten
Regionen befanden |
Zukunftsatlas 2019 |
Zukunftsatlas
2004 |
Klassen-
Stufe |
Gesamt-
Rang |
Land |
Region |
Klassen-
Stufe |
Gesamt-
Rang |
Bereichsrang |
Demo-
grafie |
Lage/
Wohl-
stand |
Arbeits-
markt |
Wett-
bewerb |
6 |
344 |
Niedersachsen |
Celle |
5 |
246 |
186 |
290 |
227 |
96 |
345 |
Rheinland-Pfalz |
Birkenfeld |
5 |
308 |
280 |
201 |
211 |
385 |
349 |
Nordrhein-Westfalen |
Recklinghausen |
5 |
259 |
293 |
331 |
224 |
153 |
350 |
Niedersachsen |
Uelzen |
6 |
320 |
267 |
224 |
307 |
289 |
351 |
Bayern |
Kronach |
6 |
358 |
339 |
227 |
360 |
333 |
352 |
Bayern |
Lkr Coburg |
5 |
316 |
282 |
50 |
392 |
321 |
354 |
Nordrhein-Westfalen |
Hagen |
5 |
299 |
305 |
337 |
204 |
297 |
7 |
355 |
Niedersachsen |
Wilhelmshaven |
5 |
230 |
329 |
291 |
101 |
165 |
357 |
Nordrhein-Westfalen |
Herne |
5 |
290 |
300 |
370 |
241 |
196 |
362 |
Saarland |
Neunkirchen |
5 |
252 |
360 |
182 |
161 |
290 |
371 |
Nordrhein-Westfalen |
Gelsenkirchen |
6 |
321 |
303 |
403 |
319 |
187 |
376 |
Rheinland-Pfalz |
Pirmasens |
5 |
293 |
338 |
359 |
183 |
244 |
378 |
Nordrhein-Westfalen |
Oberhausen |
5 |
292 |
288 |
421 |
96 |
243 |
383 |
Bremen |
Bremerhaven |
6 |
367 |
319 |
439 |
217 |
216 |
387 |
Rheinland-Pfalz |
Kusel |
5 |
277 |
328 |
222 |
213 |
278 |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Zukunftsatlas 2004: Prognos |
Die Bereichsränge geben
Auskunft darüber, wo bei den Regionen die Stärken und Schwächen
gesehen werden. Nur in 3 der 15 Regionen gehörte die Demografie
zur größten Schwäche. Bei mehr als 50 % gehörte die soziale Lage
und der Wohlstand zum schwächsten Bereich. Die
Arbeitsmarktsituation wurde mehrheitlich rosig gesehen. In fünf
Regionen wurde gar die Wettbewerbsfähigkeit und die
Innovationskraft als größte Stärke gesehen. Nur einer Region
wurde dies als größte Schwäche angekreidet. Es stellt sich also
die Frage, ob die Einschätzungen vor 15 Jahren nicht einer
falschen Gewichtung der einzelnen Faktoren oder gar der
Nichtberücksichtigung von wichtigen Faktoren geschuldet war.
Betrachtet man die
Klassenabstiege, dann zeigt sich, dass nur zwei der 15 Regionen
ihre Klasse erhalten konnten. 7 Regionen stiegen um eine Klasse
ab, 6 Regionen sogar um zwei Klassen. Bei jenen, die um zwei
Klassen abgestiegen sind, wurde nur in 50 % der Fälle die
Demografie als größte Schwäche diagnostiziert. Bei einer Region
wurde dagegen sogar die größte Stärke in Wettbewerbsfähigkeit
und Innovation gesehen.
