2016
KAISER, Tobias (2016): Wie Japan seine Zukunft verspielt.
Die Bevölkerung des Inselstaats
altert dramatisch. Arbeitskräfte fehlen. Die weltweit drittgrößte
Volkswirtschaft schafft es nicht mal, ausreichend Butter in die
Kühlregale zu bringen,
in:
Welt v. 04.01.
"Japan hat bereits heute die am
schnellsten alternde Bevölkerung der Welt, sie schrumpft jedes
Jahr um ein Prozent. Ab 2020 wird das Land jedes Jahr rund 700.000
Einwohner verlieren, das entspricht der Einwohnerzahl von
Frankfurt am Main. Und die verbleibende Bevölkerung wird immer
älter: Bereits heute sind mehr als zehn Millionen Japaner älter
als 80 Jahre und ein Viertel der Bewohner des Landes sind bereits
älter als 65 Jahre. Derweil fällt die Geburtenrate seit drei
Jahren von Rekordtief zu Rekordtief.
Dieser demografische Wandel ist nicht nur problematisch für das
Sozialsystem, die Fürsorge und die Gesellschaft, sondern vor allem
die japanische Wirtschaft, die von dieser Entwicklung bereits
heute betroffen ist: Die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter
sinkt noch schneller als die Bevölkerung",
schreibt Tobias KAISER über
Japan, dem noch Anfang der Jahrtausendwende aufgrund seiner
religiösen Tradition eine bessere Bewältigung des demografischen
Wandels als Deutschland prophezeit wurde.
Wie bei Journalisten üblich,
verwechselt KAISER die absoluten Geburtenzahlen bzw. rohe
Geburtenziffern mit der Geburtenrate (TFR). Gemäß
Japan Times ist die Geburtenrate im Jahr 2014 von 1,43 auf
1,42 gefallen. In
Japan Today ist nachzulesen, dass die Geburtenrate davor bei
1,41 lag. KAISER kann also allenfalls die rohe Geburtenziffer oder
die absoluten Geburtenzahlen gemeint haben.
POMREHN, Wolfgang (2016): Japan schrumpft.
Und Deutschland auch. Langfristig.
Trotz Einwanderung,
in:
Telepolis v. 28.02.
Kein deutscher Blick auf Japans
Bevölkerungsentwicklung ist unvoreingenommen, sondern es wird immer
zugleich auf Deutschlands
Bevölkerungsentwicklung abgezielt. Statt die Unterschiede
herauszuheben, werden diese negiert. Bevölkerungsschrumpfung wird
gerne mit Wirtschaftsproblemen gleichgesetzt. Dabei wird übersehen,
dass Bevölkerungswachstum ebenfalls mit Problemen einhergeht, die
merkwürdigerweise aber unbenannt bleiben. Der Babyboom in Deutschland
führte zuerst zur Knappheit von Ausbildungsplätzen und dann zu hoher
Arbeitslosigkeit. Die Jugend wurde im Bildungssystem geparkt.
Postadoleszenz wurde das dann genannt. Die 68er-Bewegung hätte man
auch als youth bulge-Phänomen beschreiben können, wenn damals bereits
die Demografisierung der Gesellschaft so fortgeschritten gewesen wäre
wie heutzutage. Demografischer Wandel ist immerwährender Bestandteil
von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen. Dass dieser in Zeiten
des Babybooms ausgeblendet wird, das gälte es zu erforschen. Die
Bevölkerungswissenschaft - zumal die nationalkonservative - erforscht
ihren Gegenstandsbereich - die Bevölkerung - unter einem sehr
eingeschränkten Blickwinkel, bei dem das Ergebnis von vornherein
festzustehen hat. Seriöse Wissenschaft sieht anders aus...
SCHNABL, Gunther (2016): Japans langes Leiden unter dem billigen Geld.
Die ultralockere Geldpolitik hat
über Umverteilungseffekte einschneidende gesellschaftliche
Auswirkungen. Das zeigt sich in Japan in aller Deutlichkeit. Welche
Lehren sollte die Europäische Zentralbank daraus ziehen?
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v.
24.03.
Aus neoliberale Sicht beschreibt Gunther SCHNABL wie die Geldpolitik
in Japan die Ungleichheit verstärkt. Nicht die demographische
Alterung ("säkulare Stagnation") sei an der Wachstumsschwäche Japans
Schuld, sondern die expansive Geldpolitik:
"Japan zeigt sehr deutlich,
dass das geringe Zinsniveau nicht als Folge einer - beispielsweise
alterungsbedingten - Wachstumsschwäche zu sehen ist. Vielmehr muss
die Wachstumsschwäche als Konsequenz des billigen Geldes
verstanden werden. Die säkulare Stagnation ist selbstgemacht."
Und natürlich gelten den
Marktradikalen soziale Sicherungssysteme, die nicht auf privater
Altersvorsorge basieren als "nicht nachthaltig".
Dass diese nachhaltige, private Altersvorsorge der Nullzinspolitik
zum Opfer fällt, wird sozusagen als nicht-erwähnenswerte Nebenfolge
verbucht. Nonchalant wird die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse
in Japan nicht Rationalisierungsprozessen zugeschrieben, sondern
ebenfalls der Geldpolitik. Und selbst die niedrigen Geburtenraten
sollen durch die Geldpolitik verstärkt worden sein:
"Der wohlstandsbedingte
Rückgang der Geburtenraten wird durch die geldpolitisch
verlängerte Krise verstärkt. Die Zahl der Geburten pro Frau liegt
heute auf dem Niveau des kinderarmen Deutschlands."
ENZ, Werner
(2016): Japan dreht sich im Kreis.
Innovative Unternehmen wie Toyota
erbringen Spitzenleistungen, was hoffen lässt. Die Einführung von
Negativzinsen durch die Bank of Japan und der lahmende Reformkurs
unter Ministerpräsident Abe verunsichern,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 09.04.
ECKERT, Daniel (2016): Kranker Mann in Fernost steht auf.
Alt und verschuldet: Japan gilt als
Problemfall der Weltwirtschaft. Doch der Yen zeigt Muskeln,
in:
Welt v. 23.04.
"Japan
leidet unter ähnlichen Problemen wie die Euro-Zone und erlaubt daher
einen Blick in unsere eigene Zukunft",
rechtfertigt Daniel ECKERT dieses
selektive Japanbild. ECKERT schildert die Ansichten zweier Experten:
zum einen Guido LINGNAU, dessen 2014 erschienenes Buch Auch die
sicheren Häfen sind in Gefahr im Untertitel verspricht:
Schützen Sie Ihr Vermögen vor der demographischen Katastrophe.
LINGNAU gehört also zu den Apokalyptikern, dessen Einschätzung sich
allein aus der pessimistischen Sicht auf den demografischen Wandel
ergibt. Als zweiter Experte wird der Ökonom Ralph SOLVEEN von der
Commerzbank genannt, von dem eine positive Einschätzung zitiert wird:
"Eine alternde Gesellschaft kann
weiter produktiv und wettbewerbsfähig sein. Seit 1995 ist die
Bevölkerung im Erwerbsalter von 15 bis 64 Jahren um 9,6 Millionen
Menschen geschrumpft. Und es geht so weiter. »In den nächsten 20
Jahren wird diese Altersgruppe fortgesetzt um etwa ein
Dreiviertelprozent im Jahr abnehmen«, sagt Solveen.
Gleichwohl habe die reale, also die inflations- und
deflationsbereinigte Wirtschaftskraft pro Einwohner im erwerbsfähigen
Alter von 2000 bis 2015 um 25 Prozent zugelegt, mehr als in den USA.
»Japan ist gar nicht so krank«, sagt der Ökonom."
Wie schnell als "kranke Männer"
(warum nicht kranke Frauen?) bezeichnete Volkswirtschaften gesunden
können, zeigt der Fall Deutschland. Die Diagnose "krank" oder "gesund"
ist jedoch immer auch eine Frage der ökonomischen Ideologien.
NEIDHART, Christoph (2016):
Ein Land sieht alt aus.
Japan vergreist, und die Regierung
hat kein Rezept gegen die demografische Krise. Stattdessen geht man
recht kaltblütig mit Rentnern um: Sie werden aufs Land abgeschoben
oder müssen sich nützlich machen,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 23.04.
"In den nächsten 50
Jahren wird die Bevölkerung (...) jährlich um knapp 200.000
Menschen schrumpfen, wenn man den Vorhersagen glaubt",
schrieb Cornelia TUTT
im Jahr 2007 - nicht über Japan, sondern über Deutschland.
