[ Übersicht der Themen des Monats ] [ Rezensionen ] [ Homepage ]

 
       
   

Singles in Japan

 
       
   

Japanische Singles und gesellschaftlicher Wandel in den Medien (Teil 3: 2016 - heute)

 
       
   
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019
 
       
   

2016

KAISER, Tobias (2016): Wie Japan seine Zukunft verspielt.
Die Bevölkerung des Inselstaats altert dramatisch. Arbeitskräfte fehlen. Die weltweit drittgrößte Volkswirtschaft schafft es nicht mal, ausreichend Butter in die Kühlregale zu bringen,
in:
Welt v. 04.01.

"Japan hat bereits heute die am schnellsten alternde Bevölkerung der Welt, sie schrumpft jedes Jahr um ein Prozent. Ab 2020 wird das Land jedes Jahr rund 700.000 Einwohner verlieren, das entspricht der Einwohnerzahl von Frankfurt am Main. Und die verbleibende Bevölkerung wird immer älter: Bereits heute sind mehr als zehn Millionen Japaner älter als 80 Jahre und ein Viertel der Bewohner des Landes sind bereits älter als 65 Jahre. Derweil fällt die Geburtenrate seit drei Jahren von Rekordtief zu Rekordtief.
Dieser demografische Wandel ist nicht nur problematisch für das Sozialsystem, die Fürsorge und die Gesellschaft, sondern vor allem die japanische Wirtschaft, die von dieser Entwicklung bereits heute betroffen ist: Die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter sinkt noch schneller als die Bevölkerung",

schreibt Tobias KAISER über Japan, dem noch Anfang der Jahrtausendwende aufgrund seiner religiösen Tradition eine bessere Bewältigung des demografischen Wandels als Deutschland prophezeit wurde.

Wie bei Journalisten üblich, verwechselt KAISER die absoluten Geburtenzahlen bzw. rohe Geburtenziffern mit der Geburtenrate (TFR). Gemäß Japan Times ist die Geburtenrate im Jahr 2014 von 1,43 auf 1,42 gefallen. In Japan Today ist nachzulesen, dass die Geburtenrate davor bei 1,41 lag. KAISER kann also allenfalls die rohe Geburtenziffer oder die absoluten Geburtenzahlen gemeint haben.

POMREHN, Wolfgang (2016): Japan schrumpft.
Und Deutschland auch. Langfristig. Trotz Einwanderung,
in:
Telepolis v. 28.02.

Kein deutscher Blick auf Japans Bevölkerungsentwicklung ist unvoreingenommen, sondern es wird immer zugleich auf Deutschlands Bevölkerungsentwicklung abgezielt. Statt die Unterschiede herauszuheben, werden diese negiert. Bevölkerungsschrumpfung wird gerne mit Wirtschaftsproblemen gleichgesetzt. Dabei wird übersehen, dass Bevölkerungswachstum ebenfalls mit Problemen einhergeht, die merkwürdigerweise aber unbenannt bleiben. Der Babyboom in Deutschland führte zuerst zur Knappheit von Ausbildungsplätzen und dann zu hoher Arbeitslosigkeit. Die Jugend wurde im Bildungssystem geparkt. Postadoleszenz wurde das dann genannt. Die 68er-Bewegung hätte man auch als youth bulge-Phänomen beschreiben können, wenn damals bereits die Demografisierung der Gesellschaft so fortgeschritten gewesen wäre wie heutzutage. Demografischer Wandel ist immerwährender Bestandteil von gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen. Dass dieser in Zeiten des Babybooms ausgeblendet wird, das gälte es zu erforschen. Die Bevölkerungswissenschaft - zumal die nationalkonservative - erforscht ihren Gegenstandsbereich - die Bevölkerung - unter einem sehr eingeschränkten Blickwinkel, bei dem das Ergebnis von vornherein festzustehen hat. Seriöse Wissenschaft sieht anders aus... 

SCHNABL, Gunther (2016): Japans langes Leiden unter dem billigen Geld.
Die ultralockere Geldpolitik hat über Umverteilungseffekte einschneidende gesellschaftliche Auswirkungen. Das zeigt sich in Japan in aller Deutlichkeit. Welche Lehren sollte die Europäische Zentralbank daraus ziehen?
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 24.03.

Aus neoliberale Sicht beschreibt Gunther SCHNABL wie die Geldpolitik in Japan die Ungleichheit verstärkt. Nicht die demographische Alterung ("säkulare Stagnation") sei an der Wachstumsschwäche Japans Schuld, sondern die expansive Geldpolitik:

"Japan zeigt sehr deutlich, dass das geringe Zinsniveau nicht als Folge einer - beispielsweise alterungsbedingten - Wachstumsschwäche zu sehen ist. Vielmehr muss die Wachstumsschwäche als Konsequenz des billigen Geldes verstanden werden. Die säkulare Stagnation ist selbstgemacht."