Beispielhaft soll hier die
freie Kreisstadt
Pirmasens und ihre Entwicklung im Zukunftsatlas betrachtet
werden:
Tabelle:
Bewertung der kreisfreien Stadt Pirmasens im
Zukunftsatlas 2004 bis 2019 |
Zeitpunkt
(Anzahl Regionen) |
Klassen-
Stufe |
Index-
Wert |
Gesamtrang |
Bereichsrang |
Demografie |
Lage/Wohlstand |
Arbeitsmarkt |
Innovation |
2004 (439) |
5 |
39,4 |
293 |
338 |
359 |
183 |
244 |
2007 (439) |
5 |
40,7 |
290 |
321 |
310 |
266 |
223 |
2010 (412) |
7 |
k.A. |
379 |
328 |
394 |
328 |
394 |
2013 (402) |
7 |
k.A. |
372 |
294 |
393 |
359 |
299 |
2016 (402) |
7 |
k.A. |
374 |
308 |
394 |
308 |
279 |
2019 (401) |
7 |
k.A. |
376 |
251 |
397 |
327 |
269 |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Zukunftsatlas 2004 bis 2016: Prognos |
Der Klassenabstieg von
Pirmasens erfolgte bereits im Zukunftsatlas 2010. Seitdem hat
sich an der Einschätzung der Zukunftsfähigkeit von Pirmasens
kaum etwas verändert. Das Beispiel von Pirmasens zeigt, dass das
Bild einer Aufholjagd des Ostens in den letzten Jahren kaum
stimmig ist. Gleiches gilt für Wilhelmshaven, das ebenfalls 2010
um zwei Klassenstufen abstieg. Der Abstieg von Herne begann
sogar schon 2007 (eine Klassenstufe), vollzog sich aber länger
bis zum Zukunftsatlas 2013 (weiterer Abstieg um eine
Klassenstufe).
Eher muss also für die
westdeutschen Städte Pirmasens und Wilhelmshaven das Bild einer
Stagnation gezeichnet werden. Der gravierende Klassenabstieg in
Pirmasens und Wilmhelmshaven ist in erster Linie der Reduzierung
der Regionen im strukturschwächsten Sektor geschuldet und nicht
einer Aufholjagd der ostdeutschen Regionen. Eine Ursachenanalyse
kann kaum mit pauschalen Etiketten wie bei RICKENS erfolgen,
sondern bedarf einer differenzierteren Betrachtung von
Abstiegsverläufen einzelner Regionen.
Der Vergleich mit anderen
"Rankings" kann hilfreich sein, um die Schwankungsbreite der
Einschätzungen zu beurteilen. Beim
Finanzreport 2019 der neoliberalen Bertelsmann-Stiftung
werden z.B. die Höhe von Kassenkrediten und die SGB-II-Quote als
Indikatoren für schwache Regionen erhoben. Der Zukunftsatlas
verwendet im Index "soziale Lage & Wohlstand" ebenfalls die
kommunale Schuldenlast und den Anteil bzw. die Veränderung der
Bedarfsgemeinschaften als Indikatoren. Ob jedoch die gleichen
Zahlen verwendet werden, lässt sich nicht nachvollziehen.
Betrachtet man das Beispiel Pirmasens, dann zeigt sich, dass der
Bereichsrang Lage/Wohlstand in der Stadt das Hauptproblem ist.
Im Zukunftsatlas geht jedoch die Langzeitwirkung der
Verschuldungssituation von Regionen nicht in die Betrachtung
ein. Lediglich die Veränderung der SGB-II-Quote wird beim
Dynamikrang betrachtet.
Bereits im April erstellte
das neoliberale Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
mit Die demographische Lage der Nation ein Ranking zur
Zukunftsfähigkeit der 401 Kreise vor. Anders als Prognos war
dafür die Entwicklung der Regionen bis zum Jahr 2035
ausschlaggebend. Die folgende Tabelle vergleicht die
Klassenstufen 7 und 8 mit den Rängen des Berlin-Instituts.
Dieses klassifiziert 6 Klassen, wobei mit Schulnoten bewertet
wird. Da in der Veröffentlichung nur die Ränge der 20 letzten
Regionen angegeben werden und die Noten sich nur durch die
dritte Stelle hinter dem Komma unterscheiden, sind in der
nachfolgenden Tabelle die Ränge teilweise zusammengefasst.