Christoph NEIDHART schildert die Entwicklung in Japan
folgendermaßen:
"Bereits heute sind mehr
als ein Viertel der Japaner älter als 65 - acht Prozent älter
als 80. Und mehr als 60.000 Menschen jenseits der 100. In 20
Jahren werden 40 Prozent aller Japaner Rentner sein, so die
Statistiker der Regierung. Zugleich nimmt die
Gesamtbevölkerung jährlich um mehr als 200.000 Einwohner ab.
Japan verliert also jedes Jahr fast so viele Einwohner, wie
die Stadt Augsburg hat."
NEIDHARDT malt ein
typisches neoliberales Horrorgemälde wie wir es z.B. aus dem
ZDF-Film 2030 - Aufstand der Alten kennen:
"In einem Altenheim in
Kawasaki hat ein junger Pfleger drei greise Patienten vom
Balkon in den Tod gestoßen. (...). Der Dreifach-Mord ist in
seiner Radikalität ein Einzelfall, aber er verrät doch, dass
Japans Altenpflege in einer Krise steckt. Das
Gesundheitsministerium hat für 2014 mehr als 300 Fälle
schwerer Misshandlungen alter Patienten im Pflegeeinrichtungen
gemeldet."
Und nun sollen Alte auch
noch "zwangsumgesiedelt" werden.
Wurde uns Deutschen noch
zur Jahrtausendwende Japan als Vorbild einer alternden
Gesellschaft vorgehalten - wir erinnern uns: Wir sollten die
Agenda 2010 als alternativlose Politik empfinden, wird uns nun
Japan als Schreckensbild präsentiert, das zur Lösung der
Probleme unfähig ist:
"Die am nächsten
liegende Lösung, junge Leute aus Südostasien ins Land zu
holen, gerade auch als Pflegepersonal kommt für Abes
Konservative nicht infrage. Sie reden eher davon, mehr Roboter
in der Pflege einzusetzen."
Noch
im Jahr 2007
hat NEIDHARDT Japan als Vorbild für den Umgang mit den Alten
gepriesen:
"Obwohl
vom Konfuzianismus nicht viel geblieben ist, begegnet man in
Ostasien Eltern, überhaupt alten Leuten mit mehr Respekt als
im Westen. Und zugleich mit mehr Milde und Nachsicht: fast wie
Kindern gegenüber. Die Alten andererseits suchen, so lange wie
möglich, Aufgaben in der Gesellschaft zu übernehmen."
Jetzt also eine 180
Grad-Kehrtwende! Hat das Japanbild, das uns von den Medien
vermittelt wird, vielleicht mehr mit Deutschland als mit Japan
zu tun?
SCHROOTEN, Mechthild (2016): Von Japan lernen.
Gastwirtschaft: So funktioniert eine
Post-Wachstumswirtschaft,
in:
Frankfurter Rundschau v. 11.05.
"Die Illusion einer hohen Rendite wird
selbst in der Post-Wachstumswirtschaft aufrechterhalten",
erklärt uns Mechthild
SCHROOTEN mit Blick auf Japans mehr als 20jährige
Niedrigzinspolitik.
MAYER-KUCKUK, Finn (2016): Roboter statt Nachwuchs.
FR-Serie Wie wollen wir wohnen? Ein
japanischer Forscher hat ein Haus gebaut, das alten Bewohnern die
Wünsche am Gehirn ablesen soll Liegt die Lösung des Pflegeproblems in
der totalen Automatisierung?
in:
Frankfurter Rundschau v. 21.05.
"Japan gehört mit Deutschland
zu den Ländern, die am schnellsten altern. Im vergangenen Jahr ist die
Bevölkerung erstmals seit einem Jahrhundert geschrumpft, wie Daten des
japanischen Innenministeriums zeigen. Heute sind 27 Prozent der
Bevölkerung über 65 Jahre alt. Bis 2060 wird die Zahl der Japaner im
arbeitsfähigen Alter um 40 Prozent sinken. Bis dahin wird jedem
produktiven, arbeitenden Mitglied der Bevölkerung ein Senior
gegenüberstehen, der Rentenzahlungen erwartet",
beschreibt uns Finn MAYER-KUCKUK das zeitgenössische Japan und seine
bedrohlichen Zukunftsaussichten, bevor auf die Technisierung der
Lebenswelt alter Japaner eingegangen wird, um dann einen Ausblick auf
die Zukunft à la Science-Fiction zu geben:
"Worauf steuert Japan mit seiner Mischung aus akzeptierter
Überalterung und radikaler Technikgläubigkeit zu?
Science-Fiction-Autoren denken den Trend in die Zukunft weiter. Der
Animationsfilm »Vexille« des bekannten Regisseurs Fumihiko Sori zeigt
ein Jahr 2077, in dem Japan sich erneut von der Außenwelt abgeschottet
hat. Alle Ausländer wurden deportiert, der Handel ist eingestellt. Die
Gesellschaft besteht aus nur noch halb menschlichen, aber durch und
durch japanischen Maschinenwesen. Die künstlichen Lebensformen bleiben
unter sich.
So wie Sori kritisieren mehr und mehr Intellektuelle die Vorstellung,
dass es schon irgendwie ohne junge Menschen geht."
WELTER, Patrick (2016): Japan verschiebt die höhere Mehrwertsteuer.
Die Regierung hat Angst vor einem
Rückfall in die Deflation und sieht deshalb von ihrem Zeitplan für die
Steuererhöhung ab. Stattdessen will der Regierungschef seine
umstrittene Abenomics beschleunigen. Kritiker warnen vor den Folgen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 03.06.
WELTER, Patrick (2016): Offenbarungseid in Japan.
Leidartikel: Wieder verschiebt Abe
die Steuererhöhung. Das ist richtig und falsch zugleich,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 03.06.
SCHOETTLI,
Urs
(2016): Malthus auf den Kopf gestellt.
Geopolitische Perspektiven: Japan
und China schrumpfen und altern gleichermassen. Sie reagieren jedoch
unterschiedlich auf die demografische Herausforderung. China aspiriert
weiter auf den Platz an der Sonne – mit Folgen,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 22.06.
LILL, Felix (2016): Abenomics bis zum Abwinken.
Wirtschaftspolitik auf Japanisch:
Wahlgeschenke und billiges Geld statt höherer Steuereinnahmen und
Jobförderung,
in:
Neues Deutschland v. 09.07.
Felix LILL
berichtet über einen Ökonomen, der eine Schuldenkrise in Japan
für das Jahr 2022 prognostiziert. Die Generation der Babyboomer
werden als Kapitalmarkt-Problem beschrieben:
"In der Rente leben viele
von ihren Ersparnissen, weshalb sie Staatsanleihen zu Geld
machen. Stoßen aber viele diese gleichzeitig ab, dürfte der
Preis fallen und dadurch die Zinsen steigen. Die
Schuldentilgung würde dann teurer."
LILL, Felix
(2016): Das Elend der Abenomics.
Ansage: "Die Inflation
vermeintlicher Experten hat das Vertrauen in die echten ruiniert. Man
fragt: Was wisst ihr von unseren Nöten",
in:
Die ZEIT Nr.30 v. 14.07.
Für Felix
LILL ist an der stagnierenden japanischen Wirtschaft der
demografische Wandel schuld:
"Nur 13 Prozent sind unter
15 Jahre alt, aber doppelt so viele Menschen sind mindestens
65. Mit steil steigender Tendenz",
erzählt uns LILL. Beides ist
jedoch lediglich Verdummung, denn weder die Jungen noch die
Alten sind entscheidend, sondern die Erwerbstätigen. Was unsere
Demografiepriesterschaft jedoch nicht stört.
"Wegen der niedrigen
Kinderzahl und der hohen Lebenserwartung werden im Jahr 2050
voraussichtlich vier von zehn Japanern 65 Jahre oder älter
sein. Die Bevölkerung schrumpft seit dem Jahr 2008, die Zahl
der Menschen im arbeitsfähigen Alter nimmt schon seit 1998
ab",
zählt LILL weiter auf, als ob
damit schon alles gesagt wäre. Man fragt sich hier höchstens:
Welche Folgen hatten Fukushima und der Tsunami für die
japanische Gesellschaft? Davon schweigt LILL, stattdessen gehen
ihm die Reformen nicht weit genug:
"Das Rentenalter wird nach
viel Zerren seit 2013 schrittweise von 60 auf 65 Jahre
angehoben. Die Erwerbsquote von Frauen, die in Japan mit 66
Prozent noch niedriger liegt als in Deutschland, soll durch
Karriereförderprogramme steigen. Junge Paare werden durch mehr
Betreuungsplätze zum Kinderkriegen ermutigt. Zudem öffnet
Japan sich sehr vorsichtig für Arbeitsmigration. Nur müsste
das Land, um mit jungen ausländischen Arbeitskräften das
Altern aufzuhalten, bis 2050 mehr als eine halbe Million
Ausländer pro Jahr aufnehmen."
