2017
DPA/ND
(2017): Die Frühaufsteher altern zusehends.
Der demografische Abwärtstrend
in
Sachsen-Anhalt scheint trotz vermehrten Zuzugs ungebrochen,
in:
Neues Deutschland v.
02.01.
LOBENSTEIN,
Caterina (2017): Hier herrscht Klassenkampf.
Sachsen-Anhalt: In der Arbeiterstadt Bitterfeld ist die AfD stärkste Partei. Ihre Wähler haben nicht
nur mit Flüchtlingen ein Problem, sondern auch mit dem
Kapitalismus,
in:
Die ZEIT Nr.2 v.
05.01.
SOMMERFELDT,
Nando & Michael FABRICIUS (2017): Ende der Völkerwanderung.
Erstmals seit der
Wiedervereinigung ist die Flucht von Ost nach West gestoppt.
Stattdessen verfestigt sich ein anderes Phänomen,
in:
Welt v. 07.01.
FRITSCHE, Andreas (2017): Neuruppin
als Perle herausputzen.
Brandenburg: Studie rät zu Konzentration als Rezept gegen die Abwanderung aus
Nordwestbrandenburg,
in:
Neues Deutschland v.
07.01.
DPA/ND
(2017): Rot-Rot-Grün zieht vor Gericht.
Thüringens Regierung will
rechtliche Bedenken gegen Volksgehren prüfen lassen,
in:
Neues Deutschland v.
09.01.
FABRICIUS,
Michael (2017): Preisboom sogar im Allgäu.
In den teuren Metropolen gerät
der Aufschwung ins Stocken. Die Käufer wandern ab in die
Provinz,
in:
Welt v. 11.01.
NEIßE,
Wilfried (2017): Gegner der Kreisreform sind siegessicher.
Brandenburg: Effektivste Volksinitiative in
Brandenburgs Geschichte,
in:
Neues Deutschland v.
01.02.
IÖR (2017): Studienergebnisse liegen vor: Wohnen in Görlitz -
attraktive Alternative zum Großstadtstress,
in:
Pressemitteilung des
Leibnitz Instituts für ökologische Raumentwicklung v.
02.02.
LASCH,
Hendrik (2017): Eine Woche Feldversuch in der Kleinstadt.
Zweite Auflage des
Probewohnens in
Görlitz: Deutsch-polnische Grenzstadt überzeugt
viele der Zuzügler,
in: Neues
Deutschland
v. 04.02.
BRANKOVIC,
Maja & Christian SIEDENBIEDEL (2017): Kein Land der Abgehängten.
Die Globalisierung hat die
Exportnation Deutschland reich gemacht. Aber auch hier gibt es
Regionen, in denen viele arbeitslos geworden sind. Die Autoren
haben sich unter Profiteuren und Verlierern umgehört,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 11.02.
Tabelle:
Entwicklung der regionalen Beschäftigung
1978-2014 |
Rang |
Kreisfreie
Städte
bzw.Kreise |
Beschäftigungsentwicklung
(in Vollzeitäquivalenten) |
1 |
Vechta |
149,1 % |
2 |
Freising |
143,2 % |
3 |
München-Land |
139,6 % |
4 |
Landshut |
128,6 % |
5 |
Eichstätt |
118,2 % |
... |
... |
... |
198 |
Hamburg |
9,7 % |
... |
... |
... |
210 |
Frankfurt
a.M. |
8,4 % |
... |
... |
... |
219 |
Köln |
6,5 % |
... |
... |
... |
319 |
Pirmasens |
- 29,4 % |
320
|
Leverkusen |
- 31,1 % |
321 |
Wuppertal |
- 31,1 % |
322 |
Herne |
- 33,3 % |
323 |
Gelsenkirchen |
- 36,1 % |
324 |
Duisburg |
- 36,3 % |
325 |
Südwestpfalz |
- 37,6 % |
|
Quelle:
SÜDEKUM/DAUTH/FINDEISEN
2016, Tabelle 1, S.4 |
NEIßE,
Wilfried (2017): Die Linke sucht neue Wege übers Land.
Brandenburg: Konzept zur Entwicklung des
ländlichen Raums vorgestellt,
in:
Neues Deutschland.
24.02.
SCHMITZ,
Thorsten (2017): Dorfschönheit.
Hessen: Was passiert, wenn sich ein
Milliardär in einen Ort verliebt, aus dem eigentlich alle
wegwollen? Über ein Experiment mit nachhaltiger Wirkung,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 27.02.
Thorsten
SCHMITZ berichtet über das schrumpfende Dorf
Grebenhain im
hessischen Landkreis Vogelsberg:
"Vor zehn Jahren haben in
Grebenhain und seinen 14 Ortsteilen 5.200 Menschen gelegt,
heute sind es noch 4.700."
Grebenhain hat jedoch einen
Philanthropen, wie ihn sich der FDP-Philosph Peter SLOTERDIJK
wünscht. Schließlich ist Wahlkampf und die FDP braucht PR, die
SCHMITZ ihr mit diesem Artikel liefert. Man darf bezweifeln,
dass Philanthropie eine wirkliche Alternative zu einem
Sozialstaat ist. Mit der Bahn ist das Dorf nicht mehr zu
erreichen, aber die Philanthropen kommen sowieso per
Hubschrauber und haben natürlich mehrere Wohnsitze in
Metropolen. So lässt sich die Ödnis besser ertragen!.
RIPPEGATHER, Jutta
(2017): Mit Jobs gegen die Landflucht.
Finanzbehörden verlagern
Stellen aus Großstädten an kleinere Ämter,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 15.03.
Bislang
verstärkt der Staat mit seiner Zentralisierung von Behörden die
räumlichen Disparitäten zusätzlich zur Privatwirtschaft. Dieser
neoliberale Standortwettbewerb gerät nun angesichts der stärker
gewordenen Antiglobalisierungsfront unter Rechtfertigungsdruck.
Das hessische Finanzministerium will nun mit einer
Dezentralisierung den ländlichen Raum stärken, wobei die
Bergstraße nicht unbedingt zum ländlichen Raum gezählt werden
kann.
HAAK, Sebastian
(2017): Ein seltenes Schauspiel.
In Thüringen liegen sich die
rot-rot-grüne Regierung, die CDU-Fraktion und das
Landtagspräsidium gehörig in den Haaren,
in:
Neues Deutschland v.
21.03.
DPA/ND (2017): Unterschriften gegen Gebietsreform.
Mit dem landesweiten Thüringer
Bürgeraufruf soll das Projekt gestoppt werden,
in:
Neues Deutschland v. 21.03.
NEIßE,
Wilfried (2017): Politische Mathematik von Plus bis Minus.
Brandenburg: Im Finanzausschuss stritt die
Stadt Cottbus mit der Regierung über die finanziellen Folgen der
Kreisreform,
in:
Neues Deutschland v.
24.03.
ALTENBOCKUM, Jasper von (2017): Ab in die Stadt! Ab aufs Land!
Stadt und Land haben nicht
unter Demographie zu leiden. Aus Prognosen sind Klischees
geworden,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 25.03.
"Die Ballungsgebiete
platzen aus den Nähten, der ländliche Raum dagegen klagt
über Auszehrung. (...). Der Grund liegt darin, dass die
»demographische Krise« eine Krise vorschneller Prognosen
ist: Nicht der Geburtenrückgang und eine angeblich
schrumpfende Bevölkerung sind das größte Problem, sondern
die Folgen der Vorhersage, dass das perspektivlose Land in
wenigen Jahrzehnten so entvölkert sei wie die deutsche
Provinz nach dem Dreißigjährigen Krieg. Jeder (junge) Mensch
muss sich da sagen: Ab in die Stadt!",
erklärt uns Jasper von ALTENBOCKUM ausgerechnet in jener Zeitung, die vor 12 Jahren
genau jene zum Klischee geronnenen Prognosen von Herwig BIRG
in 10 Lektionen unters Volk brachte, die dann auch noch zum
Buch Die ausgefallene Generation zusammengebraut wurden.
Der Wissenschaftsjournalist Björn SCHWENTKER schrieb dazu
in
der
ZEIT:
"Heute fordert Herwig
Birg, derzeit wohl der medial einflussreichste
Bevölkerungsforscher Deutschlands, öffentlich ein
»ökologisch nachhaltiges Handeln« für den »Menschen als
natürliche Spezies«. Insbesondere der Geburtenrückgang in
Ostdeutschland sei »schlimmer als der Dreißigjährige Krieg«.
Die FAZ räumt Birg gleich eine ganze Serie ein, in
der er als alleiniger Autor und ohne Gegenstimme seine
Ansichten in einem zehnteiligen
Grundkurs
Demographie verbreiten darf. Damit ist das Blatt in
unguter Gesellschaft: Im Internet findet sich kaum eine
NPD-Seite, die nicht vor Äußerungen des Bielefelder
Katastrophisten strotzt."
Jetzt will die FAZ
von BIRG, der von Frank SCHIRRMACHERs Feuilleton damals
hofiert und protegiert wurde, nichts mehr wissen? ALTENBOCKUM
sollte also erst einmal die unselige Vergangenheit der eigenen
Zeitung aufarbeiten. Aber das ist nicht Sache von FAZ-Journalisten.
Lieber schreiten sie zu neuen Ufern und schaffen damit neue
Mythen. Jetzt fordert ALTENBOCKUM sogar auf zur
Planwirtschaft, die als Wohnsitzpflicht für Flüchtlinge
umschrieben wird:
"Ausgerechnet zwei
Bundesländer mit besonders hohem ländlichen Anteil,
Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, verzichten auf die von
Städten und Landkreisen dringend empfohlene Regelung, dass
den Wohnort nicht wechseln darf, wer anerkannter, aber
arbeitsloser Flüchtling ist. Städte wie Goslar, die sich
durch den Zuzug einen Aufschwung erhofften und alles dafür
vorbereitet hatten, sehen sich deshalb um ihre Hoffnungen
betrogen",
kritisiert ALTENBOCKUM.
Nicht genug: Die Planwirtschaft soll zudem von der kommunalen
Selbstverwaltung konterkariert werden. Oder anders formuliert:
Planwirtschaft ja, aber nur, wenn sie der Kommune auch passt:
"An oberster Stelle steht
dabei eine Stärkung eigener, dauerhafter
Finanzierungsquellen von Städten und Landkreisen, deren
Verteilung gegen das Gefälle von Reich und Arm, von Ballung
und Auszehrung gerichtet ist."
Tatsächlich wird schon seit
längerer Zeit eine
Neuordnung des Finanzausgleichs diskutiert, denn dieser
berücksichtigt die regionalen Bedarfe nicht angemessen. Der
Politikwissenschaftler Christian RADEMACHER schreibt dazu in
seinem 2013 erschienenen Buch Deutsche Kommunen im
demographischen Wandel:
"Solange der kommunale
Finanzausgleich sich vor allem an Einwohnerzahlen und nicht
an der Altersstruktur und damit verbundenen Kostenprofilen
(...) orientiert, gehen interkommunale Ausgleichsysteme von
einer Bedarfsstruktur aus, die möglicherweise gar nicht
(mehr) besteht. In diesem Zusammenhang wird eine
zielgerichtete, dynamische Anpassung des Finanzausgleichs,
an sich verändernde Alterstrukturen diskutiert". (2013,
S.235)
Das Hauptproblem besteht
für RADEMACHER aber im Fehlen einer Datengrundlage zur
Bestimmung der kommunalen Bedarfe. Wie kann es sein, dass die
private Bertelsmann Stiftung solche Daten liefert, denen es
jedoch gravierend an Transparenz mangelt? Wieso fehlen also
staatliche Daten? Dazu lesen wir nichts bei ALTENBOCKUM, der
uns gleich mit Konzepten kommt, deren angemessene
Umsetzbarkeit erst gar nicht in den Blick kommt.
Ein drittes Problemfeld
wird von ALTENBOCKUM mit den ostdeutschen Gebietsreformen
angesprochen, speziell Thüringen, wo die CDU den Aufstand
gegen die dortige Gebietsreform organisiert.
NEIßE,
Wilfried (2017): "Wir lassen uns nicht degradieren".
Brandenburg: Volksinitiative
gegen die Kreisreform im Innenausschuss des Landtages angehört,
in:
Neues Deutschland v.
31.03.
FREUDENBERG, Sandra (2017): An der Schwelle zum Paradies.
Reportage: Die "Zuagroasten" gehen
sonntags nicht in die Kirche. Das Wirtshaus am Marktplatz serviert
vegane Gerichte. Ein kleines Haus kostet 850.000 Euro. Wie Holzkirchen
versucht, sich mit dem Umbruch zu arrangieren,
in:
TAZ v. 04.04.
"Holzkirchen liegt etwa 30 Kilometer südlich von München und ist
so etwas wie das Einfallstor für Städter, die das Wochenende am
Tegernsee oder in den bayerischen Alpen verbringen wollen. (...)
Entsprechend oft ballt sich rund um die 17.000-Seelen-Gemeinde der
Autoverkehr - bundesweit bekannt ist Holzkirchen vor allem durch
die Staumeldungen auf der A8 Richtung Salzburg",
beschreibt Sandra FREUDENBERG die
Lage von
Holzkirchen im oberbayerischen Landkreis Miesbach.
"Nach Holzkirchen ziehen
Menschen, die ihre Jobs und ihr Leben in der Großstadt nicht
aufgeben, ihre Kinder zugleich aber auf »dem Land« großziehen
wollen. »Auskindern« nennt das der ortsansässige
Immobilienmakler",
erklärt uns FREUDENBERG das
Klientel der Family-Gentrifier von Holzkirchen. Der Begriff wurde
ursprünglich für jene Doppelkarrierefamilie geprägt, die
innenstadtnah wohnen wollte. Im Zuge der neoliberalen
Standortpolitik in Deutschland, können sich viele
Doppelkarrierefamilien eine innenstadtnahe Wohnung in den großen,
attraktiven Metropolregionen nicht mehr leisten und ziehen deshalb
wieder vermehr in die Umlandgemeinden von Metropolen. Die taz
folgt nun ihrem Klientel des urbanen, kreativen Milieus in die neuen
"sozialen Brennpunkte".
Holzkirchen wird nicht wie von
Wikipedia als "bevölkerungsreichste und wirtschaftlich stärkste
Kommune des Landkreises" beschrieben, sondern als Ort, an dem sich
das grüne taz-Klientel wohlfühlen könnte:
"Holzkirchen (...) an der
Schnittstelle der Landkreise München und Miesbach (...). Es gibt
neben dem staatlichen auch ein privates Gymnasium, eine private
Grundschule bietet Ganztagsbetreuung. Für den Nachwuchs ist rundum
gesorgt: Waldorf- und Waldkindergarten, Montessori- und
Musikschule."
Statt einer Fußgängerzone gibt es
jedoch nur eine Hauptverkehrsstraße im Ortskern. Und die
einheimische Jugend lungert herum, während die eingefallenen
"Neureichen" Golf, Polo und sonstige mehr oder weniger trendigen
Freizeitvergnügungen nachgehen.
Fazit: FREUDENBERG stellt
Holzkirchen als Ort vor, in dem Etablierte und Außenseiter (Norbert
ELIAS) bzw. Einheimische und Zugereiste (FREUDENBERG) mit ihren je
eigenen Vorstellungen vom guten Leben aufeinanderprallen.
DÖRR, Julian
(2017): EU-Strukturpolitik auf Abwegen.
Einst nur für arme Regionen
gedacht, fließen die Fördergelder heute bis ins reiche Bayern - mit
absurden Verteilungseffekten. Höchste Zeit für die Reform der
heimlichen Ersatzwirtschaftspolitik,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 07.04.