Tabelle: Vergleich des Zukunftsatlas 2019 mit der
demographischen Lage der Nation |
Zukunftsatlas 2019 |
Die
demographische Lage der Nation |
Klassen-
Stufe |
Gesamt-Rang |
Land |
Region |
Gesamt-Rang |
Land |
Region |
Note |
Klassen-
Stufe |
7 |
355 |
Niedersachsen |
Wilhelmshaven |
353-355 |
Bremen |
Bremerhaven |
4,08 |
5
|
Brandenburg |
Ostprignitz-Ruppin |
Sachsen |
Görlitz |
356 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Landkreis Rostock |
356 |
Thüringen |
Unstrut-Hainich-Kreis |
4,09 |
357 |
Nordrhein-Westfalen |
Herne |
357-358 |
Sachsen-Anhalt |
Jerichower Land |
4,10 |
358 |
Brandenburg |
Oberspreewald-Lausitz |
Nordrhein-Westfalen |
Bochum |
4,10 |
359 |
Sachsen |
Erzgebirgskreis |
359-361 |
Schleswig-Holstein |
Wittmund |
4,11 |
360 |
Thüringen |
Schmalkalden-Meiningen |
Thüringen |
Gera |
4,11 |
361 |
Brandenburg |
Frankfurt (Oder) |
Nordrhein-Westfalen |
Märkischer Kreis |
4,11 |
362 |
Saarland |
Neunkirchen |
362-363 |
Schleswig-Holstein |
Schleswig-Flensburg |
4,12 |
363 |
Brandenburg |
Cottbus |
Thüringen |
Altenburger Land |
4,12 |
364 |
Sachsen |
Nordsachsen |
364-366 |
Niedersachsen |
Aurich |
4,13 |
365 |
Thüringen |
Unstrut-Hainich-Kreis |
Thüringen |
Nordhausen |
4,13 |
366 |
Thüringen |
Gera |
Rheinland-
Pfalz |
Zweibrücken |
4,13 |
367 |
Thüringen |
Greiz |
367-368 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Mecklenburgische
Seenplatte |
4,14 |
368 |
Thüringen |
Nordhausen |
Nordrhein-Westfalen |
Unna |
4,14 |
369 |
Sachsen-Anhalt |
Harz |
369 |
Niedersachsen |
Goslar |
4,15 |
370 |
Brandenburg |
Brandenburg a.d.
Havel |
370-371 |
Schleswig-Holstein |
Ostholstein |
4,17 |
371 |
Nordrhein-Westfalen |
Gelsenkirchen |
Nordrhein-Westfalen |
Mönchengladbach |
4,17 |
372 |
Thüringen |
Saale-Holzland-Kreis |
372 |
Brandenburg |
Prignitz |
4,20 |
373 |
Brandenburg |
Ostprignitz-Ruppin |
373 |
Rheinland-Pfalz |
Kusel |
4,21 |
374 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Ludwiglust-Parchim |
374-376 |
Schleswig-Holstein |
Neumünster |
4,24 |
375 |
Thüringen |
Saalfeld-Rudolfstadt |
Mecklenburg-Vorpommern |
Vorpommern-Rügen |
4,24 |
376 |
Rheinland-Pfalz |
Pirmasens |
Nordrhein-Westfalen |
Hagen |
4,24 |
377 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Nordwestmecklenburg |
377 |
Rheinland-Pfalz |
Birkenfeld |
4,25 |
378 |
Nordrhein-Westfalen |
Oberhausen |
378-379 |
Thüringen |
Kyffhäuserkreis |
4,26 |
379 |
Sachsen |
Landkreis Görlitz |
Nordrhein-Westfalen |
Hamm |
4,26 |
380 |
Thüringen |
Saale-Orla-Kreis |
380-381 |
Schleswig-Holstein |
Steinburg |
4,28 |
381 |
Sachsen-Anhalt |
Anhalt-Bitterfeld |
Sachsen-Anhalt |
Anhalt-Bitterfeld |
4,28 |
382 |
Sachsen-Anhalt |
Landkreis Burgenland |
382 |
Niedersachsen |
Holzminden |
4,29 |
383 |
Bremen |
Bremerhaven |
383 |
Nordrhein-Westfalen |
Bottrop |
4,30 |
384 |
Thüringen |
Sonneberg, Lkr |