LILL beschwört die
Postwachstumsgesellschaft, für die er Japan gerne als
Vorzeigeland präsentiert hätte. Aber die gegenwärtige Regierung
will davon nichts wissen.
FRITZ, Martin & Malte FISCHER (2016): Bis das Kartenhaus einstürzt.
Japan: Rentner und Sparer müssen für
die lockere Geldpolitik ihrer Notenbank zahlen. Das Land ist ein
schlechtes Vorbild für Europa,
in:
Wirtschaftswoche Nr.32 v. 05.08.
FRITZ & FISCHER prognostizieren und bewerten die Wirkungen der
japanischen Geldpolitik folgendermaßen:
"Nach den Geschäftsbanken
werden künftig auch Pensionskassen und Lebensversicherungen
Staatsanleihen an die Notenbank verkaufen. Das frische Geld
dürften sie in ausländische Anleihen und japanische Immobilien
stecken. Der Yen wird dann wohl nachgeben, die Preise für Importe
steigen.
Zieht die Inflation an, schmelzen die Ersparnisse. Vor einer
»selbstmörderischen Politik« warnt daher der Chefökonom von JP
Morgan, Masaaki Kanno."
WELTER, Patrick (2016): Japans Konjunkturmotor stottert.
Ein nominales Wachstum im zweiten
Quartal und sinkende Investitionen,
in:
Neue Zürcher
Zeitung v. 17.08.
WELTER, Patrick (2016): Verunsicherte Japaner üben Konsumverzicht.
Kommentar: Abenomics ohne Glanz,
in:
Neue Zürcher
Zeitung v. 17.08.
Patrick WELTER, Redakteur der FAZ und gleichzeitig
Korrespondent der NZZ, schreibt die japanische
Wirtschaftsmisere der desolaten Renten- und Krankenversicherung zu
und fordert deshalb:
"Japan braucht Reformen, um die
Sozialwerke nachhaltig zu finanzieren."
WAGNER, Wieland
(2016): Kollektiv kaltherzig.
Japan: Nach einem Massenmord an
Behinderten debattiert das Land über seinen schwierigen Umgang mit
Randgruppen, Alten und Kranken,
in:
Spiegel Nr.34 v. 20.08.
Wieland WAGNER erzählt uns eine rührende Mutter Theresa-Geschichte.
Ausgerechnet Japan soll am Katholizismus genesen, der in Deutschland
einerseits die Hartz-Gesellschaft abgesegnet hat und anderseits auf
seinen Reichtümern sitzt und höchstens noch für Prunkbauten Geld übrig
hat. Es ist keine zwei Jahrzehnte her, da wurde uns Japan als Land
vorgestellt, dessen religiöse Wurzeln eine Garantie sein sollten, dass
dort die Alten würdevoller leben würden als im gottlosen, egoistischen
Deutschland. Nun beschreibt uns WAGNER Mörder, die ihre Verbrechen
gegen Alte quasi als neoliberalen Gnadenakt bezeichnen.
"Die konfuzianisch geprägte
Gesellschaft, die immer so stolz war auf die gegenseitige Treue
zwischen Eltern und Kindern, Bossen und Angestellten, zerbricht
zunehmend in Arme und Reich, Schwache und Starke. Und in Junge und
Alte",
knüpft WAGNER an dieses in
Deutschland verbreitete Japan-Bild an, nur um es demontieren zu
können. Das Erstaunliche an dieser Verklärung der religiösen Wurzeln
mit ihren Idealen ist ja, dass es passgenau zur deutschen Vorstellung
unserer einstigen Großfamilienidylle passt, die von der
Industriegesellschaft zerstört worden sei. Ein schönes Märchen, das
uns immer wieder von einer konservativen Soziologie als Kontrastbild
zu einer individualisierten Gesellschaft mitgeliefert wird, die im
Grunde das Ideal des Neoliberalismus ist. Nur was haben diese
unrealistischen Großerzählungen mit dem Alltag in Deutschland und
Japan zu tun?
Und vor allem: Wie kann es sein,
dass der Spiegel, der in Deutschland die Agenda 2010 gnadenlos
verherrlicht hat, nun die gleichen Reformversuche in Japan verurteilt?
Nicht die Politik wird jedoch verurteilt, sondern nur die Rhetorik,
mit der sie propagiert wird. Uns Deutschen konnten die Neoliberalen ja
noch vormachen, dass es ums Fördern, statt ums Fordern gehe. Offenbar
glauben das inzwischen auch in Deutschland nur noch wenige. Wie viel
Verlogenheit lassen wir uns von unseren Mainstreammedien eigentlich
noch bieten?
LATSOS, Sophia & Gunther SCHNABL
(2016): Warum die lockere Geldpolitik die Geburtenraten sinken lässt.
Das Beispiel Japan zeigt: Die
ultralockere Geldpolitik verschärft die Ungleichheit zwischen den
Generationen zum Nachteil der Jüngeren,
in:
Wirtschaftswoche N.35 v. 26.08.
LATSOS & SCHNABL wollen uns mit Blick auf das Japan seit Mitte der
1980er Jahre einreden, es gäbe einen allgemeinen Generationenkonflikt.
Die Älteren würden profitieren und die Jüngeren hätten das Nachsehen.
Dabei geht es um das Vermögen, das von jeher bei den Älteren
angesiedelt ist und sich bei den älteren Reichen konzentriert, während
die meisten kaum Vermögen gebildet haben.
Belege werden uns deshalb auch von den Autoren nicht geliefert, d.h.
wir haben es hier mit Altersrassismus zu tun. Ein Klassenkonflikte
zwischen arm und reich wird in einen angeblichen Generationenkonflikt,
der im Grunde ein Altersgruppenkonflikt ist, umgedeutet und damit
Ressentiments gegen Ältere geschürt.
Ein Schaubild erklärt uns:
Geldpolitik treibt Häuserpreise und drückt Löhne in Japan. Die
Mehrzahl der Jungen sind Singles, die keine Häuser kaufen, sondern auf
den Mietwohnungsmarkt angewiesen sind. Von daher geht es nicht um die
Jungen, sondern um die obere Mittelschicht, die sich zum Opfer
stilisieren kann, weil sie als Verbündete der Oberschicht die Medien
und Wissenschaft dominiert.
NEIDHART, Christoph
(2016): Allein unter Senioren.
Japan legt viel Wert auf sein
traditionelles Handwerk, doch die Nachwuchskräfte fehlen,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 27.08.
Christoph
NEIDHART führt uns in seiner Reportage nach Ontayaki, einem Dorf
mit 14 Haushalten, auf der japanischen Insel Kyushu, um uns die
demografische Katastrophe in Japan nahe zu bringen:
"Vier Kinder (...). Damit
geht es Ontayaki besser als so vielen anderen Dörfern, wo nur
noch Betagte leben, wo alternde Schwiegertöchter greise
Schwiegereltern pflegen. Erst verschwindet der Laden, dann die
Post. Und irgendwann werden die Dörfer ganz aufgegeben."
Die Dörfer sterben aus. Diese
Botschaft verkündet in Deutschland seit Jahren das
Berlin-Institut. Japan gilt uns Deutschen als Vorbote unserer
eigenen Zukunft:
"Japan schrumpft, (...)
derzeit verliert es jedes Jahr etwa 200.000 Einwohner. 34
Millionen Japaner, mehr als ein Viertel der Bevölkerung, sind
über 65 Jahre alt, ihnen stehen nur 15,8 Millionen Kinder
unter 14 Jahren gegenüber. Die sogenannte demografische
Katastrophe lässt sich nicht mehr aufhalten (...): Die Zahl
der Frauen im gebärfähigen Alter ist zu niedrig.
Einige Länder, etwa Singapur, haben niedrigere Geburtenraten
als Japan, aber sie lassen Immigration zu. Das ist in Japan
ein Tabu. Zudem werden die Menschen nirgendwo so alt wie in
Japan."
Unser Blick gilt nicht
wirklich Japan, sondern immer nur Deutschland. Japan würde uns
niemand näher bringen, wenn wir dort nicht unser Schicksal
erblicken könnten oder zumindest Lösungswege sichtbar würden. Es
ist noch kein halbes Jahrhundert her, da galt Japan als
wirtschaftlicher Faktor, vor dem es sich zu fürchten galt. Wie
schnell sich doch die Blickrichtung ändern kann. Über Japan
haben wir jedoch auch damals schon nichts gelernt.
NEIDHART, Christoph
(2016): Angriff der "Babymach-Maschinen".
Frauen hatten es in Japans Politik
bisher schwer. Doch jetzt regiert eine Frau Tokio - eine andere
vielleicht bald das Land,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 09.09.