Und natürlich gelten den Marktradikalen soziale Sicherungssysteme, die nicht auf privater Altersvorsorge basieren als "nicht nachthaltig". Dass diese nachhaltige, private Altersvorsorge der Nullzinspolitik zum Opfer fällt, wird sozusagen als nicht-erwähnenswerte Nebenfolge verbucht. Nonchalant wird die Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse in Japan nicht Rationalisierungsprozessen zugeschrieben, sondern ebenfalls der Geldpolitik. Und selbst die niedrigen Geburtenraten sollen durch die Geldpolitik verstärkt worden sein:

"Der wohlstandsbedingte Rückgang der Geburtenraten wird durch die geldpolitisch verlängerte Krise verstärkt. Die Zahl der Geburten pro Frau liegt heute auf dem Niveau des kinderarmen Deutschlands."

ENZ, Werner (2016): Japan dreht sich im Kreis.
Innovative Unternehmen wie Toyota erbringen Spitzenleistungen, was hoffen lässt. Die Einführung von Negativzinsen durch die Bank of Japan und der lahmende Reformkurs unter Ministerpräsident Abe verunsichern,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 09.04.

ECKERT, Daniel (2016): Kranker Mann in Fernost steht auf.
Alt und verschuldet: Japan gilt als Problemfall der Weltwirtschaft. Doch der Yen zeigt Muskeln,
in:
Welt v. 23.04.

"Japan leidet unter ähnlichen Problemen wie die Euro-Zone und erlaubt daher einen Blick in unsere eigene Zukunft",

rechtfertigt Daniel ECKERT dieses selektive Japanbild. ECKERT schildert die Ansichten zweier Experten: zum einen Guido LINGNAU, dessen 2014 erschienenes Buch Auch die sicheren Häfen sind in Gefahr im Untertitel verspricht: Schützen Sie Ihr Vermögen vor der demographischen Katastrophe. LINGNAU gehört also zu den Apokalyptikern, dessen Einschätzung sich allein aus der pessimistischen Sicht auf den demografischen Wandel ergibt. Als zweiter Experte wird der Ökonom Ralph SOLVEEN von der Commerzbank genannt, von dem eine positive Einschätzung zitiert wird:

"Eine alternde Gesellschaft kann weiter produktiv und wettbewerbsfähig sein. Seit 1995 ist die Bevölkerung im Erwerbsalter von 15 bis 64 Jahren um 9,6 Millionen Menschen geschrumpft. Und es geht so weiter. »In den nächsten 20 Jahren wird diese Altersgruppe fortgesetzt um etwa ein Dreiviertelprozent im Jahr abnehmen«, sagt Solveen.
Gleichwohl habe die reale, also die inflations- und deflationsbereinigte Wirtschaftskraft pro Einwohner im erwerbsfähigen Alter von 2000 bis 2015 um 25 Prozent zugelegt, mehr als in den USA. »Japan ist gar nicht so krank«, sagt der Ökonom."

Wie schnell als "kranke Männer" (warum nicht kranke Frauen?) bezeichnete Volkswirtschaften gesunden können, zeigt der Fall Deutschland. Die Diagnose "krank" oder "gesund" ist jedoch immer auch eine Frage der ökonomischen Ideologien.

NEIDHART, Christoph (2016): Ein Land sieht alt aus.
Japan vergreist, und die Regierung hat kein Rezept gegen die demografische Krise. Stattdessen geht man recht kaltblütig mit Rentnern um: Sie werden aufs Land abgeschoben oder müssen sich nützlich machen,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 23.04.

"In den nächsten 50 Jahren wird die Bevölkerung (...) jährlich um knapp 200.000 Menschen schrumpfen, wenn man den Vorhersagen glaubt",

schrieb Cornelia TUTT im Jahr 2007 - nicht über Japan, sondern über Deutschland. Christoph NEIDHART schildert die Entwicklung in Japan folgendermaßen:

"Bereits heute sind mehr als ein Viertel der Japaner älter als 65 - acht Prozent älter als 80. Und mehr als 60.000 Menschen jenseits der 100. In 20 Jahren werden 40 Prozent aller Japaner Rentner sein, so die Statistiker der Regierung. Zugleich nimmt die Gesamtbevölkerung jährlich um mehr als 200.000 Einwohner ab. Japan verliert also jedes Jahr fast so viele Einwohner, wie die Stadt Augsburg hat."