384 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Vorpommern-Greifswald |
4,30 |
385 |
Sachsen-Anhalt |
Wittenberg |
385 |
Nordrhein-Westfalen |
Recklinghausen |
4,31 |
386 |
Thüringen |
Kyffhäuserkreis |
386 |
Niedersachsen |
Emden |
4,32 |
387 |
Rheinland-Pfalz |
Kusel |
387 |
Saarland |
Saarbrücken |
4,33 |
388 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Vorpommern-Rügen |
388 |
Niedersachsen |
Lüchow-Dannenberg |
4,35 |
389 |
Thüringen |
Altenburger Land |
389 |
Sachsen-Anhalt |
Salzlandkreis |
4,36 |
390 |
Sachsen-Anhalt |
Salzlandkreis |
390 |
Saarland |
Merzig-Wadern |
4,36 |
391 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Mecklenburgische Seenplatte |
391 |
Niedersachsen |
Wilhelmshaven |
4,37 |
8 |
392 |
Brandenburg |
Uckermark |
392 |
Saarland |
Neunkirchen |
4,39 |
393 |
Brandenburg |
Elbe-Elster |
393 |
Nordrhein-Westfalen |
Oberhausen |
4,42 |
394 |
Mecklenburg-Vorpommern |
Vorpommern-Greifswald |
394 |
Nordrhein-Westfalen |
Duisburg |
4,44 |
395 |
Brandenburg |
Prignitz |
395 |
Sachsen-Anhalt |
Mansfeld-Südharz |
4,44 |
396 |
Niedersachsen |
Lüchow-Dannenberg |
396 |
Brandenburg |
Uckermark |
4,47 |
397 |
Brandenburg |
Spree-Neiße |
397 |
Sachsen-Anhalt |
Stendal |
4,50 |
6 |
398 |
Sachsen-Anhalt |
Mansfeld-Südharz |
398 |
Nordrhein-Westfalen |
Herne |
4,50 |
399 |
Sachsen-Anhalt |
Jerichower Land |
399 |
Schleswig-Holstein |
Dithmarschen |
4,51 |
400 |
Sachsen-Anhalt |
Altmarkkreis
Salzwedel |
400 |
Rheinland-Pfalz |
Pirmasens |
4,54 |
401 |
Sachsen-Anhalt |
Stendal |
401 |
Nordrhein-Westfalen |
Gelsenkirchen |
4,71 |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019: Prognos; Die demographische Lage der
Nation; eigene Berechnungen |
Nur 32 Regionen von 58
Regionen wurden in beiden Rankings in die letzten beiden Klassen
eingestuft. Im Zukunftsatlas werden 15 Regionen schlechter
bewertet als im demographischen Lage-Ranking (gelbe Markierung).
Eine Region wird gar um zwei Stufen schlechter eingestuft
(Fettdruck). Im Lage-Ranking wurden unter den 58 Regionen des
Zukunftsatlas 23 Regionen schlechter eingestuft. 12 Regionen
sind im Zukunftsatlas sogar zwei Stufen besser eingestuft.
Regionen in Schleswig-Holstein findet sich nur im
demographischen Lage-Ranking. Unter den 58 Regionen des
Zukunftsatlas finden sich nur 3 Regionen aus
Nordrhein-Westfalen. Außer diesen Regionen finden sich im
demographischen Lage-Ranking 9 weitere Regionen.
Selbst bei den 32
Regionen, die übereinstimmend von beiden Rankings zu den 58
strukturschwächsten Regionen gezählt werden, gibt es teils große
Differenzen bei der Platzierung. So wird Gelsenkirchen im
Zukunftsatlas mit Rang 371 um 30 Ränge besser eingestuft. Auch
das hoch verschuldete Pirmasens wird mit Rang 371 besser
eingestuft (Rang 400 beim Berlin-Institut). Bei der
Ruhrgebietsstadt Herne beträgt der Unterschied sogar (Rang
357/398) 41 Ränge.