MAYER-KUCKUK, Finn (2016): Die Welt bleibt draußen.
Hunderttausende Japaner vermeiden
es, vor die Tür zu gehen - oft jahrelang,
in:
Frankfurter Rundschau v. 10.09.
Finn MAYER-KUCKUK berichtet anlässlich einer Studie des japanischen
Gesundheitsministeriums über das Phänomen der Hikikomori in Japan.
RÖTZER, Florian (2016): Japan: Endemische Sexlosigkeit.
Über 40 Prozent der männlichen und
weiblichen Singles im Alter zwischen 18 und 34 Jahren sind noch
jungfräulich,
in:
Telepolis v. 19.09.
NEIDHART, Christoph (2016): Keine Lust auf Sex.
Immer mehr Japaner leben ohne
Liebe. Viele stört das nicht: Beziehungen sind ohnehin zu kompliziert,
Romantik nach der Ehe ist überflüssig,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 20.09.
BLASCHKE, Sonja (2016): Von halben und ganzen
Frauen.
Kinder sind für viele
Japanerinnen das Lebensziel - manche geben dafür ihren Beruf auf,
bevor sie schwanger sind,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 20.10.
Sonja BLASCHKE verknüpft die übliche
0815-Darstellung zum Geburtenrückgang in Japan mit dem Bemühen von Kinderlosen schwanger zu werden.
"Japan gehört seit Jahren zu den
Industrienationen mit den niedrigsten Fertilitätsraten. Kinder sind
eng mit Heiraten verknüpft: Nur zwei Prozent der japanischen Kinder
werden ausserhalb der Ehe geboren. (...). 2015 wurden nur rund
635.000 Ehen geschlossen - so wenig wie noch nie in der
Nachkriegszeit. (...). 2015 waren Japaner bei der Heirat
durchschnittlich 31,1 Jahre alt. Japanerinnen 29,4. Entsprechend
steigt das Alter bei der Geburten des ersten Kindes: Waren
Japanerinnen 1970 durchschnittlich 25,6 Jahre alt, als sie erstmals
Mutter wurden, stieg der Wert bis 2015 auf 30,7 Jahre. 1975 fiel die
Geburtenziffer erstmals auf unter 2 Kinder pro Frau. Der tiefste
Stand war 2005 mit durchschnittlich 1,26 Kindern erreicht. Seither
ist die Rate auf 1,46 im vergangenen Jahr gestiegen."
Die Gründe, die uns genannt
werden, sind identisch mit jenen, die in den Nuller Jahren bezüglich
der mangelhaften Vereinbarkeit von Beruf und Familie und dem Anstieg
der Spätgebärenden genannt wurden.
"»Es wäre schön, wenn in der
Gesellschaft beides akzeptiert würde, also Mutter zu werden oder
kinderlos zu sein«. Doch sie beobachte, dass der Druck auf Frauen
auch vonseiten der Regierung gestiegen sei. Das Gebären sei eine
Angelegenheit der Politik geworden. Frauen sollen sich nicht nur
stärker in die Arbeitswelt einbringen, sondern auch noch am besten
zwei Kinder bekommen, damit die überalterte japanische Bevölkerung
nicht noch schneller schrumpft",
erzählt uns BLASCHKE. Auch das
ist keine spezifische Eigenart von Japan, sondern auch in
Deutschland standen Frauen politisch mächtig unter Druck.
2017
WELTER, Patrick (2017): Arbeitskräftemangel in Japan.
Umfrage der Notenbank bestätigt
einen gemässigten Erholungstrend,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 05.04.
"Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sank in den vergangenen
zwanzig Jahren um fast 11 Mio. auf 76,2 Mio. Ökonomen erwarten,
dass mit der jetzigen Verknappung auf mittlere Frist die Löhne
steigen werden",
erklärt uns Patrick WELTER die
Konsequenzen der Alterung der japanischen Bevölkerung.
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Politikthema:
Überbevölkerung.
Immer mehr
Menschen, immer weniger Ressourcen - Mythos oder Fakt? |
NEIDHART,
Christoph
(2017): Japan.
Unterwegs zum demografischen
Kollaps,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 07.06.
Demografieberichterstattung
hat viel mit Kriegsberichtserstattung zu tun: Die Wahrheit
stirbt zuerst und Propaganda tritt an ihre Stelle. Japan gilt
den demografiefixierten Deutschen als Warnung und Mahnmal,
weswegen die Berichte aus Japan schon seit Jahren besonders
schrill sind:
"Japan verliert jährlich
200.000 Einwohner - eine Stadt, so groß wie Mainz",
erklärt uns Christoph
NEIDHART. Wer die deutsche Debatte der Nuller Jahre verfolgt
hat, dem kommt dieser Satz wohlbekannt vor, denn er wurde auch
den Deutschen verkündet:
"In den nächsten 50 Jahren
wird die Bevölkerung in Deutschlands jährlich um knapp 200.000
Menschen schrumpfen, wenn man den Vorhersagen glaubt. Zunächst
geschieht das langsamer, dann schneller",
schrieb die
Wirtschaftsjournalistin Cordula TUTT in ihrem Pamphlet
Das große Schrumpfen aus dem Jahr 2007, dem eine
Financial Times Deutschland-Serie zum Thema vorausgegangen
war. Bekanntlich kam es anders und allerorten schreiben nun
unsere Mainstreamzeitungen von "Wachstumsschmerzen".
Vor diesem Hintergrund
sollten wir als die Berichte aus Japan eher mit Vorbehalt lesen,
erst Recht, wenn immer wieder von Katastrophe und Kollaps
gesprochen wird wie bei NEIDHART:
Mit Katsunobu Kato gibt es
zwar einen »Minister für Maßnahmen zur fallenden
Geburtenrate«, der die Geburtenrate von derzeit 1,43 Kinder
pro Frau auf 1,8 anheben soll. Wie er das machen will, bleibt
unklar. Es ist ohnehin zu spät: Die Zahl der Frauen im
gebärfähigen Alter ist so tief, dass die Bevölkerungsimplosion
nicht mehr aufgehalten werden kann. Bis zu den
Über-70-Jährigen steht die Alterspyramide auf dem Kopf. Die
hohe Lebenserwartung verschärft das. Auf zwei Frauen zwischen
25 und 29 kommen drei zwischen 65 und 69; es gibt mehr
80-Jährige als Babies. (...).
Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird Japan von heute 126
Millionen Einwohnern bis 2060 auf 87 Millionen schrumpfen. 40
Prozent aller Japaner sind dann über 65."
SCHNABL,
Gunther
(2017): Die Zukunft leidet.
Die Politik des billigen Geldes
hat in Japan den jungen Leuten geschadet. Macht die EZB so weiter,
droht das auch in Europa,
in: Die
ZEIT Nr.33 v. 10.08.
Der Neoliberale Gunther
SCHNABL, Angehöriger jener
Generation Golf, die Anfang des Jahrtausends von den Medien zur
verlorenen Generation stilisiert wurde und nun die
Meinungsmacht in den Mainstreammedien repräsentiert, spielt sich
zum Anwalt der jungen Generation auf, die nun wiederum zur
verlorenen Generation stilisiert wird. Japan wird von SCHNABL
zum Schreckgespenst des demografischen Wandels stilisiert,
obwohl Deutschland wenig mit Japan gemein hat. Weder gab es in
Deutschland einen solchen Babyboom wie in Japan, noch wird die
Alterung hier ähnlich ausfallen wie in Japan. Gemäß dem
Alterungsreport des US Census Büro gehört Japan bereits
heute und auch 2050 zu den Ländern mit dem höchsten Anteil der
über 65-Jährigen. Deutschland dagegen, wird von Rang 2 auf Rang
19 zurückfallen, weil andere Länder schneller altern, z.B.
Südkorea, Hongkong,
Taiwan oder die jungen osteuropäischen Länder.
Fazit: SCHNABL verdummt uns
mit seinem Japan-Vergleich. Und wer als seriöser Wissenschaftler
junge Japaner als "Parasitensingles" diffamiert, der sollte
eigentlich in seriösen Medien kein Gehör finden können!
LILL, Felix (2017): Häng bloß nicht zu Hause rum.
In kaum einem wohlhabenden Land
arbeiten so viele Senioren wie in Japan. Geld und Ethos spielen eine
Rolle - und die Ehefrau,
in:
Die ZEIT Nr.35 v. 24.08.