Julian DÖRR kritisiert die so genannte
Kohäsionspolitik der EU und plädiert für einen Wettbewerb der
Regionen:
"Schlussendlich sollte die
Förderung tatsächlich auf die Regionen beschränkt werden, die
weder selbst die Leistungsfähigkeit haben, sich zu entwickeln,
noch auf eine wirtschaftstarke, übergeordnete Instanz
zurückgreifen können."
Bei der Betrachtung der
Kohäsionspolitik aus neoliberaler Perspektive wird jener Punkt
ausgeklammert, mit dem die EU ihre "uneinsichtigen" Mitgliedsstaaten
zur Räson bringen will:
"Die Kommission kann die
Fondsmittel für einen Mitgliedstaat aussetzen, falls er sich nicht
an die EU-Wirtschaftsregeln hält." ( Juni 2014)
Die Kohäsionspolitik der EU setzt
mit ihrer Förderung auch Akzente hinsichtlich der Gleichwertigkeit
der Lebensbedingungen in Deutschland, bei der es um die Frage der
Benachteiligung ländlicher Regionen geht, die aufgrund der Angst
unserer neoliberalen Eliten vor populistischen Erfolgen immer
stärker auf die politische Agenda drängt.
LASCH, Hendrik (2017): Auf dem Land spielt die Musik.
Sachsen-Anhalt:
Wie Bürgermeister Andreas Brohm in
Tangerhütte den Altmark-Blues vertreibt,
in:
Neues Deutschland v. 12.04.
LASCH, Hendrik (2017): Landlust bei der Regierung.
Sachsen-Anhalt
denkt über neues
Staatsziel nach,
in:
Neues Deutschland v. 12.04.
GROSSARTH, Jan (2017): Jugendstil.
Ein Künstler wagt den Neuanfang in
Görlitz. Mit achtzig. Das ist eine typische Geschichte für diese
Stadt, die alt ist und doch sehr in Bewegung. Jeder Vierte zog weg.
Aber für viele ist das zurückgelassende Paradies aus Barock und
Jugendstil, tief im Osten, wie ein Magnet,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13.04.
HALLMANN, Barbara
(2017): Mit den Kindern geht auch das Dorfleben.
In
Sachsen-Anhalt
organisieren sich
Eltern und Pädagogen gegen Schulschliessungen - von der Politik wird
das nicht gern gesehen,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 18.04.
BÜSCHEMANN, Karl-Heinz (2017): Das gallische Dorf.
Auch
im Sorgenland Nordrhein-Westfalen gibt es wirtschaftlich erfolgreiche
Landstriche. Einer ist das Sauerland. Hier ist die Arbeitslosigkeit
niedrig, die Unternehmen expandieren und die Landesregierung ist weit
weg,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 27.04.
"Der Hochsauerlandkreis hat
265.000 Einwohner und grenzt im Süden von Nordrhein-Westfalen an
Hessen. In diesem größten Landkreis von NRW, der aber gerade so
viele Einwohner hat wie die Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen, liegt
die Arbeitslosigkeit bei nur 4,8 Prozent. Im Landesdurchschnitt
beträgt diese Kennzahl für wirtschaftliches Wohlergehen 7,6
Prozent, und in mancher Region ist sie sogar zweistellig",
lobt Karl-Heinz BÜSCHEMANN den
CDU-regierten Hochsauerlandkreis und dessen erfolgreiche
Mittelständler. Den Erfolg leitet BÜSCHEMANN aus der
Wirtschaftsgeschichte ab. Das Sauerland erscheint in dieser Sicht
als Gegenbild zum Ruhrgebiet:
"Heute gibt es im Sauerland
noch immer genauso viele Industriearbeitsplätze wie 1982. In ganz
Nordrhein-Westfalen ist die Zahl der Industriejobs in der gleichen
Zeit um 40 Prozent gefallen."
Warum gerade 1982 und nicht 1974
oder 1960? Weil dann das Sauerland weniger gut abschneiden würde?
Als einzigstes Problem wird uns die Abwanderung der Jungen
geschildert:
"Es ist schwierig, die jungen
Leute in der ländlichen Region zu halten, die weit weg liegt von
großen Städten und urbanem Leben. Es gibt im Sauerland keine
Universität, und wenn die Jugendlichen zum Studium wegziehen,
kommen sie meist nicht zurück."
TIMMLER, Vivien
(2017): Plötzlich reich.
Nordrhein-Westfalen: Durch eine drastische Senkung der Gewerbesteuer wurde
Monheim auf
einen Schlag all seine Schulden los. Jetzt ist viel Geld da - und mit
ihm auch viel Ärger,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 28.04.
NIMZ, Ulrike (2017): Biegen und Brechen.
Brandenburg: In Eisenhüttenstadt, der
gescheiterten Utopie des Sozialismus, protestiert ein Grüppchen seit
663 Montagen gegen die Folgen von Schröders Agenda 2010. Wie einst die
DDR wollen sie auch Hartz IV abschaffen. Besuch einer Arbeiterstadt,
der die Arbeit abhanden gekommen ist,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 29.04.
NIEWEL, Gianna
(2017): Nett hier.
Büdingen, Hessen, viel Fachwerk,
wenig Arbeitslose. Warum die NPD ausgerechnet hier mehr als zehn
Prozent hat? Keine Ahnung. Der Bürgermeister hat niemanden gefunden,
der zugibt, rechtsradikal gewählt zu haben. Er kämpft trotzdem - im
Namen des Volkes,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 02.05.
"Endgültiges Ergebnis: 10,2 Prozent
für die NPD in der Stadt Büdingen, Hessen. (...) 21.361 Einwohner.
(...) Arbeitslosenquote im Kreis 4,5 Prozent",
nennt Gianna NIEWEL die Fakten der
Wetteraugemeinde Büdingen, dessen Bürgermeister zu einem Kämpfer gegen
den Rechtsradikalismus stilisiert wird.
"Michelau, auf einer Anhöhe
gelegen, 19,5 Prozent NPD. Einfamilienhäuser, Wachhunde, Kinder laufen
Bällen nach. Hier sind nicht mal Geflüchtete untergebracht, sagt Erich
Spamer. Oder Orleshausen, 16,9 Prozent",
verkündet uns NIEWEL.
Michelau hat jedoch nur rund 340 Einwohner, d.h. die 19,5 Prozent
sind in Wirklichkeit nicht einmal 35 Einwohner (bei 50 Prozent
Wahlbeteiligung!) der 21.000 Einwohnergemeinde. Orleshausen hat zwar
über 750 Einwohner, aber auch diese 16,5 Prozent (ca. 61 Einwohner bei
50 Prozent Wahlbeteiligung!) können keineswegs erklären, warum die
Gesamtstadt über 10 Prozent kommt. Wo also wohnten die restlichen
1.000 NPD-Wähler, die uns verschwiegen werden? 2011 kam die NPD auf
2,2 %, hat sich also innerhalb von 5 Jahren fast verfünffacht. Eine
Wählerwanderungsanalyse unterbleibt jedoch, weshalb der Artikel auch
wenig informativ ist. Stattdessen wird uns der Aktionismus des
Bürgermeisters präsentiert. Ob dies jedoch der richtige Weg ist, um
dem Verfall der politischen Kultur in Deutschland entgegen zu treten,
darf bezweifelt werden, denn offenbar ist die Wahl der NPD nur ein
Symptom. Wäre die AfD dort angetreten, hätte man wohl sie gewählt.
Dass die Arbeitslosenquote nur auf
Kreisebene, aber nicht auf Gemeindeebene erfasst wird, zeigt ebenfalls
ein Defizit unserer amtlichen Statistik an, denn dadurch werden
mögliche gravierende Unterschiede in den einzelnen Gemeinden verdeckt.
Vielleicht sieht die Bilanz des Bürgermeisters doch nicht so gut aus
wie sie in der Reportage dargestellt wird?
GOOS, Hauke (2017): Wir hier, ihr dort.
Schleswig-Holstein: Durch die Gesellschaft
geht ein Riss, er trennt Stadt und Land, Gewinner und Verlierer. Das
ländliche Deutschland, heißt es, fühlt sich abgehängt. Eine Expedition
ins Heimatdorf,
in:
Spiegel Nr.19 v. 06.05.
"Ein Viertel der Deutschen lebt so oder so ähnlich. Nimmt man die
Klein- und Mittelstädte hinzu, dann lebt jeder Zweite in der
Provinz und eben nicht in Zentren wie Berlin oder München oder
Brüssel, wo Trends entstehen und Entscheidungen fallen, die später
im Dorf als Nachrichten oder Vorschriften ankommen",
meint Oberlehrer Hauke GOOS, der
uns das Dorf Albersdorf in Dithmarschen in Schleswig-Holstein als
typischen Ort für diejenigen darstellt, die nicht wie er zu den
Zuarbeitern der Eliten gehören.
"3668 Einwohner, Ergebnis bei
der Bundestagswahl vor vier Jahren: 48 Prozent CDU, 26 Prozent
SPD, 4 Prozent AfD, 0,6 Prozent Tierschutzpartei. Albersdorf ist
Deutschland.
261 Ausländer leben hier (...), das sind etwa sieben Prozent.
Deutschlandweit sind es über elf Prozent",
heißt es da. Nimmt man aber jene
hinzu, die in Großstädten leben und dennoch nicht dem Machtzentrum
angehören, dann bleibt eigentlich kaum ein Deutscher mehr übrig.
Denn selbst Berlin ist Provinz.
Ein Rentner aus dem
Akademikermilieu wie der Autor, nur eben Marke älterer weißer Mann -
provinziell eben, statt Politik-Insider wie GOOS, wird uns als
Sinnbild für die Provinz vorgestellt. Mehr als die typischen
Journalisten-Klischees findet man hier jedoch nicht.
"Früher hat das Land die Stadt
ernährt, die Dörfler bezogen daraus ihren Stolz. Die ländliche
Identität im Allgemeinen hat seither diverse Kränkungen hinnehmen
müssen, weil Landwirtschaft, Handwerk und Industrie an Bedeutung
verloren. Heute belohnt die Gesellschaft jene Bürger, die mit dem
Kopf arbeiten",
erklärt uns GOOS. Man sollte
erwähnen, dass der Rentner, der uns vorgestellt wird,
Architekt war und kein Bauer wie man vermuten könnte - also
Kopfarbeiter wie GOOS. Und vielleicht rührt die Arroganz daraus,
dass der Journalismus seine Bedeutung verloren hat und uns
gekränkter Stolz aus dem Spiegel entgegenblickt.
"Beim Lokalblatt »Dithmarscher
Landeszeitung«, die jeden Tag auch aus Albersdorf berichtet
und an die Lange seine Briefe schickt, freuen sie sich über
Menschen wie ihn. Lokalzeitungen geben denen, die sich als
sprachlos empfinden, eine Stimme. Wut festigt die
Leser-Blatt-Bindung."
Da fragt man sich höchstens, ob
damit die Auflage des Spiegels erhöht werden soll. Ist die
Abgrenzung zum Dorfdepp die Leser-Blatt-Bindung des
Nachrichtenmagazins?
"In der Provinz wohnen
Menschen, die in den öffentlichen Debatten nicht mehr auftauchen,
eben weil sie glauben, in den öffentlichen Debatte nicht länger
erwünscht zu sein",
meint GOOS, der wohl nie in die
Provinz gereist wäre, wenn nicht die AfD erfolgreich wäre - egal wer
sie repräsentiert. Selbstmarginalisierung nennt man das, was GOOS
jenen vorwirft, die nicht wie er mit dem Schreibstift am
Machtzentrum partizipieren darf.
Im letzten Drittel nimmt die
Story dann eine Wende ins Kitschige und das Dorf wird überhöht, wohl
als Kompensation für die anderen zwei Drittel der Story. Die
Stadt-Land-Differenz wird dann zur harmonischen Symbiose: Ihr dort.
aber wir hier. Stadt und Land sollten sich ergänzen lautet die
Vorstellung des Städters: Wir sind das Gehirn und Ihr die Hände, die
das anpacken. Und wenn sie nicht gestorben sind, reiten sie noch
heute der untergehenden Sonne entgegen!
FRITSCHE, Andreas
(2017): Spektakulär saniert.
Brandenburg: Programm zum Tag der
Städtebauförderung am 13. Mai vorgestellt,
in:
Neues Deutschland v. 06.05.
NEIßE, Wilfried (2017): Bevölkerungsprognose schwierig.
Brandenburg:
Enquetekommission informiert sich über die Geheimnisse der
Einwohnerentwicklung,
in:
Neues Deutschland v.
13.05.
LEMBKE, Judith (2017): Problemfall Eigenheim.
Nordrhein-Westfalen: Das Einfamilienhaus ist Traumziel
der Deutschen. Doch viele alte Siedlungen werden für Eigentümer und
Kommunen zur Last,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 14.05.
"Wenn von schrumpfenden
Regionen die Rede ist, geht es meistens um die Ortskerne (...). Doch
seit einiger Zeit blicken immer mehr Kommunen und Planer mit Sorge auf
Viertel, die lange Zeit als Selbstläufer galten: Einfamilienhäuser der
fünfziger bis siebziger Jahre. Viele von ihnen sind gemeinsam mit
ihren Erbauern alt geworden (...). Wenn die Siedlungen in der Nähe
eines Ballungszentrums liegen, ist das kein Problem. (...). Doch in
Regionen wie der Vulkaneifel, dem Hochsauerland oder der Fränkischen
Schweiz werden viele Häuser leer bleiben, sobald der Erstbesitzer
ausgezogen ist - oder zu Schleuderpreisen verramscht.",
erklärt uns Judith LEMBKE
Deshalb wurde in Nordrhein-Westfalen ein Arbeitskreis
Einfamilienhausgebiet im Umbruch gegründet, der von dem Geograph
Christian KRAJEWSKI geleitet wird.
"15 Millionen Ein- und
Zweifamilienhäuser gibt es in Westdeutschland, jede zweite Wohnung
befindet sich in diesem Haustyp, der in ländlichen Gebieten mehr als
80 Prozent der Wohngebäude ausmacht.
Viele dieser Häuser stehen in reinen Wohngebieten",
beschreibt LEMBKE das Ausmaß des
Problems, das von der Änderung der Wohnpräferenzen junger Familien
verschärft wird.
"Altena, eine Kleinstadt im
märkischen Sauerland, gehörte lange zu den am stärksten schrumpfenden
Kommunen in Deutschland, hat seit dem Jahr 2000 mehr als 20 Prozent
der Bevölkerung eingebüßt",
beschreibt LEMBKE die Gemeinde im
Lennetal, die nun davon zu profitieren gedenkt, dass sie in
Ruhrgebietsnähe mit seinen gestiegenen Immobilienpreisen liegt.
Zielgruppe der Kommunen sind "Schwellenhaushalte", die noch vor kurzem
Immobilien in den urbanen Gebieten gekauft hätten, aber sich das
finanziell nicht mehr leisten können. Selbst Singles gelten als
Zielgruppen, die mit großen Wohnflächen gelockt werden sollen.
Realistischer sind dagegen Versuche z.B. Hochbetagte durch Maßnahmen
ein längeres Verbleiben in ihren Häusern zu ermöglichen.
LEMBKE beschreibt außerdem das
Strukturförderungsprogramm
Regionale 2016,
das Einfamilienhäusern eine neue Perspektive verschaffen soll. LEMBKE
spricht von vier Gemeinden im Münsterland, die daran teilnehmen. Sie
nennt nur
Billerbeck. Die Projektseite nennt noch den
Nordkirchener Stadtteil Südkirchen als Einfamilienhausgebiet und
den
Stadtteil Wulfen-Barkenberg in Dorsten.
TARLI, Ricardo
(2017): Ein Dorf lässt sich nicht abhängen.