Fazit: Obwohl beide
Rankings behaupten, dass sie die Zukunftsfähigkeit der Regionen
in Deutschland prognostizieren können, gibt es eklatante
Abweichungen hinsichtlich der strukturschwächsten Regionen in
Deutschland. Die Auswahl und Anzahl der Indikatoren (29 vs 21)
sowie die Gewichtung haben Einfluss auf die Einstufung. So
fließt z.B. bei Prognos im Demografieindex die Entwicklung und
der Anteil der jungen Bevölkerung stak ein, während beim
Berlin-Institut mit Lebenserwartung und Anteil der Hochbetagten
zwei Indikatoren einfließen, die auf die Alterung abzielen.
Das Berlin-Institut
behauptet gar, dass uns das Bild von Deutschland im Jahr 2035
präsentiert wird, obwohl lediglich einer der Indikatoren
(Bevölkerungsprognose) überhaupt Daten für dieses Jahr liefert.
Alle anderen Indikatoren beziehen sich auf Zeitpunkte in der
Vergangenheit. Gerade Regionalprognosen sind äußerst anfällig
für Fehlerhaftigkeit. Es hat einen guten Grund, dass Prognos
sein Ranking alle drei Jahre erneuert, denn viele Indikatoren
ändern sich sogar in dieser kurzen Zeitspanne gravierend.
Ist Teltow-Fläming beispielhaft für
Brandenburg? Oder warum nicht Dahme-Spreewald?
RICKENS stellt uns den
brandenburgischen Landkreis Teltow-Fläming als beispielhaft für
die Aufholjagd der ostdeutschen Bundesländer vor:
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"Nirgendwo in
Deutschland haben sich die wirtschaftlichen Zukunftschancen
derart schnell verbessert wie in Teltow-Fläming. Für den Kreis
südlich von Berlin ging es seit 2016 um 115 Plätze nach oben, er
liegt nun auf Platz 170 des Rankings."
(S.45)
|
Im Gegensatz zu Sachsen
bestehen die 14 Landkreise und kreisfreien Städte in Brandenburg
seit 1993, d.h. es gab keine Kreisgebietsreformen, die das Bild
seit dem ersten Zukunftsatlas 2004 verfälscht haben könnten. Das
liegt daran, dass die angestrebten Kreisreformen bislang nicht
durchgesetzt werden konnten. Die rot-rote Landesregierung
scheiterte zuletzt mit ihrem Reformvorhaben, bei der die 14
Landkreise auf 11 reduziert werden sollten. Teltow-Fläming hätte
danach mit Dahme-Spreewald fusioniert werden sollen. Wäre also
Rot-Rot nicht gescheitert, dann könnte uns RICKENS
Teltow-Fläming nicht als Vorbild präsentieren. Aus der
nachfolgenden Tabelle wird ersichtlich, was eine solche Fusion
bedeutet hätte:
Tabelle:
Vergleich der Landkreise Teltow-Fläming und
Dahme-Spreewald
beim Zukunftsatlas 2004 und 2019 |
Bereich |
Zukunftsatlas
2019 (2004) |
Zukunftsatlas
2019 (2004) |
Teltow-Fläming |
Dahme-Spreewald |
Klassenstufe |
5 (5) |
5 (6) |
Gesamtrang |
170 (226) |
200 (347) |
Dynamikrang |
7 (109) |
41 (372) |
Stärkerang |
277 (280) |
264 (317) |
Demografierang |
233
(256) |
279
(269) |
Arbeitsmarktrang |
311 (318) |
77 (401) |
Innovationsrang |
30 (45) |
265 (242) |
Lage/Wohlstandrang |
205 (272) |
243 (316) |
|
Quelle:
Zukunftsatlas 2019:
Handelsblatt; Zukunftsatlas 2004: Prognos |
Vergleicht man nicht wie
RICKENS 2016 mit 2019, sondern 2004 mit 2019, dann ist einzig
Dahme-Spreewald wirklich aufgestiegen. Dies zeigt auch eine
Tabelle auf der Website von Prognos. Vergleicht man den
Demografieindikator, dann gab es nur für das Berlinnahe
Teltow-Fläming, aber nicht für Dahme-Spreewald eine
Verbesserung. Über 15 Jahre hinweg konnte Teltow-Fläming seine
Position kaum verändern, trotz Demografiebonus, während
Dahme-Spreewald - trotz Demografiemalus - seine Position um eine
Stufe verbessern konnte. Auch hier zeigt sich also kein enger
Zusammenhang zwischen demografischer Entwicklung und
Zukunftsfähigkeit einer Region.