NEIDHARDT malt ein typisches neoliberales Horrorgemälde wie wir es z.B. aus dem ZDF-Film 2030 - Aufstand der Alten kennen:

"In einem Altenheim in Kawasaki hat ein junger Pfleger drei greise Patienten vom Balkon in den Tod gestoßen. (...). Der Dreifach-Mord ist in seiner Radikalität ein Einzelfall, aber er verrät doch, dass Japans Altenpflege in einer Krise steckt. Das Gesundheitsministerium hat für 2014 mehr als 300 Fälle schwerer Misshandlungen alter Patienten im Pflegeeinrichtungen gemeldet."

Und nun sollen Alte auch noch "zwangsumgesiedelt" werden.

Wurde uns Deutschen noch zur Jahrtausendwende Japan als Vorbild einer alternden Gesellschaft vorgehalten - wir erinnern uns: Wir sollten die Agenda 2010 als alternativlose Politik empfinden, wird uns nun Japan als Schreckensbild präsentiert, das zur Lösung der Probleme unfähig ist:

"Die am nächsten liegende Lösung, junge Leute aus Südostasien ins Land zu holen, gerade auch als Pflegepersonal kommt für Abes Konservative nicht infrage. Sie reden eher davon, mehr Roboter in der Pflege einzusetzen."

Noch im Jahr 2007 hat NEIDHARDT Japan als Vorbild für den Umgang mit den Alten gepriesen:

"Obwohl vom Konfuzianismus nicht viel geblieben ist, begegnet man in Ostasien Eltern, überhaupt alten Leuten mit mehr Respekt als im Westen. Und zugleich mit mehr Milde und Nachsicht: fast wie Kindern gegenüber. Die Alten andererseits suchen, so lange wie möglich, Aufgaben in der Gesellschaft zu übernehmen."

Jetzt also eine 180 Grad-Kehrtwende! Hat das Japanbild, das uns von den Medien vermittelt wird, vielleicht mehr mit Deutschland als mit Japan zu tun?

SCHROOTEN, Mechthild (2016): Von Japan lernen.
Gastwirtschaft: So funktioniert eine Post-Wachstumswirtschaft,
in:
Frankfurter Rundschau v. 11.05.

"Die Illusion einer hohen Rendite wird selbst in der Post-Wachstumswirtschaft aufrechterhalten",

erklärt uns Mechthild SCHROOTEN mit Blick auf Japans mehr als 20jährige Niedrigzinspolitik.

MAYER-KUCKUK, Finn (2016): Roboter statt Nachwuchs.
FR-Serie Wie wollen wir wohnen? Ein japanischer Forscher hat ein Haus gebaut, das alten Bewohnern die Wünsche am Gehirn ablesen soll Liegt die Lösung des Pflegeproblems in der totalen Automatisierung?
in:
Frankfurter Rundschau v. 21.05.

"Japan gehört mit Deutschland zu den Ländern, die am schnellsten altern. Im vergangenen Jahr ist die Bevölkerung erstmals seit einem Jahrhundert geschrumpft, wie Daten des japanischen Innenministeriums zeigen. Heute sind 27 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt. Bis 2060 wird die Zahl der Japaner im arbeitsfähigen Alter um 40 Prozent sinken. Bis dahin wird jedem produktiven, arbeitenden Mitglied der Bevölkerung ein Senior gegenüberstehen, der Rentenzahlungen erwartet",

beschreibt uns Finn MAYER-KUCKUK das zeitgenössische Japan und seine bedrohlichen Zukunftsaussichten, bevor auf die Technisierung der Lebenswelt alter Japaner eingegangen wird, um dann einen Ausblick auf die Zukunft à la Science-Fiction zu geben:

"Worauf steuert Japan mit seiner Mischung aus akzeptierter Überalterung und radikaler Technikgläubigkeit zu? Science-Fiction-Autoren denken den Trend in die Zukunft weiter. Der Animationsfilm »Vexille« des bekannten Regisseurs Fumihiko Sori zeigt ein Jahr 2077, in dem Japan sich erneut von der Außenwelt abgeschottet hat. Alle Ausländer wurden deportiert, der Handel ist eingestellt. Die Gesellschaft besteht aus nur noch halb menschlichen, aber durch und durch japanischen Maschinenwesen. Die künstlichen Lebensformen bleiben unter sich.
So wie Sori kritisieren mehr und mehr Intellektuelle die Vorstellung, dass es schon irgendwie ohne junge Menschen geht."

WELTER, Patrick (2016): Japan verschiebt die höhere Mehrwertsteuer.
Die Regierung hat Angst vor einem Rückfall in die Deflation und sieht deshalb von ihrem Zeitplan für die Steuererhöhung ab. Stattdessen will der Regierungschef seine umstrittene Abenomics beschleunigen. Kritiker warnen vor den Folgen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 03.06.