Baden-Württemberg: Im Nordschwarzwald sorgt ein von
Ehrenamtlichen betriebenes Bürgerauto für den Anschluss an die
Nachbargemeinden,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 16.05.
Ricardo TARLI berichtet aus der
rund 2.800 Einwohner zählenden Gemeinde
Oberreichenbach im Baden-Württembergischen Landkreis Calw:
"Die (...) Gemeinde besteht aus den
vier zerstreuten Ortsteilen Oberreichenbach, Oberkollbach, Würzbach
und Igelsloch."
Das ist nur ein Teil der Wahrheit,
denn diese vier ehemals eigenständigen Gemeinden bestehen wiederum aus
mehreren Dörfern. Zu Würzbach gehört noch Naislach. Zum Dorf
Oberreichenbach gehört der Weiler Siehdichfür und zu Igelsloch gehört
das Gehöft Unterkollbach. Bei der Betrachtung der Verkehrsanbindungen,
die TARLI zum Thema hat, wäre das keineswegs unerheblich, wird aber
nicht erwähnt.
Das Pilotprojekt eines
Elektrobürgerautos, das von Ehrenamtlichen betrieben wird, wird
widersprüchlich bewertet. Für die optimistische Sicht steht Jürgen
ARING vom Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung (VHW),
der die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung betont. Skepsis
verbreitet dagegen Daniel BLEHER vom Darmstädter Öko-Institut, der die
Verantwortung für die Aufrechterhaltung des ÖPNV bei den Gemeinden
sieht. Seine Kritik:
"Ein Bürgerauto kann (...) nur als
Ergänzung zum öffentlichen Verkehr und nicht als Gegenmodell
funktionieren."
GROSSARTH, Jan (2017): Görlitz ist fürs Kapital ein gefährliches Pflaster.
Sachsen: Die vielleicht schönste Stadt
Deutschlands ist paradoxerweise eine der günstigsten, was die
Hauspreise betrifft. Das hat seine Gründe, und somit will ein Kauf gut
überlegt sein,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 19.05.
KASTNER,
Bernd (2017): Wer zuletzt lacht.
Baden-Württemberg: "Unsere Notdurft verrichten
wir auf Toiletten": 2015 echauffierte sich Deutschland über den
"Flüchtlingsknigge" aus der Odenwaldgemeinde Hardheim. Das Ende
der Geschichte, fast zwei Jahre später: Das Miteinander
funktioniert erstaunlich gut,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
23.05.
HÖLL, Susanne
(2017): Rettet die Dörfer!
Landflucht: Die Bundesländer sparen
allzu gern auf Kosten der kleineren Städte,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 29.05.
Statt Steuerentlastungen oder
Sozialleistungen erhöhen, will Susanne HÖLL die regionalen
Unterschiede verringern:
"Die Häuser der Eltern und
Großeltern verfallen, die Busse fahren bestenfalls vier Mal pro Tag in
den nächstgrößeren Ort, der Arzt ist 20 Kilometer weit weg, das
nächste Krankenhaus auch",
beschreibt HÖLL jene Orte, die
besser gefördert werden sollen. Angeblich geht es nicht um Gemeinden
im Speckgürtel der Großstädte, aber da kommen angesichts der
Zielgruppen Zweifel auf:
"Paare, die ihre Miete in den
Zentren nur mit Mühe und zwei Einkommen leisten können und keinen
Platz für ein Kinderzimmer haben. Oder jene Berufstätigen, die in
München, Hamburg oder Frankfurt leben, aber als Rentner die hohen
Preise mit Sicherheit nicht mehr zahlen können. Und vor allem die
Polizisten, Krankenschwestern und Erzieher, die bislang im Umland
wohnten, aber vertrieben werden von Besserverdienenden, die in den
Metropolen keine passende Unterkünfte mehr finden."
Das ist eher ein Plädoyer für die
Ausweitung der großstädtischen Speckgürtel als eine Rettungsaktion für
ländliche Gemeinden in Randzonen, mit denen diese Förderung begründet
wird:
"Warum soll man kleine Nester mit
viel Aufwand am Leben halten, aus denen die tatkräftigen Leute fliehen
und nur noch Alte verharren?
(...). (W)er ganze Regionen verwahrlosen lässt, nährt Radikale
jedweder Couleur".
Man lernt daraus zweierlei: Unsere
Eliten reagieren nur auf Abwahl und Kosmopoliten wie HÖLL vermarkten
ihre Interessen immer strategisch. Man darf daran erinnern, dass die
SZ nach der Jahrtausendwende vehement für die Abschaffung der
Pendlerpauschale und das Ausbluten der Dörfer eingetreten ist, indem
sie uns den Standpunkt von Reiner KLINGHOLZ bei jeder Gelegenheit
präsentierte. Man darf also an der Einsichtsfähigkeit durchaus
zweifeln. Sobald sich die Mitteparteien wieder im Aufwind fühlen, wird
man von der Rettung der Dörfer nichts mehr lesen.
ÖFINGER, Hans-Gerd (2017): Wie Hessens drittgrößte Stadt entsteht.
Oberzent: Im Odenwald fusionieren vier
Gemeinden aus Finanznot - man erhofft sich höhere Zuwendungen seitens
des Landes,
in:
Neues Deutschland v. 31.05.
|
Oberzent,
Hauptort Beerfelden,
Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
HOFFMANN, Catherine & Benedikt MÜLLER (2017): Ganz schön was los hier.
Der Immobilienboom macht längst
nicht mehr an den Grenzen der Metropolen halt. Inzwischen sind manche
Mittelstädte sogar noch teurer,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 17.06.
HOFFMANN & MÜLLER beschreiben die Immobilienentwicklung in den 616
deutschen Mittelstädten (20.000 - 99.999 Einwohner), wobei sich die
Grafik zum Artikel nur auf die 15 am schnellsten wachsenden
kreisfreien Städte und Kreisstädte ab 50.000 Einwohner in den Jahren
2010 bis 2015 bezieht, die aus der nachfolgenden Übersicht ersichtlich
sind.
Kreisfreie Städte und
Kreisstädte
zwischen 50.000 und 99.999
Einwohnern |
Einwohnerzahl im Jahr 2015 |
Bevölkerungswachstum
zwischen 2010 und 2015 |
Kaufpreis-
anstieg
2015-2017 |
Gießen |
84.455 |
12,7 % |
9,3 % |
Landshut |
69.211 |
9,4 % |
10,0 % |
Böblingen |
48.696 |
8,6 % |
13,0 % |
Ludwigsburg |
92.973 |
8,0 % |
8,2 % |
Schwerin |
96.800 |
5,9 % |
16,6 % |
Lüneburg |
74.042 |
5,8 % |
9,8 % |
Konstanz |
95.209 |
5,8 % |
8,1 % |
Tübingen |
87.464 |
5,6 % |
8,2 % |
Esslingen |
91.271 |
4,9 % |
11,8 % |
Schwäbisch Hall |
51.057 |
4,8 % |
13,6 % |
Kempten (Allgäu) |
66.947 |
4,6 % |
28,8 % |
Fulda |
67.253 |
4,3 % |
4,7 % |
Flensburg |
85.942 |
4,2 % |
23,4 % |
Delmenhorst |
76.323 |
4,2 % |
13,9 % |
Rosenheim |
61.844 |
4,1 % |
14,5 % |
Die Tabelle zeigt zugleich, dass
zwischen Bevölkerungswachstum und Immobilienpreisentwicklung kein
enger Zusammenhang besteht, sondern es sind in erster Linie die
speziellen lokalen Verhältnisse für hohe Preisanstiege verantwortlich.
Die Durchschnittswerte beim Kaufpreisanstieg sagen auch nichts darüber
aus, inwiefern nur spezielle Gruppen von Wohnungssuchenden für den
Preisanstieg verantwortlich sind.
Beispielhaft wird von
HOFFMANN & MÜLLER
der Immobilienboom in Kempten und
Tübingen
betrachtet:
Die "Hochschule,
die vor 15 Jahren noch 2.500 Studenten zählte, heute sind es 6.000 -
und es wird über einen neuen Bauabschnitt nachgedacht, um Platz für
weitere 1.000 Studenten zu schaffen.",
wird als Ursache des Booms in
Kempten genannt. Vor 10 Jahren wurden dagegen in Kempten noch
händeringend Mieter und Kapitalanleger gesucht.
Für Tübingen wird die Konkurrenz
zwischen Studenten-WGs, alleinlebende Studenten und Familien
hervorgehoben.
Mit Blick in die Zukunft jedoch ist diese Berichterstattung
kurzsichtig, denn die Studentenzahlen werden in den nächsten Jahren
nicht mehr so steigen wie in den vergangenen Jahren.
KASUMOV, Aziza (2017): Gallisches Dorf an der Ems.
Während sich manche Dörfer leeren,
erlebt das Emsland eine Blütezeit. Anstatt in die Stadt zu ziehen,
gründen die Menschen im Emsland Familien und bauen Häuser. Warum
funktioniert hier der Kampf gegen die Landflucht?
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 21.06.
Aziza KASUMOV hebt die Vorzüge des Emsländer Menschenschlags hervor:
Er ist Vereinsmeier, katholisch und wählt CDU. Hintergrund ist die
Broschüre
Von Kirchtürmen und Netzwerken des berüchtigten
Berlin-Instituts, das vor einigen Jahren vorschlug die Dörfer
aussterben zu lassen und nun im Zeichen der neuen Landlust vor der
Bundestagswahl das
Emsland entdeckt hat.
"Es ist einer der größten
Landkreise Deutschlands,
trotzdem leben hier nur rund 319.000 Menschen in überwiegend
kleinen Ortschaften. (...).
Das Emsland wächst, als eine der wenigen ländlichen Regionen in
Deutschland. Zwar sterben auch hier inzwischen mehr Menschen als
neue geboren werden, aber durch die Einwanderung aus den
Niederlanden und die Aufnahme von Flüchtlingen gab es auch in den
vergangenen Jahren keinen Rückgang bei der Bevölkerung. Die
Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenquote fällt - mit 3,1 Prozent
liegt sie bei fast der Hälfte des niedersächsischen Durchschnitts
- und die Steuereinnahmen steigen. Es werden Kindertagesstätten
gebaut, Neubaugebiete geplant, Ortskerne saniert",
erklärt uns KASUMOV.
HOFMANN, René (2017): Lebe wohl, Heimat.
In den Städten wird zu wenig
gebaut, auf dem Land zu viel und das Falsche. Die Folgen sind fatal.
Höchste Zeit, die Bagger umzuleiten,
in:
Süddeutsche
Zeitung v. 24.06.
Kaum sind die Landtagswahlen
vorbei, kehrt in der SZ wieder die Abkehr vom ländlichen Raum ein.
René HOFMANN kommt uns mit der Lobbyorganisation IW Köln, die ihr
Mantra vom letzten Jahr wiederholt. Was einem ganz bitter aufstößt,
wenn man die SZ über Jahre gelesen hat:
"Was nötig wäre: Mehr kleinere
Wohnungen, drei Zimmer oder weniger, weil die Zahl der
Single-Haushalte steigt, die Menschen älter werden, große Anwesen
im Alter zur Last werden und das Nebeneinander viel mehr Fläche
frisst als ein wohlgeordnetes Miteinander. Das aber entsteht
kaum."
Bis vor zwei Jahren hat die
SZ gegen Single-Haushalte gepöbelt und mit allen Mitteln darauf
insistiert, dass einzig Familienwohnungen das Non-Plus-Ultra seien.
Dann kam die "Flüchtlingskrise" und plötzlich waren auf einmal
Single-Wohnungen gefragt. Ist es da ein Wunder, dass sich viele
Bürger über die so genannte "Lügenpresse" erregen? Das Eigenheim
jenseits der Großstädte war dagegen seit eh und je das Feindbild der
Kosmopoliten.
Dass das IW Köln eine
Lobbyorganisation ist, das las man vor wenigen Jahren noch nicht.
Aber dank des Internets, muss nun auch die Mainstreampresse
zumindest darauf hinweisen, um dann das Körnchen Wahrheit besonders
hervorzuheben:
"Sein Wirken zielt durchaus
auch darauf, politische Debatten im Sinn der Unternehmen zu
lenken, also beispielsweise darauf hinzuwirken, dass neue
Wohnungen vor allem dort entstehen, wo viele Firmen dringend
Arbeitskräfte suchen. Dass die Analyse aber mehr ist als
Lobbisten-Alarmismus, zeigt ein einfacher Realitätscheck: ein
Blick auf die Homepage der Stadt Wunsiedel im Fichtelgebirge."
HOFMANN nimmt ein Extrembeispiel
wie Wunsiedel, um den Lobbyismus zu verharmlosen. Sätze wie
"Die Zahlen, die das Institut
zusammengetragen hat, sind erschreckend. Es hat die demografischen
Trends ermittelt, die als gesichert gelten."
Gesicherte demografische Trends?
Fakt ist etwas ganz anderes. Blickt man 10 Jahre zurück, da wurden
uns ganz andere demografische Trends als gesichert beschrieben. Es
galt als sicher, dass Deutschland rapide schrumpft und zwar schon
seit Jahren. Stattdessen platzt Deutschland aus allen Nähten. Je
kleinräumiger demografische Prognosen sind, desto unsicherer sind
sie zugleich, weil sie Brüche in den Trends nicht berücksichtigen
können. HOFMANN versucht also die Zahlen des Instituts gegen Kritik zu
immunisieren. Und wenn etwas erschreckend ist, dann diese
Überheblichkeiten demografische Vorausberechnungen zu Wahrheiten
umzudeuten, die sie nicht sind.
Anhand von Extrembeispielen die
Normalität in Deutschland beschreiben zu wollen, das ist der große
Skandal, der auf dieser Website als Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme angeprangert wird. HOFMANN schreibt über
seine Heimatstadt, das rund 9.000 Einwohner zählende Wunsiedel.
|
Gabelmannsplatz
mit Gabelmannsbrunnen in Wunsiedel, Foto: Bernd Kittlaus 2015 |
Das Städtchen liegt in einem
strukturschwachen Gebiet und teilt das Schicksal mit vielen
Gemeinden, die nicht vom Wirtschaftswachstum profitieren konnten,
das - auch aufgrund einer Politik für die Ballungsräume - ausblieb.
Nichts davon lesen wir bei HOFMANN. Stattdessen wird eine größere
Kleinstadt folgendermaßen beschrieben:
"Ein Phänomen aus einem kleinen
Ort, in einem ganz dünn besiedelten Gebiet? Von wegen. Die Szene
spielt mitten drin in dieser Republik, in Bayern, in einem
Postleitzahlengebiet, das mit 9 beginnt. Und in der Kleinstadt
gleich nebenan zeigt sich in einem etwas größeren Rahmen ein ganz
ähnliches Bild. Das Hallenbad: stillgelegt. Das Krankenhaus: mit
größeren Kliniken fusioniert. Die Landmaschinenfabrik:
geschlossen. Die meisten Gebäude, die nicht mehr gebraucht werden,
bleiben auch hier einfach stehen. Abgerissen wurde die
Furnierfabrik. Wo sie einst stand, wurde ein Einkaufszentrum
hochgezogen. Aber auch das hielt sich letztlich nicht und wurde
abgebrochen. An gleicher Stelle darf nun eine andere
Supermarkt-Kette erneut ihr Glück versuchen. Dagegen wäre wenig zu
sagen, stünden ein paar Hundert Meter entfernt in der historischen
Altstadt nicht viele Geschäfte leer. Auf heimeligem
Kopfsteinpflaster lässt sich dort an Schaufenstern
vorbeiflanieren, in denen nur Staub liegt.".