Die Auswahl des
Betrachtungszeitraums kann zudem die Interpretation der
Ergebnisse stark beeinflussen. Warum hat also RICKENS
Teltow-Fläming, statt Dahme-Spreewald herausgehoben? Offenbar
passte die Demografieentwicklung von Dahme-Spreewald nicht zur
Behauptung des Artikels, dass diese ein entscheidender Faktor
für die Zukunftsfähigkeit einer Region ist. Außerdem
widerspricht Dahme-Spreewald der Behauptung, dass die Berlinnähe
die Positionierung bei der Zukunftsfähigkeit entscheidend
verbessert ("Spill-over- und tripple-down-Effekte").
Entscheidender sind Infrastruktureffekte.
Der Lage/Wohlstandrang
wird uns vom Handelsblatt auf der Website
vorenthalten. Dies betrifft die Kaufkraft, die
Kriminalitätsrate, die kommunale Schuldenlast und der Anteil
bzw. die Entwicklung der Bedarfsgemeinschaften (Hartz-Gesellschaft!).
Dieser Bereichsindikator findet man lediglich in der
Prognos-Broschüre Auf einen Blick.
Die Angst vor der Alternative für Deutschland
führt zur Tabuisierung von Entwicklungen, die nicht zur heilen
kosmopolitischen Welt passen
RICKENS hat sich als
einzigen "unabhängigen" Experten einen im Saarland geborenen
FDP-Politiker geholt, der unter der CDU/FDP-Regierung
Finanzminister in Sachsen-Anhalt wurde. Karl-Heinz PAQUÉ sieht
entsprechend seiner politischen Einstellung nicht falsche
neoliberale Weichenstellungen als Problem für Ostdeutschland,
sondern betont neben der demografischen Abwärtsspirale
(Abwanderung der Mobilen, Zurückbleiben der Frustrierten), die
zum notwendigen Abbau von Infrastruktur (z.B. Schulschließungen)
führen, nur den gesellschaftspolitischen Aspekt:
Aufholjagd
der Schmuddelkinder
"Das größte Risiko sieht Paqué für entlegene ländliche
Regionen vor allem im gesellschaftlichen Bereich. Er warnt vor
einem
»Zusammenbruch der Bürgergesellschaft«, der solche Regionen
endgültig veröden lasse.
(...).
»Wenn die Bürger erst einmal das Gefühl haben, dass alles von
anonymen Instanzen über ihren Kopf hinweg entschieden wird,
entsteht schnell ein Gefühl des Ausgeliefertseins, das nebenbei
auch einen Nährboden für die AfD bietet.«"
(S.46)
|
Bei dieser Beschreibung
bleibt außen vor, dass z.B. Schulschließungen keineswegs eine
notwendige Konsequenz des demografischen Wandels waren, sondern
regelmäßig durch tendenziöse Annahmen zur Geburtenentwicklung
bei Bevölkerungsvorausberechnungen gerechtfertigt wurden. Das
Beispiel des neoliberalen Musterknaben Sachsen ist dafür
kennzeichnend. Der Erzieherinnen- und Lehrermangel in
Deutschland ist kein demografisches Problem, sondern ein von der
herrschenden neoliberalen Politik verursachtes Phänomen.
Die Lobpreisung des
"weltoffenen" Leipzig bei RICKENS geht einher mit der
Tabuisierung der Entwicklung von Dresden. Die durch Pegida in
Kritik geratende Stadt schaffte als einzige Stadt in
Ostdeutschland einen Aufstieg über drei Klassenstufen zwischen
2004 und 2019. Dresden steht damit in Sachen Zukunftsfähigkeit
im krassen Gegensatz zum Landkreis Görlitz als sächsisches
Schlusslicht. Die Tatsache, dass sowohl in der erfolgreichsten
als auch in der strukturschwächsten Region die AfD eine starke
Stellung einnimmt, passt so gar nicht zu dem gängigen
kosmopolitischen Weltbild.