Über kaum ein Land gehen die
Meinungen derart weit auseinander wie über Japan. Den einen ist
Japan Warnung, den anderen Musterland. Und nicht selten ändert
sich die Perspektive in Konjunkturzyklen der Berichterstattung
zum demografischen Wandel. Felix LILL verkauft uns heute Japan
als neoliberales Musterland:
"Der durchschnittliche
japanische Arbeitnehmer geht mit 69 Jahren in den Ruhestand,
neun Jahre nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters. Damit
ist Japan völlig untypisch in de reichen Welt, wo sich über
die vergangenen Jahrzehnte eher das Prinzip der Frühverrentung
durchgesetzt hat. In Deutschland verabschieden sich die
Menschen im Schnitt mit 63 Jahren aus dem Berufsleben, also
rund zwei Jahre vor dem offiziellen, schrittweise steigenden
Rentenalter. In Österreich macht man sogar drei Jahre eher
Schluss. Auch in den USA arbeiten die meisten Menschen nicht
länger als für den Bezug der Rente nötig.
Man könnte Japan sogar das Musterland für »lebenslanges
Lernen« nennen - jenen Lebensstil, den all die internationalen
Institutionen von EU über Unesco bis OECD seit Jahrzehnten
predigen. Denn (...) das entlastet die Rentenkassen.
Insbesondere in Japan ist das wichtig. Mittlerweile ist dort
gut ein Viertel der Bevölkerung 65 Jahre oder älter. Bis 2050
wird der Anteil voraussichtlich bei 40 Prozent liegen. 65.000
Menschen im Land sind sogar 100 Jahre oder älter. Damit ist
Japan das Land mit der ältesten Bevölkerung weltweit. (...).
Durch die niedrige Geburtenrate und die sehr geringe
Immigration ist die Arbeitsbevölkerung seit Ende der 1990er
Jahre von ihrem Höchststand, 67 Millionen, schon um zwei
Millionen geschrumpft. Wenn sich die heutigen Trends
fortsetzen, werden es 2030 nur noch 56 Millionen sein",
schildert LILL die Situation
in Japan. Der Leser wird mit Zahlen gefüttert, die wenig
aussagekräftig sind. Dies gilt für alle Artikel in den
Mainstreamzeitungen, die zu Japan in den letzten Jahrzehnten
erschienen sind. Sie beschränken sich auf Suggestionen, die sich
aus der deutschen Debatte um den demografischen Wandel ergeben.
Über das Alterssicherungssystem in Japan wird dagegen nur
insoweit berichtet wie es dem neoliberalen Zeitgeist hierzulande
in die schönfärberische Argumentation passt.
LILL beschreibt Japan als
"Land des gesunden Alterns", das nicht zufällig identisch
ist mit den Vorstellungen unserer neoliberalen Eliten zu den
fitten "Alten":
"Getrost kann man Japan das
Land des gesunden Alterns nennen: Die Senioren von heute
helfen ihren Kindern als Babysitter, organisieren sich in
Nachbarschaftsverbänden und gewinnen
Seniorenweltmeisterschaften in der Leichathletik. (...).
Von 34 Millionen Rentnern haben 12, 6 Millionen einen Job."
Warum das
Renteneintrittsalter so niedrig liegt, das erschließt sich aus
der folgenden Passage:
"Betriebe (sind) froh, wenn
sie die teuersten mit sechzig erst mal verabschieden dürfen.
Wer dann erneut eingestellt werden will, muss deutlich
schlechtere Konditionen akzeptieren."
Solange also genügend Rentner
- ob freiwillig wie der Artikel suggeriert oder gezwungen - als
Rentner weiterarbeiten, ist eine Heraufsetzung des
Renteneintrittsalter gar nicht notwendig. Das niedrige
Renteneintrittsalter ist in dieser Sicht also durchaus
funktional!
Aber in Japan hat sich die
Arbeitskultur, die LILL beschreibt längst geändert, sodass die
verklärte Sicht von LILL zukünftig keinen Bestand mehr haben
wird. LILL beschreibt also ein Auslaufmodell als ob es eine
Vision für die Zukunft wäre.
STOCKER, Frank (2017): Wundersame Wiedergeburt.
In Japan boomt die Wirtschaft,
Investoren kehren zurück, und selbst die Deflation scheint besiegt.
Wenn da nicht die Schulden wären,
in:
Welt v. 09.09.
WELTER, Patrick (2017): Die Reichtümer des Meeres sind endlich.
Im Südwesten Japans kämpfen die
Bewohner der Insel Iki gegen Überfischung und gegen Überalterung,
in:
Neue Zürcher Zeitung v.
19.09.
"Die Jungen gehen und
kommen nicht mehr zurück, klagen alle Gesprächspartner auf der
Insel. Rund tausend Menschen verliessen die Insel im Jahr,
doch nur 700 zögen zurück oder zu, berichtet Bürgermeister
Hirokazu Shirakawa (...). In der vergangenen sechzig Jahren
hat die Bevölkerungszahl sich auf etwa 27 000 nahezu halbiert.
Die kleine Insel ist eine Art Versuchslabor, in der
wirtschaftlicher Strukturwandel und demografisch bedingtes
Schrumpfen eine verhängnisvolle Beziehung eingehen",
berichtet Patrick WELTER von
der japanischen Insel Iki und seinen Fischern, die vom Thunfisch
leb(t)en und der Tradition des Ama-Tauchens. junge Familien
sollen mit einer spezialisierten Oberschule angelockt werden
oder mit Telearbeit. Doch dass die Landflucht mit den verfolgten
Maßnahmen gestoppt werden können, sieht WELTER skeptisch:
"Wenn sie einen guten Mann
finde, werde sie hier heiraten. Ein Modellfall gegen den
Bevölkerungsschwund auf Iki aber ist die junge Japanerin nur
bedingt. Auch nach zwei Jahren hat noch keiner ihrer Freunde
aus Yokohama sie auf der Insel besucht."
COULMAS,
Florian
(2017): Versuchsstation des Weltuntergangs.
Japan wird immer älter - und geht
uns voran in eine Zukunft der Roboter und der Einsamkeit,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 22.09.
MAE, Michiko (2017): Neue Wege.
Welche Chancen bietet Japans hohe
Altersstruktur?
in:
iz3w, Nr.362, September/Oktober
NEIDHART,
Christoph (2017): Das alte Denken.
Ein Netzwerk hilft schwangeren
Japanerinnen gegen Mobbing,
in:
Süddeutsche Zeitung v.
06.10.
"In Japan nennt man die
Diskriminierung und Schikanierung Schwangerer und junger
Mütter »Matahara«. Die Soziologin Hiromi Sugiura hat den
Begriff kreiert, eine Kurzform des englischen »Maternity
Harassment« (Drangsalierung von Müttern)",
schreibt
Christoph NEIDHART über eine Phänomen, das er vor dem
Hintergrund des Wandels der Familie in Japan beschreibt:
"Obwohl sich die japanische
Regierung mehr Geburten wünscht, werden immer wieder Fälle
bekannt, in denen Unternehmen Schwangere vor die Wahl stellen:
Abtreibung oder Kündigung. Es gibt auch Firmen, die meinen,
liberaler zu sein und junge Frauen auffordern, ihre
Kinderpläne bitte im Team so zu koordinieren, dass jeweils
immer nur eine schwanger sei.
Bis heute halten viele Japaner das Modell, wonach der Vater
arbeitet, das Haus früh verlässt und spät abends nach Hause
kommt, während sich die Mutter ganz um die Kinder kümmert, für
die traditionelle japanische Familienstruktur. Viele wissen
nicht, dass ihr Land dieses Modell erst im 19. Jahrhundert aus
Preußen importiert hat. Durchgesetzt hat es sich in den
Nachkriegsjahren. Seither wird von Frauen erwartet, dass sie,
wenn sie heiraten oder spätestens, wenn sie schwanger werden,
ihre Stelle kündigen - und sich später, wenn die Kinder in die
Schule gehen, mit einem Hilfsjob begnügen. Auch Frauen mit
Hochschulbildung landen so an einer Kasse im Supermarkt. Und
wer sich nicht an solche sozialen Normen hält, riskiert in
Japan, belästigt zu werden."