Vor nicht einmal einem Jahr schwärmte dagegen Markus MAYR von
der neuen Landlust in
Marktredwitz, einer ca. 17.000 zählenden Kleinstadt in der Nähe
von Wunsiedel mit einem riesigen Einkaufszentrum direkt neben der
historischen Altstadt.
|
Marktredwitz,
Foto: Bernd Kittlaus 2015 |
Aufstrebende und niedergehende
Ortschaften können dicht nebeneinander liegen - mit demografischem
Wandel hat das - zuerst einmal - nichts zu tun. Eine aktuelle Prognos-Studie
kommt zu einer differenzierteren Einschätzung, die
Wohnungsknappheit auch im ländlichen Raum entdeckt hat.
KNUTH, Hannah
(2017): Planet der Alten.
Kurorte: Die Hälfte der 8.000 Einwohner von
Bad Füssing in Bayern ist über 57. Was erzählt so ein Ort vom Dasein im letzten
Lebensdrittel? Ein Besuch,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 25.06.
BURFEIND, Sophie
(2017): Scherbenhaufen.
Deutschland war die
Porzellanhochburg in Europa, nach der Wende zerbrach alles. Ein paar
Unternehmen sind jetzt wieder erfolgreich. Wie schaffen sie das? Über
eine Welt, die vom Wandel der Gesellschaft erzählt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 01.07.
"Leere Häuser, leere Straßen,
Schaufenster, in denen zwar noch Blümchentassen liegen, an deren
Scheiben aber schon diese schwarzen Schilder mit Telefonnummer
hängen: »Haus zu verkaufen«.
Arzberg in Oberfranken war einmal eine der
Porzellanhauptstädte Deutschlands, so wie Deutschland einmal die
Porzellanhochburg Europas war. Es waren 260 Hersteller, 29.000
Beschäftigte, nach der Wende brach alles zusammen. In Arzberg gab
es einmal vier Porzellanfabriken, drei sind schon abgerissen, die
vierte ist bald dran",
schreibt Sophei BURFEIND über den
Niedergang der Porzellanindustrie in Oberfranken. Die neue Erzählung
heißt nun jedoch, dass die Krise vorbei sei. Dazu präsentiert uns
BURFEIND
Kahla
in Thüringen, das weniger durch sein Porzellanproduktion als durch
seine Neonazis Schlagzeilen macht. Weitere Stationen der Reportage
sind
Reichenbach in Thüringen, sowie
Selb in Oberfranken und
Weiden in der Oberpfalz.
HÜLSEN, Isabell (2017): Erschöpfte Stadt.
Standorte: Gera war einmal reich.
Heute ist Thüringens drittgrößte Stadt pleite. Der Niedergang begann,
wie bei vielen ostdeutschen Kommunen, mit der Wende. Andere rappelten
sich auf. Gera gelang das nie. Und das liegt nicht allein am Geld,
in:
Spiegel Nr.27 v. 01.07.
FÖRSTER, Andreas (2017): Bürger gegen braune Horden.
Im Juli sollen im thüringischen
Themar drei große Konzerte rechter Bands stattfinden. Erwartet werden
bis zu 5.000 Neonazis aus ganz Europa. Das wollen sich die
Ortsansässigen nicht gefallen lassen - sie planen eine
Gegenveranstaltung,
in:
Frankfurter Rundschau v. 01.07.
NICOLAS, Timo
(2017): Die Schönheit von Gallin.
Mecklenburg-Vorpommern: Wie regiert man ein Dorf,
wenn man nicht mal Geld für Sprit hat? Ein Besuch beim ärmsten
Bürgermeister Deutschlands,
in:
TAZ v. 08.07.
"Holger Klukas (...) ist der
Chef von
Gallin-Kuppentin: 5 Dörfer, 472 Einwohner. Er ist der vielleicht
ärmste Bürgermeister Deutschlands.
Die Gemeinde Gallin-Kuppentin liegt zwischen den Dörfern Rom, Goldberg
und Benzin an der Mecklenburgischen Seenplatte. (...).
Als Klukas 2006 zum Bürgermeister gewählt wird, ist der Kindergarten
schon geschlossen und die Schule wird bald folgen (...).
Die Tragik steckt im Detail. Der Zugfan, der extra neben den Bahnhof
zog, dessen Gleise jetzt stillgelegt sind. Die letzte Kneipe, die
gerade schließen musste. Die staatlichen Gutshäuser, einst Mittelpunkt
des Dorflebens, die heute Bayern oder Berlinern gehören. Die
freiwillige Feuerwehr, die 26 Mitglieder hat, von denen aber nur zehn
fit für den Einsatz sind. Wenn überhaupt. Dass die Jungen wegziehen,
weil es weder Arbeit gibt noch guten Handyempfang. Und dass die Alten
nicht mehr rauskommen, weil der Bus nur zweimal am Tag fährt. (...).
Wenn sich daran nicht bald etwas ändert, stirbt Gallin-Kuppentin. Wird
eine tote Gemeinde, in der Bayern und Berliner ihre Ferienhäuser
haben",
berichtet Timo NICOLAS aus der
Gemeinde Mecklenburg-Vorpommern. Im Mittelpunkt steht der parteilose
Bürgermeister, der von Hartz IV leben muss und dessen
Aufwandsentschädigung sich aufgrund der politischen Vorgaben, die an
die Demografie eines Ortes und die Knechtschaft der Hartz-Gesellschaft
gekoppelt sind, verringert hat:
"Als seine Gemeinde auf unter 500
Einwohner schrumpft, sinkt auch seine Aufwandsentschädigung. Nur noch
350 Euro. (...). 2010 bekommt er ein Schreiben aus Schwerin. Der
Ehrenamtssold von Bürgermeistern soll auf den Hartz-IV-Satz
angerechnet werden. Es blieben ihm dann nur noch 200 Euro."
BRANKOVIC,
Maja
(2017): Deutschland hat keine Abgehängten.
Sonntagsökonom: In Amerika
produziert die Globalisierung viele Verlierer. In Deutschland nicht,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 09.07.
Der Artikel von Maja BRANKOVIC
knüpft an die Thesen aus dem Artikel Kein Land der Abgehängten
(FAZ 11.02.2017) und
Die armen Männer von Amerika
(FAZ 19.03.2017)
an. Dabei werden die
Aufsätze
China-Schock von David AUTOR u.a. sowie
Trade and
Manufacturing Jobs in Germany von Wolfgang DAUTH u.a.
vorgestellt.
Deutschland hat sehr wohl
abgehängte Regionen und niedergehende Branchen, nur wird das
verdeckt durch die Globalisierungsgewinner bei der
Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der Chemiebranche. Symbol
des Niedergangs ist Pirmasens, das ehemalige Zentrum der
Schuhindustrie in der Südwestpfalz.
"Nicht Amerika, sondern
Deutschland nimmt im internationalen Vergleich eine Sonderstellung
ein. Denn auch in Norwegen, Dänemark und Frankreich hat der Handel
unterm Strich etliche Arbeitsplätze vernichtet - deutlich mehr,
als durch die neuen Exportchancen dazugekommen sind.
Für die aufstrebenden Globalisierungsgegner in diesen Ländern ist
das ein gefundenes Fressen. Wen überrascht es da noch, dass bei
der französischen Präsidentenwahl im April nicht nur die
rechtspopulistische Marine Le Pen mehr als ein Fünftel der Wähler
hinter sich versammeln konnte, sondern dasselbe Kunststück fast
auch dem linken Globalisierungsgegner Jean-Luc Mélenchon gelang?"
meint BRANKOVIC. Diese
Interpretation könnte jedoch voreilig sein, denn die Untersuchung zu
Deutschland bezieht sich auf den Zeitraum 1993 bis 2014, d.h. die
Entwicklungen der letzten 3 Jahre fehlen bei der Untersuchung zu
Deutschland. Es könnte also durchaus sein, dass Deutschland im
Vergleich zu den anderen Ländern nur stärker zeitverzögert von den
negativen Folgen der betroffen wird. Länder wie Frankreich zeigen
dann nur, was auf Deutschland zukommen wird, wenn die neoliberale
Politik weiter fortgesetzt wird und der Niedriglohnsektor im
Dienstleistungssektor immer stärker den Arbeitsmarkt dominiert. Die
Krise der deutschen Automobilindustrie zeigt sich im Abgasskandal,
dessen Dimensionen in Deutschland immer noch verschleiert werden.
Der damit verbundene Vertrauensverlust dürfte erst in den nächsten
Jahren wirklich sichtbar werden. Man mag das bis zur Bundestagwahl
verschleiern können. Danach aber wird es Deutschland umso härter
treffen.
SCHIERITZ, Mark (2017): Mein Haus, mein Auto, meine Provinz.
Fühlen sich die Menschen abseits
der Metropolen wirklich abgehängt? Mark Schieritz besucht nach langer
Zeit wieder einmal seine Heimat - und ist überrascht,
in:
Die ZEIT Nr.29 v. 13.07.
Mark SCHIERITZ reiht sich ein in
die Vielzahl von Journalisten, die
Rückkehr nach Reims
ins Deutsche übertragen, aber damit grandios scheitern. Wolfsfeld im
Speckgürtel der bayerischen Großstädte Regensburg und
Nürnberg/Erlangen hat nichts mit dem gemeinsam, was Didier ERIBON
als die deindustrialisierten Gebiete in Frankreich beschreibt, in
denen die Arbeiterschaft den Front National wählt. Nicht jeder, der
in sein Heimatdorf zurückkehrt, hat etwas Wichtiges zu schreiben.
SCHIERITZ reiht sich in den Kreis
derjenigen ein, die behaupten, dass in Deutschland alles anders sei
als in Frankreich oder den USA.
Christian BARON ist
dagegen nach Kaiserslautern zurückgekehrt, eine abgehängte
Region, die den Niedergang der dortigen Industrie nicht wett machen
konnte. Es hätte auch Pirmasens sein
können. In Deutschland erlebten etliche Regionen einen
ersatzlosen Niedergang der Industrie, aber davon will SCHIERITZ
nichts wissen. Er beruft sich auf eines Studie von Wolfgang STEINLE,
die ein Loblied auf die deutsche Provinz singt:
"Auf den ersten Plätzen in der
Gesamtwertung finden sich nicht die Metropolen, sondern Orte wie
Ebersberg, Heilbronn oder Tuttlingen. Der Ort mit der höchsten
Lebenserwartung in Deutschland ist der Bodenseekreis. Im Schnitt
wird man dort 80,66 Jahre alt - und lebt damit mehr als zwei Jahre
länger als in Berlin. Die Gegend mit der größten Industriedichte
ist der hessische Lahn-Dill-Kreis. (...).
Meine Heimat hat es beim Faktor Beschäftigungsquote in die Top Ten
geschafft. Die Arbeitslosigkeit beträgt 2,9 Prozent",
prahlt SCHIERITZ.
Das Ranking fand im Auftrag des Münchner Focus statt.
SCHIERITZ wäre besser nach Dessau-Roßlau gefahren, das Schlusslicht
im Focus-Ranking. Dort hätte er eher erfahren können, was es
heißt in einer abgehängten Region zu leben. So aber kommt SCHIERITZ
zum Schluss:
"Vielleicht ist es so, dass
nicht Didier Eribon etwas übersehen hat, sondern dass sich die
Zustände in der deutschen Provinz einfach nicht mit denen im
deindustrialisierten Norden Frankreichs oder im Rust-Belt der USA
vergleichen lassen."
NIEMANN, Julia (2017): Heimat, die ich meine.
Dem Dorf Glaubitz in Sachsen laufen
die Frauen davon. Die Männer mögen Zoten und Pegida. Aber nach ein
paar Bier erzählen sie, warum sie immer noch da sind,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 15.07.
MÜLLER, Rainer
(2017): Zwischen Mittelalter und Moderne.
Niedersachsen: Die Hansestadt
Lüneburg gilt als beschauliche Alternative zu Hamburg - viel
günstiger lebt man dort nicht mehr,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 16.07.
ND/DPA (2017): Mehr Millionäre -
und viel Kinderarmut.
Sachsen-Anhalt:
Im Kreis Jerichower
Land sind die meisten Höchstverdiener pro 100.000 Einwohner gemeldet,
in:
Neues Deutschland v. 26.07.
HALLMANN, Barbara (2017): Ein paar Kabel in die weite Welt.
Sachsen-Anhalt:
In der Altmark ist man überzeugt,
dass Breitbandverbindungen die Abwanderung verringern könnten -
ginge deren Ausbau schneller,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 02.08.
DIECKMANN, Christoph (2017): Wartburka und Elisabeth.
Eisenach, deutsches Herzland, im
Wahljahr 2017: Die einen fürchten den Schleier, die anderen die
Kommunisten. Wo einst die Revolution begann, möchte man heute: Bloß
nicht noch einen Umbruch,
in:
Die ZEIT Nr.32 v. 03.08.
taz-Titelgeschichte:
Herzliche Grüße aus der Provinz |
SCHWAB, Waltraud (2017): Wenn die Luft vibriert.
Baden-Württemberg: Dörfer sind Rätsel.
Wenn es gut läuft, hält sie etwas zusammen. Was? Eine Spurensuche
auf dem Dorffest von Oberrimsingen in Südbaden,
in:
TAZ v. 05.08.
Geht die Großstadtzeitung ins
Dorf, dann herrscht dort entweder Gaudi oder Krimi. Heute ist bei
der taz Volksfest angesagt, aber der SS-Krimi darf dabei auch
nicht ganz fehlen!
Oberrimsingen ist übrigens kein Dorf, sondern ein Stadtteil von
Breisach am Rhein. Selbst nach den Kriterien des
Berlin-Instituts
für Bevölkerung
und Entwicklung wäre Oberrimsingen kein Dorf: Mit 1.500 Einwohnern
liegt es weit über den 500 Einwohnern, die bei einer Studie zur
Zukunft der Dörfer als Dorf klassifiziert werden. Auch liegt
die Bevölkerungsdichte von Oberrimsingen über jenen 150 Einwohnern
pro Quadratkilometern, die als Grenze für ländliche Gemeinden gilt.
Fazit: Uns wird von Waltraud
SCHWAB eine Gemeinde als Dorf verkauft, das nur in der Vorstellung
von Großstädtern als Dorf durchgeht.
DAUM, Philipp (2017): "Es gibt da so eine Anpacker-Mentalität".
Zukunft: Die Jungen ziehen weg, die
Alten bleiben. Nur wenige Dörfer schaffen den Generationenwechsel.
Der Demograf Manuel Slupina erforscht, wie es klappt,
in:
TAZ v. 05.08.
Dorf reimt sich bei der
Großstadt-taz immer noch auf Berlin-Institut
für Bevölkerung und Entwicklung,
das
noch vor gar nicht so langer Zeit das Dorf aussterben lassen
wollte. Nachdem jedoch die AfD Erfolge im ländlichen Raum feiert,
hat das neoliberale Privatinstitut die Dorfgemeinschaft als Bollwerk
gegen den demografischen Wandel entdeckt. Selbst schuld also, wenn
Dörfer aussterben! Dann ist die Dorfgemeinschaft eben
"eingeschlafen". Die Dörfer sollen sich wie Münchhausen selber aus
ihrem Sumpf ziehen, so die Großstadtvorstellung, denn Politik ist
schließlich nur für die Großstädte da - der Rest ist der taz
egal!
Fazit: Geht's auf dem Dorf
schief, dann ist das ein Mentalitätsproblem. Geht's in der Großstadt
schief, ist das Politikversagen.
"Man kann die demografische
Entwicklung nicht aufhalten",
ist das Credo von Manuel SLUPINA,
als ob die demografische Entwicklung ein Naturgesetz wäre und nicht
etwa durch politische Entscheidungen verschärft werden könnte. Neben
uns die Sintflut, könnte man da auch sagen.
NUSPLIGER, Niklaus
(2017): Europa an der wiedervereinigten Strasse.