Fazit: Bei Rankings wie dem Zukunftsatlas ist
die Blickrichtung zu sehr vorgegeben, was zu Fehleinschätzungen
führt
Wie hier gezeigt werden
konnte, legt bereits die Auswahl der berücksichtigten
Indikatoren die Blickrichtung fest. Dem demografischen Wandel
wird dadurch viel Aufmerksamkeit gewidmet, während z.B.
Infrastruktureffekte aus dem Blick geraten. Der Zukunftsatlas
wird zudem von einem profitorientierten Unternehmen erstellt,
worunter die Transparenz leidet. Wichtige Informationen zur
Bewertung der Ergebnisse werden dadurch vorenthalten. Es konnte
gezeigt werden, dass Zeitvergleiche schnell zu
Fehleinschätzungen führen können, weil sich im Laufe der Zeit
entweder die Regionenzuschnitte oder die Indikatoren/Kritierien
geändert haben. Aussagekräftigere Angaben wie z.B. Indexwerte
oder die Kriterien der Klassenstufen (Klassifizierung) bleiben
im Unklaren. Aufgrund der mangelnden Transparenz des Rankings
konnte daher nur auf mögliche Fehlerquellen hingewiesen werden.
Außerdem zeigt sich, dass zwischen den Fakten und den
Interpretationen zuweilen kein Zusammenhang besteht, der der
Überprüfung standhält. Die behauptete Abnahme der Kluft zwischen
Ost- und Westdeutschland ist keineswegs so umfassend, wie der
Artikel von RICKENS das suggeriert. Stattdessen werden Aspekte
wie z.B. der Bereich Wohlstand/Lage einfach ausgeblendet, weil
er das schöne Bild nicht bestätigt. Die Polarisierung zwischen
ostdeutschen Regionen, die durch politische Verstärkungsprozesse
hervorgerufen wurden, werden tabuisiert. Alles in allem lässt
der Zukunftsatlas zu viele Fragen offen. Zukunftsfähigkeit ist
keine lineare Fortschreibung demografischer Faktoren der
Vergangenheit wie sie das Ranking suggeriert. Vielmehr - das
zeigen die früheren Rankings eindrucksvoll - zwingen Brüche zu
Neubewertungen der Zukunftsfähigkeit. Sowohl die Digitalisierung
als auch die Wohnungssituation blieben im Jahr 2004 völlig
unberücksichtigt, weshalb dem demografischen Wandel viel zu sehr
Gewicht beigemessen wurde, was nun korrigiert werden musste.
Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden: nichts ist so sehr
veraltet wie die Gewissheiten vergangener Rankings!
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Dies
ist die erste grundlegende Auseinandersetzung mit dem
nationalkonservativen Argumentationsmuster, das zunehmend
die Debatte um den demografischen Wandel bestimmt.
Hauptvertreter dieser Strömung sind Herwig Birg, Meinhard
Miegel, Jürgen Borchert und Hans-Werner Sinn. Die
Spannbreite der Sympathisanten reicht von Frank
Schirrmacher bis zu Susanne Gaschke. Als wichtigster
Wegbereiter dieses neuen Familienfundamentalismus muss der
Soziologe Ulrich Beck angesehen werden.
Es wird aufgezeigt, dass sich die
nationalkonservative Kritik keineswegs nur gegen Singles
im engeren Sinne richtet, sondern auch gegen Eltern, die
nicht dem klassischen Familienverständnis entsprechen.
Die Rede von der "Single-Gesellschaft"
rechtfertigt gegenwärtig eine Demografiepolitik, die
zukünftig weite Teile der Bevölkerung wesentlich
schlechter stellen wird. In zahlreichen Beiträgen, die
zumeist erstmals im Internet veröffentlicht wurden,
entlarvt der Soziologe Bernd Kittlaus gängige
Vorstellungen über Singles als dreiste Lügen. Das Buch
leistet damit wichtige Argumentationshilfen im neuen
Verteilungskampf Alt gegen Jung, Kinderreiche gegen
Kinderarme und Modernisierungsgewinner gegen
Modernisierungsverlierer." |
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