"Mobbing" wird sozusagen als
Reaktion der sozialen Umwelt auf einen Verstoß gegen die soziale
Normen interpretiert. die Verfechter der moderne japanischen
Familie, so muss man das lesen, haben vor drei Jahren die
Selbsthilfeorganisation "Matahara-Net" gegründet. NEIDHART zählt
noch andere Formen der Belästigung auf:
"Schwangere würden auch von
Frauen belästigt, zum Beispiel von Kolleginnen, wenn diese
mehr arbeiten müssen, um eine werdende Mutter zu schonen. Aus
der Provinz erreichen Matahara-Net Hilferufe von Schwangeren,
die von der eigenen Familie geplagt werden, weil sie weiter
arbeiten wollen statt zum Beispiel ihre greisen
Schwiegereltern zu pflegen, was bisher die soziale Norm im
Land ist",
wird eine Betroffene zitiert,
die sich bereits vor 15 Jahren erfolgreich gegen dieses "alte
Denken" gewehrt hat. Wer sich bei dieser Berichterstattung an
deutsche Kämpfe um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie
erinnert fühlt, der liegt sicherlich nicht falsch. Bei NEIDHART
kommt zu kurz, dass der Kampf gegen die Diskriminierung von
Müttern auch bevölkerungspolitisch motiviert und unterstützt
wird. Oder wie es in einem
Bericht von Sonja BLASCHKE in der Welt vor über zwei
Jahren heißt:
"Japan schrumpft und
überaltert so schnell wie keine andere Industrienation, es
droht ein Arbeitskräftemangel. Daher wolle der Staat
sicherstellen, dass das Arbeitsumfeld mütterfreundlich sei,
sagt Ishii-Kuntz. Früher sei die Diskriminierung von Müttern
kaum ans Licht gekommen, weil diese schwiegen und einfach
ihren Job kündigten."
KÖLLING,
Martin (2017): Angst vor dem Wähler.
Vorgezogene Neuwahlen sind in
Japan eigentlich normal, besonders unter Regierungschef Shinzo Abe.
Aber dieses Mal ist alles anders. Denn eine Anti-Abe-Partei könnte
den Reformer stürzen - mit weitreichenden Folgen für die
Wirtschaftspolitik und die Finanzmärkte,
in:
Handelsblatt v. 12.10.
KÖLLING,
Martin (2017): Deutlicher Rückhalt.
Japan: Die Partei von Premier
Shinzo Abe wird bei der Parlamentswahl klar stärkste Kraft,
in:
Handelsblatt v. 23.10.
Vor 11
Tagen heulte uns Martin KÖLLING noch die Ohren voll, dass der
Premier seine Mehrheit verlieren könnte. Wie kann das sein? Offenbar
geht es KÖLLING nicht um Aufklärung über die Zustände in Japan,
sondern um neoliberale Interessenpolitik und damit um ideologische
Berichterstattung.
GNAM,
Steffen (2017): Ich ziehe mich von der Welt zurück.
Lost in Transition: Das
Hikikomori-Syndrom der japanischen Jugendlichen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 01.11.
"Was anderswo als »Hotel
Mama« verspottet wird, ist in Japan laut Sachiko Horiguchi
positiver besetzt: Das Kinderzimmer als »Mutterschoß« wird
dort auch mit Takeo Dois psychoanalytischem Konzept der
Freiheit in Gebortenheit (Amae) assoziert",
erklärt uns Steffen GNAM,
dessen Artikel ein Sammelsurium von Texten zum
Hikikomori-Komplex präsentiert. Anlass ist die Publikation des
Aufsatzes "Unhappy" and isolated youth in the midst of social
change. Representations and subjective experiences of hikikomori
in contemporary Japan von der Anthropologin Sachiko
HORIGUCHI in einem
Sammelband über Lebenslauf, Glück und Wohlbefinden in Japan.
BLASCHKE, Sonja (2017): Frisches Blut belebt serbelnde Dörfer.
In Japan ziehen junge Menschen
auf der Suche nach einem anderen Lebensentwurf vermehrt aufs Land,
in:
Neue Zürcher Zeitung v.
03.11.
Wenn ein japanischer
Landleben-Magazin-Redakteur in die japanische Einöde von
Ishidani - einem Dorf mit 11 Haushalten - zieht, dann machen
Journalisten wie Sonja BLASCHKE daraus gleich eine Bewegung. Und
wie macht man den Lieblingsbegriff der Neoliberalen
"Überalterung" anschaulich?
"Sachihiko Shigitani, ein
aufgeweckter, drahtiger 40-Jähriger mit markanter Brille, ist
der Einzige, der nicht weit über 70 Jahre alt ist. Seine Frau
Tamami Sakanakura, die in Gummistiefeln am Hang
Bambusgrasblätter erntet, ist mit 33 Jahren die jüngste
Einwohnerin des Dorfes mit elf Haushalten. (...).
Sie ist schwanger. Im Dezember wird zum ersten Mal seit 28
Jahren in Ishidani wieder ein Baby schreien."
In Deutschland fahndeten in
den Nuller Jahren Journalisten nach solchen Geschichten, um die
unaufhaltsame Schrumpfung Deutschlands herbeizuschreiben. Das
Dorf
Affler in der Eifel ist das deutsche Ishidani und
Bionade-Biedermeier-Erfinder Henning
SUSSEBACH hat es für die Medien entdeckt (vgl. "Ein Dorf geht in
Rente", Badische Zeitung 05.04.2001). Damals lebten dort
angeblich 39 Einwohner und 20 Jahre lang war kein Baby geboren
worden.
Gemäß Wikipedia lebten in
Affler bereits 1997 nur noch 32 Menschen. Ende 2015 waren es nur
noch 27 Einwohner, davon 11 Frauen. Ende 2001 waren es gemäß den
Statistischen Berichten noch 7 Männer mehr gewesen. Weiter
zurück reicht das Archiv nicht.
Sollte nun ein Journalist
meinen, dass Affler Stoff für eine weitere Sensationsstory à la
Seit 30 Jahren kein Baby mehr geboren worden bietet, der
täuscht sich.
Im Jahr 2010 wurde in Affler nämlich ein Kind geboren. Damit
ist diese Sensationsstory futsch!
"2002 beendete die Familie
Theis eine 20-Jährige Pause. Erstmals wurde damals wieder ein
Kind im Dorf geboren, zwei Jahre später folgte ein weiteres.
Heute sind Lars und Julia Theis die Hoffnungsträger. Sie
werden mit einem Kleinbus täglich in den Kindergarten der
Nachbargemeinde gebracht",
berichtete Christian GALLON
bereits
im Jahr 2008 für den SWR über Affler. Gemäß Statistik
wurde weder 2002 noch 2004 ein Kind in Affler geboren. 2003
wurde jedoch ein Kind geboren. Das andere Kind ist also
möglicherweise bereits 2001 geboren worden. So weit reicht
jedoch das Archiv nicht zurück. Als der Bericht von SUSSEBACH
über das kinderlose Dorf in den Zeitungen publiziert wurde, war
die kinderlose Ära also möglicherweise bereits vorbei. SUSSEBACH
hätte der Story also die gleiche Wendung geben können wie
BLASCHKE in der NZZ, aber damals war das unerwünscht.
Nicht seit 20 Jahren wird das erste Baby geboren, sondern eben
nur: seit 20 Jahren kein Baby mehr geboren lautete deshalb die
Botschaft.
Einen Artikel über den Kampf
gegen die Landflucht in Japan gab es bereits
im September in der NZZ.
BELZ, Nina (2017): Inselstaat auf Sinnsuche.
Nicht erst seit dem Aufstieg
Chinas leidet Japan unter einer Sinnkrise. Shinzo Abe will dem Land
zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen. Doch er lässt das
grundlegendste Problem ausser Acht,
in:
Neue Zürcher Zeitung v.
25.11.
Nina BELZ kommt uns mit den
typischen neoliberalen Horrorszenarien:
"Japans grösste
Herausforderung (...): seine demografische Situation.
Schon heute sind 27 Prozent aller Japaner über 65 Jahre alt;
in der Schweiz sind es 18 Prozent der Bevölkerung. Auch
wenn viele von ihnen inzwischen trotz Rentenalter im
Arbeitsprozess bleiben, so schlägt sich diese
Gesellschaftsstruktur – in Kombination mit der konstant tiefen
Geburtenrate und quasi inexistenter Immigration – auf die
Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft nieder. Immer mehr
Firmen suchen händeringend nach Arbeitskräften; auch für die
Armee kann mangelnder Nachwuchs zum Problem werden. Denn Japan
ist nicht nur überaltert, die Bevölkerung schrumpft zudem
rapide. Setzt sich der gegenwärtige Trend fort, wird sie von
heute rund 127 Millionen bis zum Jahr 2053 auf unter 100
Millionen fallen – für die Regierung schon heute ein
Schreckensszenario."
Ein Artikel zeigt, dass - nicht nur in Deutschland, sondern
auch in Japan der Anstieg der Geburtenrate in früheren Szenarien
zu niedrig angenommen wurde:
"Due of the estimated rise
in the birthrate, Japan’s population would slip below the
100-million threshold five years later than what was projected
in the previous estimates."
Es darf davon ausgegangen
werden, dass auch diese Bevölkerungsvorausberechnung zu
pessimistisch ist. Auch in Japan sind solche Szenarien
ideologisch begründet. Treffsicherheit gehört nicht zu den
Kriterien von Bevölkerungsvorausberechnungen.
LILL, Felix
(2017): Japans Grauzone.