Zwei Provinzstädte - die eine in
Deutschland, die andere in den Niederlanden - versuchen den
europäischen Gedanken zu leben,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 05.08.
Niklaus NUSPLIGER berichtet in
der Serie zur Bundestagswahl über die
"europäische Modellgemeinde
Eurode -einer Zweckgemeinschaft der Grenzstädte Herzogenrath auf der
deutschen und Kerkrade auf der niederländischen Seite mit je knapp
50.000 Einwohnern."
Eurode hat zwar eine
länderübergreifende Stadtregerierung, dennoch wächst auch hier
Europa nicht wirklich zusammen, was wohl auch mit der langen
Geschichte zu tun hat, denn immer wieder wurden Grenzen errichtet,
die den Austausch behinderten. Da mag Aachen, Maastricht und Lüttich
von Europaeuphorikern als "neuer Agglomerationsraum" betrachtet
werden, aber die unterschiedlichen Kulturen und Gesetzgebungen
stehen dem entgegen:
"Die Landesgrenze mag nicht mehr
sichtbar sein, wegen unterschiedlicher Sozial-, Steuer- und
Schulsysteme bleiben die zwei Welten aber real."
Aus neoliberaler Sicht hebt
NUSPLIGER die potenziellen Vorteile der offenen Grenzen hervor:
"Auf niederländischer Seite gibt
es zu viele Pflegefachleute, in Deutschland einen Fachkräftemangel.
Doch wegen Problemen bei der Diplomanerkennung, Sprachbarrieren und
Grenzen in den Köpfen liegt viel Potenzial brach."
Die Absurditäten zeigen sich
jedoch im Alltag, denn die unterschiedliche Strafgesetzgebung führt
dazu, dass das was im einen Land erlaubt ist, im anderen Land
verboten ist. Kriminalität ist also auch eine Sache nationaler
Kulturen und nicht etwa ein objektiver Tatbestand, der universelle
Gültigkeit hätte. Die rechtspopulistischen Parteien sind für
NUSPLIGER, der hier einen niederländischen Lokalpolitiker der
rechtsliberalen Partei VVD zitiert, im Grunde nichts anderes als ein
nationalstaatlich verursachtes Demokratieproblem, wenn es heißt:
"Eine Rückkehr zu den Sperren und
Kontrollen in den Quartierstrassen wünscht sich in Herzogenrath und
Kerkrade niemand. Umso mehr erstaunt, dass in Kerkrade die Partei
für die Freiheit des Rechtsnationalisten Geert Wilders bei den
niederländischen Parlamentswahlen vom März einen Stimmenanteil von
34 Prozent errang. Wilders propagiert den niederländischen
EU-Austritt und die Einführung von Grenzkontrollen – was den
Einkaufstourismus der Niederländer aus dem strukturschwachen Limburg
in Deutschland beschränken würde. Laut Stadtrat Schneider waren die
Stimmen für Wilders aber nicht gegen die deutschen Nachbarn
gerichtet, sondern Ausdruck einer generellen Unzufriedenheit mit der
Regierung in Den Haag."
Die AfD spielt dagegen bei der
Bundestagswahl nach Meinung von NUSPLIGERs Zitatpolitiker keine
Rolle:
"Bei der Bundestagswahl vom
September aber zeichnen sich keine grossen Gewinne für die
EU-feindliche Alternative für Deutschland (AfD) ab, weshalb spürbare
Auswirkungen des Wahlergebnisses auf die Grenzregion
unwahrscheinlich sind. In Herzogenrath kam die AfD bei der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen jüngst auf 5,4 Prozent."
Dass die Städte Kerkrade und
Herzogenrath beide ein eigenes Hallenbad bauen wollen, erscheint
NUSPLIGER als Ausdruck "lokaler Kirchturmpolitik", eher jedoch zeigt
es jedoch, dass Europa kein vertrauensvolles Konstrukt ist. Jeder
muss damit rechnen, dass die alten Feindschaften wieder aufbrechen
so wie z.B. in Jugoslawien nach dem Zerfall der Sowjetunion. Eine
Ideologie wie der Neoliberalismus ist eben nur eine historisch
begrenzt wirkmächtige Ideologie, denn sie spiegelt lediglich die
Herrschaft des Finanzkapitalismus wieder, aber nicht eine
universelle Grundmacht, die die Zeiten überdauert.
ÖFINGER, Hans-Gerd
(2017): Integration à la Neuhengstett.
Die Gemeinde in Baden-Württemberg
wurde einst von Waldensern gegründet,
in: Neues
Deutschland
v. 08.08.
Hans-Gerd ÖFINGER berichtet über die Geschichte der ehemaligen
Waldenser Kolonie "Bourcet", die heute als
Neuhengstett ein Ortsteil von Althengstett im
baden-württembergischen Landkreis Calw ist.
PRZYBILLA, Steve
(2017): Kleinstadt auf grossem Fuß.
Die Gemeinde Walldorf in
Baden-Württemberg lebt in einer wohligen Symbiose mit dem Konzern
SAP - das ist nicht ohne Risiko,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 08.08.
Die Stadt
Walldorf wird von Steve PRZYBILLA als eine der reichsten Städte
in Baden-Württemberg beschrieben. Dies verdankt sie dem SAP-Konzern,
der dort seinen Hauptsitz hat:
"Walldorf, eine Kleinstadt
zwischen Heidelberg und Karlsruhe mit 16.000 Einwohnern, wächst in
rasantem Tempo. Verantwortlich dafür ist der Weltkonzern SAP, der
seit 1977 in Walldorf seinen Hauptsitz hat."
Walldorf ist eine verschlafene
Gemeinde, vergleicht man sie mit den umliegenden Gemeinden, die weit
mehr Lebensqualität aufweisen. Der Fernbahnhof, der von PRZYBILLA
Walldorf zugeschrieben hat, heißt Wiesloch-Walldorf.
Wiesloch ist die größere, und lebendigere Stadt der beiden
Gemeinden. SAP und Walldorf werden deshalb zu Recht als "zwei
Welten" beschrieben, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben:
"Auf der einen Seite: die
Altstadt samt Kirchturm, Buswendeschleife und Doppelhaushälften.
Hier sieht es aus wie in vielen Kleinstädten, in die sich ab und zu
einmal Touristen verirren (...).
Auf der anderen Seite der Brücke, hinter einer Schranke, sieht es
ähnlich aus wie im Silicon Valley."
Walldorf gehört zu jenen
Gemeinden, die von einem einzigen Arbeitgeber extrem abhängig sind,
weshalb die CDU-Bürgermeisterin sowie der Stadtrat dem Konzern sehr
weit entgegen kommt. Man könnte auch sagen, dass die Bauvorhaben der
SAP von der Stadt im Grunde nur noch abgesegnet werden. Verglichen
wird die Abhängigkeit mit Rust:
"In Baden-Württemberg sei eine
solche Konstellation nicht nur in Walldorf, sondern etwa auch in
Rust gegeben, wo sich Deutschlands größter Freizeitpark befinde
(...). Solche Extrembeispiele gebe es aber recht selten: dass eine
Stadt so stark von einem einzigen Gewerbesteuerzahler abhängig sei,
treffe auf weniger als zehn Prozent der Kommunen in
Baden-Württemberg zu",
wird ein Verwaltungsfachmann
zitiert.
SANDER, Matthias (2017): Für Südpfälzer ist Paris
wichtiger als Berlin.
Rheinland-Pfalz: An der
Grenze zu Frankreich bekommen die Deutschen die Politik des
Nachbarlandes direkt zu spüren,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 14.08.
Matthias SANDER berichtet aus
Schweigen-Rechtenbach in der Südpfalz an der französischen
Grenze zu
Wissembourg sowie aus dem französischen
Lauterbourg, dem Sitz des
Eurodistrikt Pamina.
TOETZKE, Paul
(2017): Die vergessenen Mieter.
Delmenhorst: Einst stand der
Wollepark für Aufbruch und Moderne. Heute gilt das Viertel als
sozialer Brennpunkt, die Stadt wünscht den Abriss. Seit April hat
sie BewohnerInnen das Gas und Wasser abgestellt,
in:
TAZ v. 17.08.
Paul TOETZKE berichtet über den
sozialen Brennpunkt
Wollepark in der über 76.000 Einwohner zählenden Stadt
Delmenhorst:
"Früher einmal stand der
Wollepark für Aufbruch und Moderne. Vier- bis fünfzehngeschossige
Blöcke, darin 1.300 Wohnungen. »Urbanität durch Dichte« nannten das
die Stadtentwickler. Die heutigen Straßennamen, Zwirnerei, Kämmerei
oder Färberei, zeugen von einer vergessenen Zeit, in der die
Textilindustrie der wichtigste Arbeitgeber war. Etwa 4.000 Menschen
arbeiteten Ende des 19. Jahrhunderts in den Fabriken. Schon damals
wurden Arbeitskräfte aus osteuropäischen Ländern angeheuert. Die
jungen Frauen aus dem heutigen Polen und Tschechien (...) wurden von
den Delmenhorstern »Wollmäuse« genannt. In den frühen 80ern
schlossen die Fabriken, der Wollepark und die Menschen blieben.
Wann der Wollepark genau zum »sozialen Brennpunkt«, zum »Problemviertel«
wurde, ist schwer zu sagen. Wahrscheinlich gegen Ende der 90er.
Deshalb wurde er ins Städtebauförderprogramm »Soziale Stadt«
aufgenommen. 2012 standen so viele Wohnungen leer, dass es kurz so
aussah, als würde die Stadt den Wollepark zumachen. Inzwischen gibt
es Wartelisten für die Wohnungen, viele Migranten wollen
hierherziehen."
PRZYBILLA, Steve (2017): Große
Flut.
Mecklenburg-Vorpommern: Auf Rügen ging es bisher eher
beschaulich zu. Jetzt haben neue Projekte und steigende
Immobilienpreise eine hitzige Diskussion entfacht: Wie viel Neubau
verträgt Deutschlands größte Insel?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 18.08.
Steve PRZYBILLA berichtet über
ein umstrittenes Bauprojekt im verschlafenen 450-Seelen-Dorf
Lohme
auf der Insel Rügen:
Seit Ende der 1990er Jahre liegt
die Fläche brach, nun möchte die Gemeinde ein Neubaugebiet mit
Eigentumswohnungen, Ferienhäusern, Hotelanlage und privater
Kurklinik errichten, genannt: »Medical Wellness«. Allein im
Medical-Wellness-Hotel sollen 400 Betten entstehen. Welche Folgen
ein solches Dorf im Dorf haben könnte, darüber gehen die Meinungen
auseinander. Die einen sehen die Chance, das von Abwanderung
geplagte Dorf zu retten. Die anderen befürchten das Gegenteil: die
Zerstörung von allem, was Lohme ausmache."
|
Lohme,
Foto: Bernd Kittlaus 2017 |
Auch in
Prora,
einem Stadtteil von Binz, soll aus dem "ehemaligen
Graffiti-Schandfleck", das von den Nationalsozialisten als riesiges
"Kraft durch Freude"-Ferienzentrum geplant war, ein "lebendiges
Viertel" werden:
"Derzeit wird ein Block nach dem
anderen saniert. Eine Jugendherberge, ein Seniorenwohnheim, ein
Aparthotel sowie 400 Eigentums- und Ferienwohnungen befinden sich
bereits in der Anlage (...). Der Investor Ulrich Busche ersteigerte
zwei komplette Blöcke für 455.000 Euro - ein guter Deal, wenn man
bedenkt, dass eine einzige Eigentumswohnung heute mehr kostet als
der gesamte Block."
|
Prora,
Foto: Bernd Kittlaus 2017 |
HAGEN, Hans von der & Jan
SCHMIDBAUER (2017): Baden gegangen.
Das Kurwesen wirkte wie ein
Konjunkturprogramm für die deutsche Provinz. Es war für die
Patienten ein Segen und für die Heilbäder auch. Dann stürzte
Gesundheitsminister Seehofer viele Kurorte in die Krise,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 19.08.
HONNIGFORT, Bernhard (2017): 700 Jahre Heimat für ein Jahr Feuer.
Sachsen: Das Dorf Pödelwitz bei Leipzig soll
geschlossen werden, weggebaggert, damit dort Braunkohle abgebaut
werden kann. Eine kleine Gruppe Anwohner will das verhindern,
in:
Frankfurter Rundschau v. 21.08.
BÖGER, Heidrun (2017): Das
Sterben der Landgasthöfe.
Bürokratie, Nachwuchssorgen und
Fachkräftemangel sorgen für einen drastischen Schwund in der
ländlichen Gastronomie Thüringens,
in:
Neues Deutschland v. 21.08.
ND/DPA (2017): Die fremdbestimmte
Kommune.
Stadt Haltern in
Nordrhein-Westfalen bedauert Einsetzung einer Sparkommissarin,
in:
Neues Deutschland v. 30.08.
Die Agenturmeldung berichtet über
einen Konflikt zwischen Land und der rund 38.000 Einwohner zählenden
Gemeinde
Haltern am See, der nun in der Einsetzung einer Beauftragten für
den Haushalt durch die Bezirksregierung Münster geführt hat:
"Es ist nach
Nideggen (2013) und
Altena (2014) erst das dritte Mal, dass das Land einen solchen
Beauftragten eingesetzt hat."
Haltern am See ist wesentlich
größer als Nideggen oder Altena, die als die Stadt mit dem größten
Bevölkerungsrückgang in Westdeutschland galt:
"Altena, nahe Hagen gelegen, ist
eine schrumpfende Stadt. In ganz Nordrhein-Westfalen verlieren
Kommunen seit Jahren in hohem Tempo an Einwohnern, vor allem im
Osten des Bundeslandes, im Sauerland, in Lippe, Höxter, der
ländlichen Gegend rund um Siegen . Zwischen 2008 und 2030 wird die
Bevölkerung in diesen Landstrichen um zehn Prozent kleiner werden,
schätzen Fachleute . Altena aber schrumpft schneller. 1970 lebten in
der Stadt noch 32.000 Einwohner. Heute sind es 18.000. Hollstein
sagt: »Wir sind die am schnellsten schrumpfende Kommune
Westdeutschlands«.
Besonders das Ende mehrerer großer Industriebetriebe in den
Achtziger Jahren macht der Stadt immer noch zu schaffen. Damals
zogen viele junge Einwohner wegen der schlechten Arbeitsmarktchancen
weg. Heute hat die Stadt das gleiche Problem wie viele Kommunen der
Region: Sie ist zu weit weg und gleichzeitig zu nah dran an den
Ballungsgebieten rund um Köln und dem Ruhrgebiet. Zu weit weg, um
als »Speckgürtel« von der Anziehungskraft der Großstädte zu
profitieren. Zu nah, weil viele junge Leute aus den Kleinstädten in
die Metropolen ziehen. Mit der Zahl der Einwohner sinken auch die
Steuereinnahmen",
berichtete Lenz JACOBSEN
im Mai 2012 auf ZEIT online.
WEBER-KLÜVER, Katrin (2017): Ein Lehrstück aus der tiefsten Provinz.
Mecklenburg-Vorpommern: Zu DDR-Zeiten war Torgelow eine
graue Kleinstadt in Vorpommern, nach der Wende suchten vor allem viele
junge Menschen das Weite. Inzwischen gibt es erstmals Zuversicht. Wie
kann das sein?
in: Cicero,
September
"Bis heute hat
Torgelow mit dem Verlust von Tausenden Arbeitsplätzen auch ein
Drittel seiner Bevölkerung eingebüßt. Von 14.000 im Jahr 1989 ist die
Zahl auf 9.500 Einwohner gesunken, ohne Eingemeindungen wären es noch
weniger.
(...).
Der Nachwendeniedergang setzte sich fort (...) bis auch die Region
Uecker-Randow in den bundesweiten Trend einfädelte, der seit 2005
rückläufige Arbeitslosenzahlen aufweist. In Torgelow ging die Zahl
zwischen 2007 und 2016 kontinuierlich von 1.189 auf 677 Menschen
zurück.
Im Sommer 2017 liegt die Arbeitslosenquote bei gut 10 Prozent, viel im
Vergleich zum Bundesdurchschnitt, im Vergleich zu den trostlosen
Jahren fast gefühlte Vollbeschäftigung. Doch die Jahrzehnte der
Abwanderungen haben (...) zu »Verwerfungen« geführt, die die Stadt
prägen. Es sind ja nicht die gegangen, die mutlos waren, in Torgelow
gibt es nun offene Stellen, für die es an qualifizierten Kräften
fehlt, und Ausbildungsplätze, die schwer vermittelbar sind",
beschreibt Katrin WEBER-KLÜVER die
Lage in Torgelow, wobei sie die Perspektive dreier engagierter Bürger
in den Mittelpunkt ihrer Reportage stellt: den Bürgermeister Ralf
GOTTSCHALK (Bürgerbündnis), der das Amt seit der Wende geerbt hat,
einen Unternehmer und die "gute Fee", die sich Dörpkieker nennt, der
Volkssolidarität. In Torgelow und Vorpommern gelten die Polen als
Chance:
"Vorpommern (soll) wieder (...)
Teil des Speckgürtels von Stettin (werden). Die polnische Grenzstadt
ist nur gut 50 Kilometer entfernt.
Die Region wächst bereits zusammen, allein schon weil Polen, auch wenn
sie weiterhin in Stettin arbeiten, ins günstigere Vorpommern ziehen."
Neben den Polen setzt die Region
auf die Heimatverbundenen und Großstädter, die sich hier noch den
"Traum vom bezahlbaren Wochenendhäuschen" erfüllen können. Torgelow
wird zu einer Art Dorf der Gallier stilisiert, wenn es heißt:
"Patrick Dahlemann (...) ist im
September 2016 als Direktkandidat de SPD in den Schweriner Landtag
eingezogen. Um seinen, den Torgelower Wahlkreis herum hat die AfD
alles abgeräumt."
Die Niedriglohnstrategie der 1990er
wird als Fehlentscheidung beschreiben, denn
"Lohndumping ist schlecht fürs
Selbstwertgefühl und schlecht für die Kaufkraft. (...). Nach wie vor
sind viele Jobs schlecht bezahlt, und die Kaufkraft in Torgelow gehört
mit 75 Prozent des Bundesdurchschnitts zu den niedrigsten überhaupt."
Und nicht zuletzt wird die
"Überalterung" angesprochen:
"(D)ie Indikatoren des Alterns
(sind) nicht zu übersehen: die Dichte an Apotheken, die Büros
karitativer Verbände, Sanitätsfachhandel in bester Lage.
Pflegeeinrichtungen wie Pflegeberufe sind ein florierender
Wirtschaftszweig."
SCHMITZ, Thorsten (2017): Vergiss
Utopia.
Baden-Württemberg: Wer ins Französische Viertel in
Tübingen zieht, trifft eine Entscheidung. Autos sind hier verpönt.
Man fährt Rad, geht zu Fuß, die Straße gehört den Menschen. Sieht so
die Zukunft aus? Oder parkt man einfach nur ein bisschen weiter weg?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 01.09.
"Das
Französische Viertel (...), in dem 2.500 Menschen wohnen und 400
arbeiten, sollen Autos eine Neben-, am besten aber gar keine Rolle
mehr spielen. Bis 1991 waren französische Soldaten hier stationiert,
daher der Name. Heute leben sehr gut verdienende Akademiker und
Beamte in 140-Quadratmeterwohnungen. Sie alle haben einen
gemeinsamen Feind: das Auto.
(...). Nirgendwo sonst in Deutschland bekommen die Grünen mehr
Stimmen, bei der jüngsten Landtagswahl 60 Prozent. Die CDU kam hier
gerade mal auf sechs Prozent",
berichtet Thorsten SCHMITZ über
das Viertel, das ansonsten schlecht weg kommt. Was den einen die
Nazis sind, das sind für die anderen die Ökos, wobei SCHMITZ vor
allem die Kluft zwischen dem hehren Ideal und der miesen Realität
beschreibt. Bedenkt man, dass in
Tübingen rund 87.000 Menschen
leben, dann ist das Viertel geradezu bedeutungslos!
LASCH, Hendrik (2017): Nahverkehr
im Ehrenamt.
Sachsen: Bürgerbus erhält in der
Lommatzscher Pflege Mobilität trotz demografischen Wandels,
in:
Neues Deutschland v. 01.09.
HAHN, Thomas (2017): Toll hier.
Natürlich gibt es auch schöne Dinge
in Mecklenburg-Vorpommern, zum Beispiel die weite Natur, und keine
Anwohner, die bei Festivals stören. Eine Jugend zwischen Langeweile
und Bundestagswahl,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 04.09.
Thomas HAHN beschreibt Wolgast in
Mecklenburg-Vorpommern aus der Sicht eines 17-jährigen
Lehrerinnensohns und lässt sich dessen Sicht durch einen
Sozialpädagogen und einen Drogenbeauftragten bestätigen.
"Wolgast
ist ein 12.000-Einwohner-Städtchen an der Zugbrücke zur Insel
Usedom. Es gibt hier viele hübsche Häuser und viel Ruhe.
Aber wenn in den letzten Jahren von Wolgast die Rede war, ging es
meistens um Verluste. Läden und Kneipen machten zu. Das
Finanzamt verschwand. Das Amtsgericht verschwand. Erbittert kämpften
die Bürger dafür, dass wenigstens das Krankenhaus blieb (vgl.
"Fernost", Spiegel 29.07.2017). Wolgast
wirkt wie eine Art Hotspot des demografischen Wandels. Viele Ältere
leben hier, die nach der Wende arbeitslos wurden und ihre
Enttäuschung in Beschwerden über Ausländer und die Ohnmacht des
kleinen Mannes gießen",
beschreibt HAHN das Bild, das die
Mainstreamzeitungen von Wolgast vermittelten, um dann nicht etwa die
eigene Rolle kritisch zu reflektieren, sondern die Bewohner für das
schlechte Image haftbar zu machen:
"Die Elterngeneration hat noch
sehr stark dieses Frustpotenzial. Das überträgt sich auf die nächste
Generation. Den Älteren fehlt eine Vision, und die Jungen übernehmen
das",
zitiert HAHN den Leiter eines
Jugendhauses. Für den Niedergang von Städten und Regionen sind
jedoch nicht in erster Linie die Einheimischen verantwortlich,
sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die
verstärkende Stigmatisierung durch Medienberichte, die dafür sorgen,
dass sich Abwärtsspiralen verfestigen Der Versuch von HAHN das
ramponierte Image von Wolgast etwas aufzuhübschen, ist da leider nur
gut gemeint!
NIEWEL, Gianna (2017): Die inneren Werte.
Rheinland-Pfalz: Niedrige Lebenserwartung, hohe
Arbeitslosigkeit, leere Häuser: Pirmasens gilt vielen als das
Beispiel für missglückten Strukturwandel. Ein Ortstermin,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 05.09.
|
Pirmasens,
Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
MORGENSTERN, Tomas (2017): Ein
Musterdorf erfindet sich neu.
Brandenburg: Der kleine Ort
Paretz zeigt, wie ländliche Entwicklung mit EU-Hilfe zum Erfolg
führen kann,
in:
Neues Deutschland v. 02.10.
NEUES DEUTSCHLAND-Tagesthema: Alt und jung.
In der einen Stadt sind die
Familien jung, traditionell und kinderreich. In der anderen altern
die Alten und die Jungen sind ausgewandert. Zwei Porträts über
Cloppenburg, das sein Kinderglück kaum fassen kann, und Dessau,
das zum Rentnerparadies werden will
|
WEIERMANN, Sebastian (2017):
Heile Welt rund um den Pfanni-Turm.
Niedersachsen: Die niedersächsische Kleinstadt
Cloppenburg ist jung und konservativ,
in:
Neues Deutschland v. 02.10.
LASCH, Hendrik (2017): Sehnsucht
nach der Schwarmstadt.
Sachsen-Anhalt:
Dessau-Roßlau ist die "älteste
deutsche Stadt" - und damit (noch) nicht glücklich,
in:
Neues Deutschland v. 02.10.
FISCHER, Konrad (2017): Schwaben
und Chinesen kaufen.
Rheinland-Pfalz, Immobilien: Selbst in Pirmasens
kann man 2017 Geld mit Immobilien verdienen. Ein Ortsbesuch belegt den
realen Wahnsinn am deutschen Häusermarkt,
in:
Wirtschaftswoche Nr.42 v. 06.10.
|
Pirmasens,
Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
BUCH, Petra
(2017): Harte Zeiten für Kaffeehäuser.
Sachsen-Anhalt:
Lässt sich das Geschäftsmodell in
hektischer Zeit durchhalten? Ein Bericht aus Sangerhausen,
in:
Neues Deutschland v. 07.10.
MORGENSTERN, Tomas (2017): Der Erbe von Hanse und knatternden Mühlen.
Brandenburg: Landesregierung
fördert Stadterneuerung und -umbau in Kyritz mit fünf Millionen
Euro,
in:
Neues Deutschland v. 09.10.
GSCHWENDTNER, Christian (2017): Ausfall Ost.
Wenn die Briten gehen, klafft eine
Lücke von mindestens zehn Milliarden im EU-Haushalt - Geld, das
Brüssel irgendwie einsparen muss. Ein Plan sieht vor, die
Strukturhilfe für Ostdeutschland komplett zu streichen,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 09.10.
"Bisher zählen die neuen
Bundesländer noch zu den großen Profiteuren der
EU-Strukturförderung.
Wenn zwischen Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern eine Altstadt
aufgehübscht oder eine Sportanlage neue gebaut wird, ist
meistens Geld aus Brüssel mit im Spiel",
erzählt uns Christian
GSCHWENDTNER anlässlich der heutigen Veröffentlichung des
Fortschrittsbericht zur Ungleichheit in Europa. GSCHWENDTER
erklärt uns die deutsche Sprachregelung, nach der Ostdeutschland
als Übergangsregion gelten soll:
"In einer ersten
Stellungnahme zur EU-Förderpolitik nach 2020 hat die
Bundesregierung bereits Widerstand angemeldet. Sie fordert, dass
die EU auch weiter Regionen unterstützt, die vor »tief
greifenden Herausforderungen« stehen. Berlin denkt dabei an die
Integration von Flüchtlingen und die Bewältigung des
demografischen Wandels. Kategorien, die in jedem Fall auf
Ostdeutschland zutreffen."
CLAUß, Anna/EBERLE, Lukas/FRIEDMAN,
Jan (2017): Ministerium für Gefühle.
Landleben: Unionspolitiker fordern
ein Heimatressort auf Bundesebene. Als Geheimwaffe gegen die Wut
besorgter Bürger wird es aber kaum taugen,
in:
Spiegel Nr.42 v. 14.10.
CLAUß/EBERELE/FRIEDMAN beschreiben
den Siegeszug des Heimatministeriums in CDU/CSU und des Heimatbegriffs
bei den Grünen. Bayern wird uns als Beispiel für die Wirkungslosigkeit
eines solchen Ministeriums präsentiert, da dort unter dem
Heimatminister Markus SÖDER die AfD bei der Bundestagswahl die meisten
Stimmen in Westdeutschland erhielt.
"Der »demografische Turnaround« sei
Bayern nachweislich gelungen, vermeldet er stolz. »Der ländliche Raum
wächst«, lautet die frohe Botschaft des
Heimatberichts 2016.
Wer den liest, stellt fest, dass zwar immer noch mehr Bayern sterben
als geboren werden, dass aber der Wanderungssaldo in vielen
strukturschwachen Regionen positiv war. Es kamen also mehr Menschen
nach Oberfranken oder in die Oberpfalz, als sie verlassen haben. In
einigen Regionen gab es sogar Einwohnerrekorde.
Allerdings wurde die Landflucht im vergangenen Jahr weder durch Söders
Förderbescheidisierung des Freistaats gestoppt noch durch die
vielfältigen Fotowettbewerbe und Mitmach-Aktionen der
Jungbauernschaft.
Die meisten der Neubayern im ländlichen Raum kommen aus dem Ausland.
Viele davon sind Asylbewerber",
halten CLAUß/EBERELE/FRIEDMAN dem
angefeindeten SÖDER, der als neuer starker Mann in Bayern gefürchtet
wird, genüsslich vor.
HAERDER, Max/MERTEN, Milena/NIEJAHR,
Elisabeth/SCHLESIGER, Christian/SCHMELZER, Thomas/TUTT,
Cordula (2017): Ländlicher Traum.
Schleswig-Holstein: Förderpolitik,
in:
Wirtschaftswoche Nr.44 v. 20.10.
Die Wirtschaftswoche hält die
Stärkung des ländlichen Raumes für falsch und setzt stattdessen auf
das neoliberale Stärken der Starken, was in der EMPIRICA-Variante
"Stärken stärken" heißt. Auch sonst kommen nur die üblichen
neoliberalen Organisationen wie das Berlin-Institut für Bevölkerung
und Entwicklung zu Wort. Mit Wendungen wie "Unter Fachleuten ist
unbestritten" soll Widerspruch der Wind aus den Segeln genommen
werden. Es ist jedoch hochgradig unseriös, wenn solche Floskeln
verwendet werden, denn meist steht dahinter nur die Ansicht eines
einzigen oder weniger Wissenschaftler.
Als Modellheimat wird uns
Leck in Schleswig-Holstein vorgestellt, das gemäß
Statistikamt Nord am 31.12.2011 7.716 Einwohner zählte. Ende 2015
waren es nur noch 7.601. Dass Leck eine wachsende Gemeinde wäre, lässt
sich also aus diesen Daten nicht ablesen, weshalb HAERDER u.a.
lediglich den größten Arbeitgeber am Ort, die Druckerei Clausen &
Busse hervorheben:
"In Leck jedenfalls ist
Heimatverbundenheit nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein
Wirtschaftsfaktor. Hier zieht kaum jemand weg, anders als in den
meisten einwohnerarmen Gegenden der Republik. Das, glaubt
Druckereichef Pecher, liege am nahen Strand und am weiten Himmel. Aber
eben auch an den vergleichsweise sicheren und gut bezahlten
Arbeitsplätzen im Ort - und ein wenig sogar an der neuen
Landesregierung aus CDU, FDP und Grünen",
meinen die Autoren, die von der
lokalen Verbindung von Politik, Firmen und Belegschaften schwärmen. Ob
das mehr als nur Politikmarketing ist, das werden uns die
Bevölkerungszahlen von Leck in den nächsten Jahren zeigen müssen. Und
selbst wenn Leck wächst, eine "Leuchtturmgemeinde" macht noch lange
keinen erfolgreichen Politikwandel aus.
MATZIG, Gerhard (2017): Land in Sicht.
Der weltweiten Urbanisierung zum
Trotz: Erlebt das Arbeiten und Leben im ländlichen Raum ein Comeback?
in:
Süddeutsche Zeitung v. 21.10.
Den strammen Urbanist Gerhard
MATZIG interessiert die Landflucht im Grunde nur so weit wie die
Urbanisierung das Wohlbefinden des kosmopolitischen
Mittelschichtstädters stört (und wenn es nur durch den Wahlerfolg
der AfD ist). Es ist noch nicht lange her, da jammerte das
Mainstream-Feuilleton über die ausbleibende Re-Urbanisierung. Die
Großstädte schienen durch drei As bedroht: Arme, Alte und Ausländer.