Nur in einem Industrieland ist
die Bevölkerung noch älter als in Deutschland. Japans Rentner
beeinflussen zunehmend Politik, Geschäftsmodelle und die
Arbeitswelt. Hier lässt sich beobachten, was uns noch bevorsteht,
in:
Capital, Dezember
Felix LILL sieht in Japan ein
Horrorszenario, das uns Deutschen angeblich ebenfalls droht.
Dieser neoliberale Kurzschluss ist zwar weit verbreitet, aber
falsch. Während Japan auch 2050 noch die älteste Bevölkerung
weltweit aufweisen wird, gilt das für Deutschland dagegen nicht,
weil viele Länder gemäß
Berechnungen des U.S. Census Bureau Deutschland bei der
Alterung überholen werden. LILL dagegen verschweigt uns das.
Auch bei der Zuwanderung ist Japan kein Vorbild. Japans
Bevölkerung schrumpft bereits heute, während das für Deutschland
keineswegs der Fall sein muss. Natürlich wird uns wieder mit der
Rentnerdemokratie (andere sagen: Gerontokratie) gedroht. Uns
wird eine mächtige, japanische Rentnergewerkschaft vorgegaukelt,
nur weil sie angeblich 34 Millionen Rentner vertritt. Von den
Ungleichheiten innerhalb der Rentnerpopulation spricht LILL
dagegen nicht.
"Japans Rentensystem ist
größtenteils umlagefinanzeirt. Ohne eine Reform werden die
Jahrgänge ab 1985 weniger Geld aus der Pensionskasse bekommen,
als sie einzahlen",
behauptet LILL. Das sieht
Carsten GERMIS in der
FAZ vom
11.01.2014 ganz anders:
"Die gute Position
japanischer Pensionäre hat auch damit zu tun, dass
kapitalgedeckte Altersvorsorge in Japan neben dem staatlichen
Rentensystem schon lange einen hohen Stellenwert hat. Das
staatliche System bietet allein eine Grundversorgung. Dies
wirkt als Anreiz zur Privatvorsorge. Die wichtigste Rolle
spielen neben der Grundversorgung aber die Betriebe. Ihre
Versorgungssysteme, oft gekoppelt an große Pensionsfonds, sind
für viele Menschen der wichtigste Bestandteil ihrer
Altersvorsorge – und einer der Gründe dafür, warum die Bindung
zwischen Arbeitnehmer und Betrieb in Japan immer noch stark
ist."
LILL will einen
Generationenkonflikt in Japan entdeckt haben. Dieser wird bei
uns schon seit gut 20 Jahren beschworen, obwohl nichts davon der
Realität entspricht.
Während bei uns die
Neoliberalen im Weiterarbeiten im Rentenalter den Königsweg
sehen, kritisiert LILL dies in Japan, denn dort hat die niedrige
Regelaltersgrenze den Vorteil, dass das Senioritätsprinzip
ausgehebelt wird. Auch in Deutschland drängen Neoliberale auf
billige Rentnerarbeitskräfte.
Fazit: LILL stilisiert die
Jüngeren in Japan zu den Opfern, während die Alten angeblich den
Jungen die Arbeit wegnehmen und genauso viel verdienen würden.
Leider wird das nirgendwo mit Zahlen belegt, d.h. LILL spricht
in diesem Artikel zu Gleichgesinnten. Im Rückblick wird sich
zeigen, was von LILLs Vision übrig bleiben wird.
LILL, Felix (2017): Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns
Singles, edition a
Felix LILL, Jahrgang 1985 und
Verfasser einer Dissertation zu einem möglichen Generationenkonflikt
in Deutschland und Japan, sieht für die
Single-Gesellschaft eine Zukunft. Eine Sicht, die ihm in Tokio
schlüssig erscheint. Ob diese Sicht jedoch die Zukunft prägen wird,
bleibt offen. Die Gesellschaft der Langlebigen dürfte in den
nächsten Jahren eher auf eine Zunahme von Paarhaushalten und eine
Abnahme von Einpersonenhaushalten bei der kopfstarken Altersgruppe
60 Plus hinauslaufen, weil zum einen die "Kriegerwitwen" wegsterben
und zum anderen Angleichungsprozesse bei Lebenserwartung und
Altersdifferenz von Partnern ein längeres Zusammenleben im Alter
ermöglichen. Die Fixierung auf Heirats- , Scheidungsziffern- und
Haushaltszahlen verhindert einen unverzerrten Blick auf die privaten
Lebensformen.
LILL, Felix (2017): Die Zukunft gehört den
Singles.
Alleinsein ist traurig und ohne
die große Liebe bleibt das Leben leer? In Japan hat ein sozialer
Umbruch das Singleleben zur Normalität gemacht. Andere Länder, in
denen sich Ähnliches abzeichnet, können lernen,
in:
Neues Deutschland v.
09.12.
Der trennungsgeschädigte
Journalist Felix LILL hat das Buch Einsame Klasse. Die
Zukunft gehört uns Singles veröffentlicht. Aufgrund seiner
Berichterstattung über Japan handelt das Buch über das
angebliche Pionierland Japan.
"Das Nationale Institut für
Bevölkerungsforschung hat erhoben, dass unter den
unverheirateten Frauen zwischen 18 und 34 nur noch 30 Prozent
einen Partner haben, der Anteil bei den gleichaltrigen Männern
ist schon auf 21 Prozent gesunken",
erklärt uns Felix LILL. Wie
die Partnerlosigkeit ermittelt wurde, das verschweigt uns LILL.
Bekanntlich wurde auch in Deutschland lange Zeit
Unverheiratetsein oder das Alleinwirtschaften mit
Partnerlosigkeit verwechselt.
"Nach Umfragen des
Kondomherstellers Sagami nimmt der Anteil der Unverheirateten
insgesamt zu: ein Drittel der Männer in ihren Dreißigern und
ein Viertel der Frauen. Unter 30 Jahren sind es sogar fast 80
(Männer) und über 50 Prozent (Frauen). Zudem ist die
Scheidungsrate gestiegen. Alles in allem dürfte bis 2035 die
Hälfte der Menschen alleinstehend sein",
erklärt uns LILL weiter. Das
erinnert stark an die Hysterie, die Ulrich BECK & Elisabeth
BECK-GERNSHEIM 1990 mit ihrem Bestseller
Das ganz
normale Chaos der Liebe entfacht hatten. Angeblich
drohte damals die
vollmobile
Single-Gesellschaft. Und in den Büchern der 68er ging das
Trennungsvirus umher. Damals sollte jede zweite Ehe in den
Großstädten geschieden worden sein. LILL will wissen, dass
Deutschland den Japanern nacheifert. Doch die Scheidungsrate ist
seit den 1990er Jahren in Deutschland gesunken. Zuletzt meldete
das Statistische Bundesamt
im Juli:
"Der endgültige Anteil an
Scheidungen für einen Eheschließungsjahrgang kann erst nach
Ablauf einer sehr langen Zeitspanne bestimmt werden. So
beträgt im Jahr 2016 die Scheidungsrate für die im Jahr 1991
geschlossenen Ehen – also nach 25 Jahren Ehedauer – bisher
392,6 Scheidungen je 1 000 Ehen."
Das wären 39 Prozent der
Ehen, wobei die meisten dieser Ehen in den 1990er Jahren
geschieden wurden, während in den letzten Jahren die
Scheidungsrate gesunken ist.
Auch das Ende der Liebe will
LILL in Japan entdeckt haben. Das Ende der Liebe
hieß bereits 2009 ein Bestseller von Sven HILLENKAMP.
Nichts von dem, was uns LILL
über Japan berichtet, ist eine Sensation, sondern alter Wein in
neuen Schläuchen. Aber das Akademikermilieu der sozialen
Aufsteiger und deren Kinder lieben solche Geschichten aus fernen
Landen. Sie sind zum einen Projektionsflächen für die eigenen
Ängste, die von den Medien und der Politik zusätzlich geschürt
werden. Zum anderen sind sie Sinnstiftungsversuche für jene, die
nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland als Gescheiterte
angesehen werden.
"Hierzulande sind ebenso
die Scheidungsrate und das durchschnittliche Heiratsalter
gestiegen und leidenschaftlicher als über Politik oder Sport
schüttet man sich heutzutage, zumindest in meinem
Bekanntenkreis, nur über Liebe und Partnerschaft aus. Dass
(...) Dating Coaches und Paartherapeuten gutes Geld mit
banalen Tipps einnehmen können, ist ein deutliches Indiz:
Liebe ist den Menschen eines der wichtigsten Themen
überhaupt".