Es war die Zeit als die ehemaligen Studenten ins
Familiengründungsalter kamen und die Vereinbarkeit von Beruf und
Familie im städtischen Erlebnisraum gesucht wurde. Nun zeitigt die
Gentrifizierung in den Großstädten ungewollte Folgen und frisst ihre
Kinder, weshalb es Zeit ist, die rhetorische Kehrtwende im
Mainstreamfeuilleton zu vollziehen, denn:
"Immer mehr Experten,
Architekten, Soziologen oder auch Regionalraumplaner sind (...)
der Meinung, man habe die »Renaissance der Stadt« nun gebührend
lang gefeiert. Jetzt sei endlich mal die Wiedergeburt des Landes
angesagt."
Das Wort von der "neuen
Wohnungsnot", das bereits in den 1970er Jahren kursierte, macht nun
- seitdem selbst die akademische Mittelschicht nicht mehr so leicht
geeigneten Wohnraum findet - wieder die Runde.
MATZIG präsentiert uns typische
Ansätze von weltfremden Akademikern, mit denen die Landflucht
gestoppt werden soll. Da ist Blaibach im Bayerischen Wald, das sich
einen Konzertsaal als "Tourismusmagnet" gegönnt hat. Leuchttürme auf
dem Land könnte man diesen absurden Rettungsversuch nennen. Motto:
Jedem Dorf seine Elbphilharmonie.
"Auch der Schweizer Mark
Michaeli, der in München als Professor die »nachhaltige
Entwicklung von Stadt und Stadt« lehrt, glaubt an ein mögliches
Comeback des Landes. (...).
Michaeli zufolge geht es nicht um ein Zurück in ein vermeintlich
ländliches Idyll, das es eh nie gab, sondern um die künftige
»Etablierung urbaner Lebensstile im ländlichen Raum«. Oder sagen
wir doch gleich: in Blaibach. Hier leben rund 2.000 Menschen.
Noch. Oder wieder. Der Konzertsaal hat Blaibach bekannt gemacht.
»Man lebt jetzt ganz gut vom Tourismus«, sagt der Bürgermeister.
In der Typologie der Raumordnung ist Blaibach eine »Landgemeinde«.
Davon gibt es in Deutschland 3.803. Als »Stadt« gilt hierzulande
alles, was mehr als 5.000 Einwohner hat",
erklärt uns MATZIG. So ganz
überzeugt ist er jedoch nicht von diesem weltfremden Konzept, denn
er präsentiert uns das "Wunder" von Vrin:
"Vrin. Das ist ein Dorf im
hintersten Winkel Graubündens. (...). Gegen Vrin ist Blaibach eine
Metropole. Gut zweihundert Menschen leben hier. Und das ist ein
»Wunder«, wie es mal im Spiegel hieß. Denn das Dorf in
den Bergen war »schon fast ausgestorben, blutleer wie ein
Freilichtmuseum«. 40 Jahre lang sei Vrin betroffen gewesen vom
Dorfsterben. (...). Mit guter Architektur sei Vrin gerettet
worden. Bald stieg die Einwohnerzahl. Dann fiel sie wieder. Jetzt
stagniert sie."
Sich gegen die Landflucht mit
Architektur zu stemmen, hält MATZIG angesichts des gescheiterten
Versuchs für wenig erfolgsversprechend. Aber als Rettung der
Wohlfühlsphäre Großstadt hält MATZIG die Stärkung des ländlichen
Raumes sinnvoll:
"In den Städten, wo die
Arbeitsplätze sind, fehlen die Wohnungen. Und dort, wo der
Wohnraum ist, fehlt die Arbeit. Man muss jetzt beides tun:
Wohnungen in den Städten schaffen - und die Arbeit auf das Land
bringen. Alles andere führt nur immer weiter ins
Pendler-Pandämonium."
LASCH,
Hendrik (2017): Schifferstadt fürchtet Untergang.
Sachsen-Anhalt:
Zehn Jahre nach der Fusion streitet Dessau-Roßlau über den Stadtnamen,
in:
Neues Deutschland v. 21.10.
NEIßE, Wilfried (2017): Abkehr vom
Streckensterben.
Brandenburg: Das Land setzt stärker
auf die Schiene, geht aus dem Entwurf des Nahverkehrsplans hervor,
in:
Neues Deutschland v. 24.10.
HAAK, Sebastian (2017): Schein und
Sein der Landärzte.
Thüringen: Weil die Wirklichkeit anders ist
als einschlägige TV-Serien zeigen, schickt die Uni Jena Studenten auf
Besuchstour,
in:
Neues Deutschland v. 26.10.
MORGENSTERN, Tomas (2017): Der Bahn
neues Leben eingehaucht.
Brandenburg: Für zwölf Millionen
Euro haben das Land und die DB AG die Regionallinie RE 60 ertüchtigt,
in:
Neues Deutschland v. 26.10.
BLASCHKE, Sonja (2017): Frisches Blut belebt serbelnde Dörfer.
In Japan ziehen junge Menschen auf
der Suche nach einem anderen Lebensentwurf vermehrt aufs Land,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 03.11.
WERNICKE, Christian (2017): Die
Entmündigung.
Eine Stadt wird unter Kuratel
gestellt, ihr Haushalt von einer Landesbeamtin diktiert. In der
Gemeinde Herten in Nordhrein-Westfalen lässt sich mit Händen greifen,
wie das Elend in Westdeutschland gärt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 04.11.
Der Artikel reiht sich ein in jenen
Tenor, der statt Ost-West-Unterschiede, die Unterschiede zwischen
strukturschwachen und -starken Regionen in Gesamtdeutschland in den
Mittelpunkt rückt. Die über 61.000 Einwohner zählende Stadt Herten,
die "mit drei Zechen einst Europas größte Bergbaustadt" war, ist hoch
verschuldet und soll deshalb sparen.
"Die steigenden Ausgaben für die
Sozialhilfe, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz - all des
addiert sich. Der Staat verlangt, dass die Eltern knapp ein Fünftel
der Kindergartenkosten zahlen. Nur, wie soll Toplak das einer
Bevölkerung abverlangen, in der jeder neunte arbeitslos ist?",
macht sich WERNICKE die
Argumentation des parteilosen Bürgermeisters Fred TOPLAK zu eigen, der
"68 Jahre SPD-Herrschaft" in Herten beendet hat. Mit Prestigeprojekten
wie der
RevuePalast Ruhr soll die Stadt attraktiver gemacht werden.
In der Stadt Herten wurde die AfD
bei der Bundestagswahl 2017 mit 13,1 Prozent drittstärkste Kraft
hinter SPD und Union (Spitzenergebnis im
Wahlkreis 1.2: 21,7 %).
ND/DPA (2017): Mehr als 100
Kilometer Schulweg.
Sachsen-Anhalt:
Das Netz für
berufliche Bildung im Land steht in der Kritik,
in:
Neues Deutschland v. 08.11.
ND/DPA (2017):
Finanzverwaltung im Nordosten steht vor Umbruch.
Mecklenburg-Vorpommern: Zahl der
Amtsbezirke soll stark reduziert werden, mehrere Standorte
werden Außenstelle,
in:
Neues Deutschland v. 08.11.
"Als Hauptsitze für die künftig
vier Finanzämter schlägt er (Anm.: der Finanzminister von
Mecklenburg-Vorpommern) Greifswald, Waren, Rostock sowie
Schwerin vor. Güstrow, Hagenow, Neubrandenburg,
Ribnitz-Damgarten, Stralsund und Wismar sollen Außenstellen
werden. Die bisherigen Außenstellen in Pasewalk und Malchin
blieben erhalten", heißt es in der Agenturmeldung.
HUNZIKER, Christian
(2017): Zurück aufs Land.
Brandenburg: Alle reden von der Wohnungsnot in
den Großstädten. Eine Lösung könnte die Stärkung bestimmter Städte und
Gemeinden in der Provinz sein,
in:
Welt v. 15.11.
SIEMS, Dorothea
(2017): Mär vom armen Dorf.
Leidartikel: Die Politik treibt die
Angst vor den Abgehängten in den ländlichen Regionen um. Die Kanzlerin
verspricht Hilfen. Dabei gibt es gar kein wachsendes
Stadt-Land-Gefälle,
in:
Welt v. 15.11.
Dorothea SIEMS wendet sich gegen eine Politik, die soziale
Ungleichheit bekämpft. Sie fordert die Starken zu stärken. Die
Menschen sollen abwandern aus den "tristen Gebieten".
LEMBKE, Judith & Kristina PEZZEI
(2017): Raus aus der Großstadt.
Die Wohnungskrise kennt auch
Gewinner: Die Provinz will von den hohen Preisen in den Metropolen
profitieren. Die Städte im Schatten bringen sich in Stellung - und
wähnen den Zeitgeist auf ihrer Seite,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 19.11.
LEMBKE & PEZZEI berichten über
die Vorstellungen der Lobbyisten der Wohnungswirtschaft, die bereits
Ende Juni das
Handlungskonzept zur polyzentralen Standortsicherung von
Abwanderungsregionen veröffentlichten. Durch
Preissteigerungen in den Metropolen und den Erfolg der AfD ist der
Ländliche Raum in den Blickpunkt gerückt.
LEMBKE, Judith & Kristina PEZZEI
(2017): Ganz schön provinziell!
Städte und Gemeinde, die abseits
der Ballungszentren wachsen, haben in der Regel meist mehr zu bieten
als günstige Immobilienpreise und Natur. Wir haben uns im Land
umgehört,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 19.11.
Während die Lobbyisten auf
attraktive Mittelstädte ("Ankerstädte") setzen, stellen LEMBKE &
PEZZEI Kommunen vor, die sich selber als aufstrebende Gemeinden
vermarkten: das hessische
Freienseen (seit 1972 Stadtteil der Gemeinde Laubach), das
ostwestfälische
Hiddenhausen,
Suhl
in Thüringen,
Altena im Ruhrgebiet, das
Schweinfurter Land in Bayern und
Spessart in der Vordereifel.
Suhl gehört zwar seit der Wende
zu den stark schrumpfenden ostdeutschen Städten, hat aber offenbar
eine starke Lobby, die darauf drängt die
rund 35.000 Einwohner zählende Stadt als Oberzentrum aufzuwerten.
BECKER, Kim Björn & Kristiana
LUDWIG (2017): In Behandlung.
Übung macht den Meister - das gilt
auch für Ärzte. Gesundheitsexperten fordern, das sich einige deutsche
Klinken auf bestimmte Eingriffe spezialisieren und andere dafür
schließen. Doch für die Krankenhausplanung sind die Bundesländer und
Kommunen zuständig. Und die haben eigene Interessen. Ein Besuch in
zwei Kliniken,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 21.11.
BECKER & LUDWIG beschreiben die
Politik als Störfaktor bei betriebswirtschaftlicher (Beispiele
Tauberbischofsheim/Bad Mergentheim und
Leipzig) Effizienz. Obwohl
die Bevölkerung wächst und altert, soll die Anzahl der Krankenhäuser
wegen des Spardiktats reduziert werden:
"Überall im Land kämpfen
Krankenhäuser ums Überleben, ihre Zahl ist seit den Neunzigerjahren
schon um gut ein Fünftel gesunken, von 2411 auf 1951. Und sie wird
wohl noch weiter sinken, denn eine Studie attestierte weiteren 20
Prozent der Häuser, dass sie auf wirtschaftlich wackeligen Beinen
stehen. Das neoliberale Lobbyinstitut RWI erstellte die Liste von
Krankenhäusern mit erhöhter Insolvenzgefahr. Eine PR der
neoliberalen Privatstiftung Bertelsmann sieht in der Spezialisierung
das Allheilmittel. Es wird mit geringen Durchschnittswerten zu
Anfahrtswegen argumentiert - was wenig aussagt, denn der
Durchschnitt zweier Kliniken mit 5 Minuten und 55 Minuten beträgt
lediglich 30 Minuten. In Notfällen entscheidet das über Leben und
Tod.
RIETZSCHEL, Antonie (2017):
"Verraten und verkauft".
Sachsen: Für viele Beschäftigte in
Görlitz
war Siemens nicht nur ein Arbeitgeber, sondern eine Familie. Doch über
die geplante Schließung wurden sie nur per Mail informiert. Besuch in
einer Stadt, die um ihre Zukunft bangt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 22.11.
WOLFF, Bettina (2017):
Dann trägt Siemens Görlitz zu Grabe.
Sachsen: Das Görlitzer Turbinenwerk soll
nach 170 Jahren geschlossen werden. Die Belegschaft wehrt sich. Es ist
ihre letzte Chance,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 25.11.
RATHKE, Martina
(2017): Wo die Jugend so um die 50 ist.
Mecklenburg-Vorpommern: Was hat die
Kreisreform kleinen Orten wie Zudar gebracht? Die Probleme wurden eher
verschärft, sagen Experten,
in:
Neues Deutschland v. 25.11.
"Zudar
ist ein kleiner Ort mit etwa 350 Einwohnern im Süden der Insel Rügen.
Seit der Wende verlor das Dorf etwa die Hälfte seiner Bewohner. Die
Jugendlichen zog es in den Westen oder in größere Städte. Die Älteren
blieben. »Wenn unsere Generation weg ist, gibt es keine Einheimischen
mehr«, sagt Sponholz.
Vielen kleinen Orten in Mecklenburg-Vorpommern geht es wie Zudar.
Während Kommunen mit zwischen 5000 und 10 000 Einwohnern
überdurchschnittlich wachsen, sind vor allem die Gemeinden mit unter
2000 Einwohnern von Schrumpfung betroffen, sagt der Greifswalder
Wirtschaftsgeograf
Helmut Klüter. »Die Annahme aber, dass der gesamte ländliche Raum
stirbt, stimmt nicht.« Kleine Landstädte, Dörfer an wichtigen
Verkehrsadern wie der A 20 oder die Seebäder seien attraktiv für
Zuwanderer. Dort sei das Wanderungssaldo positiv",
berichtet Martina RATHKE über die
Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern. Helmut KLÜTER hat in einem
Vortrag aus dem Jahr 2015 die Bevölkerungsvorausberechnung für
Mecklenburg-Vorpommern angezweifelt. Im Artikel zitiert RATHKE seine
Kritik an der Statistik und den darauf beruhenden Geldzuweisungen an
Kommunen:
"(D)ie Häuser in Zudar sind fast
alle saniert. Die schönsten von ihnen allerdings (...) sind
Zweitwohnsitze, die nur im Sommer bewohnt werden. (...).
Diese Einwohner auf Zeit spielen aber in den Statistiken bislang keine
Rolle. »Sie werden weder bei der Berechnung der Einwohnerzahlen noch
bei den Schlüsselzuweisungen an die Gemeinden berücksichtigt«,
kritisiert Klüter. Dies sei fatal, weil die Gemeinden die
Infrastruktur vorhielten. Besonders für Vorpommern, wo zwei Drittel
der touristischen Wertschöpfung des Landes generiert werde, sei dies
problematisch. In Schweden beispielsweise würden die Sommerhausgebiete
im Norden des Landes durch die Umlagen der reicheren Städter
finanziert. Ein mögliches Modell für Mecklenburg-Vorpommern?"
Der Tourismus ist für Gemeinden wie
Zudar jedoch nur ein kurzes Saisongeschäft während der sommerlichen
Hochsaison, wenn die Badeorte Binz, Sellin oder Göhren von Urlaubern
überlaufen sind. Die rhetorische Aufwertung des ländlichen Raumes
angesichts der AfD-Erfolge dürfte kaum reichen, um kleinere Gemeinden
vor dem Niedergang zu retten.
WERNICKE, Christian
(2017): Der Hass erreicht Altena.
Andreas Hollstein, Bürgermeister
einer Kleinstadt, setzt sich für Flüchtlinge ein - und wird Opfer
einer Messerattacke,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 29.11.
Der Artikel ist größtenteils aus
der Floskelmaschine zusammengebastelt worden, während die Situation
der Stadt schöngeredet wird.
Im Jahr 2014 wurde in Altena ein Sparkommissar eingesetzt. Ist
Altena also überall, wie uns die SZ erklärt? Oder hat die
besondere Situation der Kleinstadt dazu nicht auch beigetragen?
"Im Sommer 2015 (...) hatte Altena
freiwillig hundert Menschen mehr aufgenommen als sie musste,
vorzugsweise Familie aus Syrien. Hollstein wollte seine Stadt
»verjüngen«. Die Stadt leidet seit Jahrzehnten unter dem, was
Politiker »Strukturwandel« nennen. Früher karrten Busse aus dem
Ruhrgebiet jeden Morgen Malocher aus dem Ruhrgebiet ins Sauerland.
Draht-, Metall- und Elektroindustrie schufen Wohlstand, doch die sind
längst weggezogen. Oder pleite. Altena schrumpfte von 32.000 auf
17.000 Einwohner, viele Wohnungen standen leer. Genug Platz für heute
450 Flüchtlinge",
erzählt uns Christian WERNECKE. Man
könnte hier auch von Altersrassismus sprechen. Mit ein paar
Flüchtlingen lässt sich keine Stadt "verjüngen", die 17.000 Einwohner
zählt. Aber es schürt den Hass auf die Alten. Soll also mit
Altersrassismus die Fremdenfeindlichkeit bekämpft werden? Sollten
besser die Alten aus der Stadt verjagt werden, damit sie jünger wird?
Oder ist nicht das Fehlen von Arbeitsplätzen das eigentliche Problem?
"Altena hatte sich zuletzt
berappelt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 6,9 Prozent, weitaus
niedriger also als im Ruhrgebiet. Die AfD kam bei der Bundestagswahl
auf 10,9 Prozent, weniger als sonst in NRW. Die Armut ist nicht größer
als anderswo, Bürgermeister Hollstein zählt vier Obdachlose in seiner
Stadt",
erklärt uns WERNICKE. Altena liegt
im Sauerland. Weil dort aber die Arbeitslosigkeit viel geringer ist
als im Ruhrgebiet, würde das Altena schlecht aussehen lassen, weshalb
WERNICKE einfach den Vergleichsmaßstab geändert hat.
Altena gehörte bei der
Bundestagswahl 2017 zum
Wahlkreis 150 Märkischer Kreis II. Die AfD kam dort auf einen
Zweitstimmenanteil von 11,6 Prozent.
In Nordrhein-Westfalen erhielt die AfD dagegen nur 9,4 %. In
Altena wählten also - entgegen dem Artikel von WERNICKE - mehr
Menschen die AfD als in Nordrhein-Westfalen.
BEDERKE, Jeanette (2017): "Zieh nach Frankfurt"-Kampagne will
Studenten anlocken.
Brandenburg: Etwa jeder zweite der
6.600 Studenten an der Europa-Universität Viadrina pendelt täglich von
Berlin nach Frankfurt (Oder),
in:
Neues Deutschland v. 30.11.
MÄDLER, Katrin
(2017): Mit Jugend und frischem Wind.
Sachsen: Junge Menschen wollen in Adorf
gegen die Bevölkerungsprognose kämpfen,
in:
Neues Deutschland v. 04.12.
SCHÖNBACH, Miriam
(2017): Schöne Bescherung für "Görliwood".
Sachsen: Nachfrage nach dem Drehort in der
internationalen Filmbranche ist hoch,
in:
Neues Deutschland v. 05.12.
HONNIGFORT, Bernhard
(2017):
Schöne Kulisse, hässliche Aussichten.
Sachsen: Siemens will in
Görlitz sein
Turbinenwerk schließen. Für die wirtschaftsschwache Grenzregion zu
Polen ist das eine Tragödie,
in:
Frankfurter Rundschau v. 09.12.
JAEGER, Mona
(2017): Unter Gurken.
Brandenburg: Der Spreewald ist stolz auf
seine Produkte. Doch die Gemüsebauern haben es nicht leicht. Zudem
wollte Potsdam das Land noch umkrempeln. Was bleibt da von Heimat
übrig?
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.12.
LEMBKE,
Judith (2017): Gesundschrumpfen nicht möglich.
Sinkt in einem Ort die Bevölkerung,
steigen oft die Ausgaben,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11.12.
Judith LEMBKE berichtet über eine
unveröffentlichte KfW-Studie, deren Gehalt aus dem Artikel nicht
deutlich wird. Wir warten deshalb lieber auf die Veröffentlichung
der Studie
Kosten kommunaler Leistungserstellung unter dem Einfluss von
demografischem Wandel und Urbanisierung von Xenia
FREI/Joachim RAGNITZ und Felix RÖSEL. Zur Methodik heißt es dort:
"Wir verwenden einen neuartigen
Datensatz aller westdeutschen Städte und Gemeinden mit mehr als 20
000 Einwohnern (rund 60 % der westdeutschen Gesamtbevölkerung im
Jahr 2012). Wir nutzen fiskalische, demografische und weitere
sozioökonomische Daten in 5- bis 10-Jahresschritten im Zeitraum
von 1950 bis 2012. Zusätzlich gehen ostdeutsche Städte für die
Jahre 1993, 2002 und 2012 in die Untersuchung ein.
Die gefundenen Ergebnisse projizieren wir mithilfe einer aktuellen
Bevölkerungsprognose für die Jahre 2012 bis 2030" (2018, S.I)
Wie es möglich ist, dass eine
simple lineare Fortschreibung der Vergangenheit, Auskunft über die
Zukunft geben kann, das verschweigen uns die Autoren. Vielmehr
ersetzen Annahmen die Empirie, um Lücken in den Daten zu
kompensieren. Inwiefern dies zu Verzerrungen führt, bleibt außer
Acht.
Im Kapitel 2.2. (vgl. S.6f.)
zeigt sich das ganze Ausmaß des Nichtwissens über die Auswirkungen
des demografischen Wandels.
Der
Politikwissenschaftler Christian RADEMACHER spricht deshalb zu Recht
von Demographismus als Ideologie. Oder wie es die Autoren
zusammenfassen:
"Der Zusammenhang von Alterung
und kommunalen Ausgaben bleibt (...) a priori unklar." (2018, S.7)
Wie das KfW-Gutachten des
neoliberalen Ifo-Instituts dieses Defizit beseitigen soll, das wird
nicht deutlich. Das hält die Autoren jedoch nicht davon ab,
vollmundige Versprechungen zu machen:
"Insgesamt sind theoretisch
zahlreiche gegensätzliche Zusammenhänge zwischen den einzelnen
Facetten der demografischen Veränderung und kommunalen Ausgaben
denkbar. Allerdings befassen sich nur wenige empirische
Mikrodatenstudien explizit mit diesen Zusammenhängen. Diese
Studien betrachten zumeist einen eher kurzfristigen Zeitraum,
greifen nur einzelne Aspekte des demografischen Wandels heraus,
oder analysieren allein die aggregierten Gesamtausgaben oder den
Schuldenstand auf kommunaler Ebene. Mit der vorliegenden Studie
wollen wir diese Lücken schließen. Wir betrachten alle größeren
Städte und Gemeinden Deutschlands in einem Zeitraum von mehr als
60 Jahren und analysieren jeweils die Effekte der beschriebenen
vier Aspekte des demografischen Wandels auf die kommunalen
Gesamtausgaben sowie die Ausgaben in einzelnen Funktionen und den
kommunalen Schuldenstand. Wir ergänzen die retrospektive
Betrachtung um eine Projektionsrechnung auf Basis einer aktuellen
Bevölkerungsvorausberechnung." (2018, S.10)
Das ist ein ziemlich großmäuliges
Versprechen angesichts der spärlichen Datenlage, mit der gearbeitet
wird. Die Autoren verwenden nämlich Daten, die gar nicht zum Zwecke
der Untersuchungsfrage erhoben wurden. Es handelt sich lediglich um
eine sekundärstatistische Auswertung. Welche Probleme die Datenlage
bereitet, das ist im Kapital 3 (S.11f.) nachzulesen. So sind für
viele Städte und Gemeinden überhaupt keine Zahlen zum demografischen
Wandel vorhanden, was die Repräsentativität des Gutachtens
empfindlich einschränkt. Die Betrachtung eines langen Zeitraums ist
für sich noch kein Qualitätskriterium, wenn die Datenlage derart
kläglich ist wie im vorliegendem Fall.
Der demografische Wandel wird
lediglich anhand weniger Kennziffern erfasst (vgl. Tabelle 1, S.18):
Bevölkerungswachstum bzw. -schrumpfung, rohe Geburtenziffer, Anteil
weiblicher und ausländischer Bevölkerung. Die Bevölkerung wird in
drei Altersgruppen untergliedert: 0-18 Jahre 18-45 Jahre und
65-Jahre und Ältere.
Außerdem kommt die Demografie
noch als "kommunaler Output" in den Blick, wobei lediglich die
Bevölkerungszahl und die Geburten interessieren.
Bei der Projektion wird auf Daten
der neoliberalen Privatstiftung Bertelsmann zurückgegriffen:
"Die aus der Retrospektive
abgeleiteten Zusammenhänge verwenden wir für eine
Projektionsrechnung für die Jahre 2020, 2025 und 2030. Hierfür
benötigten wir Daten zur Bevölkerungsentwicklung nach Geschlecht
und Altersgruppen auf Ebene der größten westdeutschen Städte.
Diese Daten werden von der BERTELSMANN STIFTUNG (2016) im Rahmen
einer Sonderauswertung für die Jahre 2012 (tatsächlicher
Bevölkerungsstand) sowie 2020, 2025 und 2030 bereitgestellt."
(2018, S.13)
In der Vergangenheit haben sich
die Prognosen des Kommunalen Wegweisers als wenig aussagekräftig
erwiesen. Dies gilt für die Zukunft in noch stärkerem Maße, da sich
die Bevölkerungsentwicklung seit 2012 massiv verändert hat.
Fazit: Das gerade einmal
60seitige Gutachten kommt mit vollmundigen Versprechungen daher, die
in keiner Weise eingelöst werden. Vielmehr ersetzen vielfach reine
Annahmen die Empirie. Bei der Datenlage gibt es gravierende Mängel,
die an der Repräsentativität zweifeln lassen. In Sachen Demografie
und Auswirkungen auf die Kommunen besteht hoher empirischer
Forschungsbedarf.
VOLLMUTH, Hannes
(2017):
Alles muss raus.
Bayern: Seit es in der Stadt eine Shoping-Mall
gibt, stirbt das Zentrum. Eine Geschichte aus Schweinfurt, die so und
anders an vielen Orten in Deutschland spielt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 16.12.
KOOLHAAS, Rem (2017): Die Provinz ist die Zukunft.
Mehr als die Hälfte der Menschen
leben in Städten. Deshalb glauben viele, dass dort unser Leben
bestimmt wird. Doch was derzeit auf dem Land geschieht, könnte die
Gesellschaften weitaus nachhaltiger verändern,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 16.12.
Der Stararchitekt Rem KOOLHAAS, ein typischer Stadtplaner, entdeckt
nun das Dorf. Das Dorf, das er kennt, ist bevölkert von wohlhabenden
Städtern wie ihm, die als Ferienhausbesitzer die attraktiven
Landgegenden prägen, z.B. im Schweizer Engadin:
"Viele (...) Häuser in dem Dorf
sind von Städtern übernommen worden, die sich gemütlich eingerichtet
haben, assistiert von Helfern, die in Malaysia, Thailand oder auf den
Philippinen angeworben wurden. Viele dieser Häuser, die das Dorf haben
wachsen und wachsen lassen, stehen die meiste Zeit leer. Nur zu den
Ferienzeiten scheint der Ort zu explodieren."
Man darf bezweifeln, dass
Stadtarchitekten wie KOOLHAAS geeignet sind, um die abgehängten
Regionen zu retten.
HAVENSTEIN, Bernd (2017): Von Puppen und Toilettenbecken.
Sachsen: Seit über 300 Jahren gibt es den
Spielwarenladen Loebner im sächsischen Torgau. In der DDR hat die
Familie clever gewirtschaftet, heute boomt der Onlinehandel. Ein
Besuch,
in:
Neues Deutschland
v. 16.12.
GERLACH, Thomas
(2017): Görlitz flackert.
Reportage: Weihnachten naht, und
die Stadt strahlt. Wäre da nicht dieses unglaubliche Verdikt aus
München: Siemens will sein Werk tief im Osten schließen,
in:
TAZ v. 21.12.
KUNTZ, Michael (2017): Pensionopolis.
Sachsen:
Görlitz
ist mehr als nur Siemens - schon seit langem ist die östlichste
Stadt Deutschlands mit niedrigen Mieten und ihren 4000 Baudenkmälern
ein attraktiver Ort, um den Ruhestand zu verleben. Rentner sind hier
willkommen. Das gilt umso mehr, wenn jetzt Arbeitsplätze wegfallen,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
23.12.
LASCH, Hendrik
(2017): Auf dem Land und trotzdem auf Draht.
Sachsen-Anhalt:
In der Altmark
nehmen die Kommunen den Ausbau des schnellen Internets selbst in die
Hand,
in:
Neues Deutschland
v. 29.12.
LASCH, Hendrik
(2017):
Den Anschluss voll verpasst.
Breitband:
Sachsen-Anhalt ist
Letzter beim Vorletzten,
in:
Neues Deutschland
v. 29.12.
HANACK, Peter (2017): Aus vier mach eins.
Hessen:
Der erste Zusammenschluss seit 40
Jahren lässt im Odenwald die Stadt Oberzent entstehen,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 29.12.
|
Oberzent,
Hauptort Beerfelden,
Foto: Bernd Kittlaus 2018 |
BEBENBURG, Pitt von
(2017): Alles
zusammen machen.
Hessen:
Kooperationen funktionieren
andernorts auch ohne Fusion,
in:
Frankfurter Rundschau
v. 29.12.
Pitt von BEBENBURG berichtet über die Interkommunale Zusammenarbeit (IKZ)
als Königswegs zu effizienteren Gemeindestrukturen.
"Damit nicht jede Zusammenarbeit
neu erdacht werden muss, sammelt das »Kompetenzzentrum für
Interkommunale Zusammenarbeit« (KIKZ) Beispiele für gelungene Modelle
und berät die Kommunen. Das KIKZ war 2009 vom Land gemeinsam mit den
kommunalen Spitzenverbänden gegründet worden. Seit 2013 hat die
Landesregierung die Trägerschaft des Zentrums übernommen. Es ist seit
2015 in einer Stabsstelle bei Beuths Staatssekretär Werner Koch (CDU)
angesiedelt",
berichtet BEBENBURG. Als
Vorzeigeprojekt wird der Kreis Groß-Gerau gepriesen. Daneben gelten
Gemeindeverwaltungsverbände als geeignetes Mittel.
FRITSCHE, Andreas (2007): Komm zurück nach Elbe-Elster.
Brandenburg: Die Staatskanzlei
unterstützt im kommen Jahr vier Rückkehrerinitiativen,
in:
Neues Deutschland
v. 30.12.
MORGENSTERN, Tomas
(2017):
Das Land lässt sich die Städte etwas kosten.
Brandenburg: Die meisten märkischen Städte und
Gemeinden haben das Grau der Vergangenheit überwunden, viel Geld in
ihre Infrastruktur investiert. Hilfe erhalten sie dabei aus
Bund-Länder-Programmen,
in:
Neues Deutschland
v. 30.12.