Und natürlich möchte LILL
auch von der Angst seiner Mitmenschen profitieren: Mit einer
Grusel- bzw. Sinnstiftungsstory aus Japan, bei der man sich am
heimischen Ofen wärmen kann. Der Zeitungstext enthält jedenfalls
keine Belege für das, was er behauptet, sondern ist die
08/15-Schreibe, die uns per Mainstreammedien tagtäglich ins Haus
gemeldet wird.
Fazit: Die Zukunft gehört den
Singles? Warum nicht? Aber dazu hätte man gerne gewusst, was das
überhaupt sein soll. Hinter den
Datenbergen über Singles lauert meist nur ein Phantom!
Der Text kann auch
hier in der Wiener Zeitung online gelesen werden.
2018
HOLTHUS, Barbara
(2018): Glück und Wohlbefinden in Japan.
Der Fall junger Eltern,
in: beziehungsweise,
Januar/Februar
v. 08.01.
BLASCHKE, Sonja
(2018): Die letzte Ruhe im Hochregal.
In Japan ändern sich angesichts der
Überalterung die Totenrituale - es fehlt an Platz, Zeit und manchen
auch an Geld,
in: Neue Zürcher
Zeitung
v. 10.01.
"Yukiko Maeda war eine von rund
1,34 Millionen Menschen, die in Japan 2017 verschieden, das sind so
viele wie nie seit Kriegsende. Seit 1983 ist in Japan die rohe
Sterbeziffer, also die Zahl der Todesfälle pro 1000 Einwohner, stetig
angestiegen, von damals 6 auf über 10 pro 1000 Personen. Seit 2005
übertrifft in der ältesten Nation der Welt die Zahl der Todesfälle
stets die der Geburten, und die Prognosen für die Zukunft sind
ähnlich",
erzählt uns Sonja BLASCHKE, die uns
den japanischen Staat als neoliberalen Kostensenkungsstaat vorstellt:
"90 Prozent der Japaner sterben im
Spital. Stirbt jemand jedoch zu Hause, fragen die Nachbarn schon
einmal, ob man den Arzt geholt habe. Das bringt die Hinterbliebenen in
Verlegenheit, zumal auch die Polizei vorbeikommt. Der japanische Staat
versucht derzeit, den Japanern das Sterben daheim nahezubringen. Es
würde das Sozialsystem entlasten."
Zum Kostensenkungsstaat gehört auch
die umfassende Vorsorge für den eigenen Todesfall, der als Selbstsorge
propagiert wird:
"In Bahnen und Bussen, Zeitungen
und Zeitschriften, selbst auf Facebook finden sich Anzeigen, die zum
Grabkauf vor dem eigenen Ableben animieren wollen. Inzwischen sorgt
über die Hälfte der Japaner vor, auch um die Kinder nicht finanziell
zu belasten."
In Deutschland nehmen Berichte über
"Armenbestattungen" zu, die dem Kostensenkungsstaat zu Last fallen
könnten. Solche Berichte zielen darauf ab, eine neue Bestattungskultur
zu installieren.
Und nicht zuletzt spielt auch die
Religion eine funktionale Rolle im Kostensenkungsstaat, weshalb neben
Bestattungsunternehmern auch japanische "Priester" zu Wort kommen.
VOLKMANN, Jana (2018):
Nah am Fluss.
Kaffeefahrt: Ohne den Drang zum
Drama erzählt die Japanerin Nanae Aoyama von den existenziellen Fragen
junger Menschen,
in: Freitag Nr.17 v. 26.04.
Jana VOLKMANN stellt den Erzählband
Bruchstücke von Nanae AOYAMA vor, deren 2006 in Japan
erschienener Debütroman erst 2015 als Eigenwetter auf Deutsch
erschien. Darin ging es um Freeter:
"Für junge Menschen, die nach der
Oberschule weder auf der Uni noch im Beruf Fuß fassen können (oder
wollen) und sich mit Teilzeitjobs durchschlagen, gibt es einen eigenen
Begriff, man nennt sie Freeter",
erklärt uns VOLKMANN dazu.
NYFFENEGGER, Manuela (2018):
Ein Rentnerpaar mit modischem Flair.
Mit seinem eigenwilligen
Partnerlook verzückt ein japanisches Ehepaar auf Instagram 730.000
Folower,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 25.05.
HEINSOHN, Gunnar
(2018): Roboter oder Zuwanderer?
Tribüne: Für die ökonomische
Zukunft ausschlaggebend, bleibt Japans sechsfache Überlegenheit bei
den sehr Guten,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 05.09.
SIEDENBIEDEL,
Christian (2018): Was die Altersvorsorge in Deutschland so schwer
macht.
Einmal im Jahr blickt ein großer
Vermögensverwalter auf die Rahmenbedingungen für den Ruhestand in
aller Welt. Deutschland fällt 2018 im Vergleich zu anderen Ländern
deutlich zurück,
in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung v. 06.09.
Christian SIEDENBIEDEL blickt mit seiner
einseitig neoliberalen Brille auf den Global Retirement Index
2018 des französischen Vermögensverwalter Natixia Investment,
der sich aus einer Vielzahl von Statistiken einen Index
zusammengebastelt hat, der den eigenen Geschäftsinteressen
dient. SIEDENBIEDEL greift sich aus den 18 Variablen, die auf 4
Dimensionen verteilt wurden, um daraus einen Gesamtindex zu
erstellen, dessen Aussagekraft zweifelhaft ist.
SIEDENBIEDEL greift sich den
Altersquotienten heraus, um die angeblichen demografischen
Probleme von Deutschland herauszustreichen:
"Mit 32,5 Prozent weist
Deutschland in dieser Kategorie zum zweiten Mail in Folge den
fünftschlechtesten Wert aller untersuchten Länder auf",
zitiert SIEDENBIEDEL
einen Befund der Studie, der aus dem Zusammenhang gerissen, das
Gegenteil dessen zeigt, was in der Studie tatsächlich als
Problem dargestellt wird. Dort werden nämlich jene Länder
aufgelistet, die zwischen 2016 und 2015 die höchste Steigerung
des Altenquotienten aufweisen. Deutschland fehlt darunter,
stattdessen steht China mit 30 % Steigerung an der Spitze,
gefolgt von Japan mit 27,3 %. Danach kommt Brasilien (24,9 %)
und die Schweiz mit 22,8 Prozent (vgl. Grafik S.11). Auch eine
Publikation der US-Statistikbehörde sieht Deutschland nicht
unter den Ländern mit dem größten Alterungsproblem.
COULMAS, Florian
(2018): Einwanderungsland Japan.
Gastkommentar: Schleichende
Immigration,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 27.09.
KÖLLING,
Martin
(2018): Tokios Innenstadt vibriert.
Japan: Die bevorstehenden
Olympischen Spielen wirken wie ein Katalysator auf die
Stadtentwicklung der japanischen Hauptstadt. Der Immobilienmarkt läuft
heiß,
in:
Handelsblatt v. 28.09.
Es ist erstaunlich, dass sich
die Klischees über die Auswirkungen von Olympischen Spielen seit
der Olympiade 1964 in Tokio unverändert halten. 1970 erschien
das Buch Der unterschätzte Gigant von Robert GUILLAIN.
Darin werden die Impulse auf die Stadtentwicklung Tokios
folgendermaßen beschrieben:
"Shinyuku, ein belebtes und
bekanntes Viertel, Treffpunkt der Jeunesse dorée und der -
weniger wohlhabenden - Intellektuellen, ist für die
Umgestaltung Tokios ein treffendes Beispiel. Bis vor wenigen
Jahren bestand es größtenteils aus einem unheimlichen Gewirr
von verfallenden Gemäuern, hier und a von einer Reihe Kneipen
aufgeheitert, in denen man einen phantastischen Sake trinken
und am Spieß gebratenes Geflügel essen konnte. Heute ist
Shinyuku ein hochmodernes Viertel, das durchaus mit Marunuchi
konkurrieren kann, dem großartigen Geschäftszentrum im Herzen
der Stadt." (1970, S.10)
COULMAS, Florian (2018):
Die Jahre, die es niemals geben wird.
Gastkommentar: Japan vor einer
Zeitenwende,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 19.10.
STOCKER, Frank (2018):
Japan kämpft gegen den Fachkräftemangel.
Nirgends ist die Alterung der
Gesellschaft so fortgeschritten wie hier, zugleich hält das Land die
Grenzen für Zuwanderer fest geschlossen. Jetzt wagt Tokio die Wende,
in:
Welt v. 22.10.
2019
JPZ/DPA/AP (2019): Japaner mit 113 Jahren gestorben.
Laut Guinness-Buch ältester Mann
der Welt: Masazo Nonaka galt als ältester Mann der Welt. Nun ist er
gestorben - er sei friedlich entschlafen, teilte seine Familie mit,
in: Spiegel
Online
v. 20.01.