WELTER, Patrick (2016): Offenbarungseid in Japan.
Leidartikel: Wieder verschiebt Abe die Steuererhöhung. Das ist richtig und falsch zugleich,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 03.06.

SCHOETTLI, Urs (2016): Malthus auf den Kopf gestellt.
Geopolitische Perspektiven: Japan und China schrumpfen und altern gleichermassen. Sie reagieren jedoch unterschiedlich auf die demografische Herausforderung. China aspiriert weiter auf den Platz an der Sonne – mit Folgen,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 22.06.

LILL, Felix (2016): Abenomics bis zum Abwinken.
Wirtschaftspolitik auf Japanisch: Wahlgeschenke und billiges Geld statt höherer Steuereinnahmen und Jobförderung,
in:
Neues Deutschland v. 09.07.

Felix LILL berichtet über einen Ökonomen, der eine Schuldenkrise in Japan für das Jahr 2022 prognostiziert. Die Generation der Babyboomer werden als Kapitalmarkt-Problem beschrieben:

"In der Rente leben viele von ihren Ersparnissen, weshalb sie Staatsanleihen zu Geld machen. Stoßen aber viele diese gleichzeitig ab, dürfte der Preis fallen und dadurch die Zinsen steigen. Die Schuldentilgung würde dann teurer."

LILL, Felix (2016): Das Elend der Abenomics.
Ansage: "Die Inflation vermeintlicher Experten hat das Vertrauen in die echten ruiniert. Man fragt: Was wisst ihr von unseren Nöten",
in: Die ZEIT Nr.30 v. 14.07.

Für Felix LILL ist an der stagnierenden japanischen Wirtschaft der demografische Wandel schuld:

"Nur 13 Prozent sind unter 15 Jahre alt, aber doppelt so viele Menschen sind mindestens 65. Mit steil steigender Tendenz",

erzählt uns LILL. Beides ist jedoch lediglich Verdummung, denn weder die Jungen noch die Alten sind entscheidend, sondern die Erwerbstätigen. Was unsere Demografiepriesterschaft jedoch nicht stört.

"Wegen der niedrigen Kinderzahl und der hohen Lebenserwartung werden im Jahr 2050 voraussichtlich vier von zehn Japanern 65 Jahre oder älter sein. Die Bevölkerung schrumpft seit dem Jahr 2008, die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter nimmt schon seit 1998 ab",

zählt LILL weiter auf, als ob damit schon alles gesagt wäre. Man fragt sich hier höchstens: Welche Folgen hatten Fukushima und der Tsunami für die japanische Gesellschaft? Davon schweigt LILL, stattdessen gehen ihm die Reformen nicht weit genug:

"Das Rentenalter wird nach viel Zerren seit 2013 schrittweise von 60 auf 65 Jahre angehoben. Die Erwerbsquote von Frauen, die in Japan mit 66 Prozent noch niedriger liegt als in Deutschland, soll durch Karriereförderprogramme steigen. Junge Paare werden durch mehr Betreuungsplätze zum Kinderkriegen ermutigt. Zudem öffnet Japan sich sehr vorsichtig für Arbeitsmigration. Nur müsste das Land, um mit jungen ausländischen Arbeitskräften das Altern aufzuhalten, bis 2050 mehr als eine halbe Million Ausländer pro Jahr aufnehmen."

LILL beschwört die Postwachstumsgesellschaft, für die er Japan gerne als Vorzeigeland präsentiert hätte. Aber die gegenwärtige Regierung will davon nichts wissen.

FRITZ, Martin & Malte FISCHER (2016): Bis das Kartenhaus einstürzt.
Japan: Rentner und Sparer müssen für die lockere Geldpolitik ihrer Notenbank zahlen. Das Land ist ein schlechtes Vorbild für Europa,
in:
Wirtschaftswoche Nr.32 v. 05.08.

FRITZ & FISCHER prognostizieren und bewerten die Wirkungen der japanischen Geldpolitik folgendermaßen:

"Nach den Geschäftsbanken werden künftig auch Pensionskassen und Lebensversicherungen Staatsanleihen an die Notenbank verkaufen. Das frische Geld dürften sie in ausländische Anleihen und japanische Immobilien stecken. Der Yen wird dann wohl nachgeben, die Preise für Importe steigen.
Zieht die Inflation an, schmelzen die Ersparnisse. Vor einer »selbstmörderischen Politik« warnt daher der Chefökonom von JP Morgan, Masaaki Kanno."

WELTER, Patrick (2016): Japans Konjunkturmotor stottert.
Ein nominales Wachstum im zweiten Quartal und sinkende Investitionen,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 17.08.

WELTER, Patrick (2016): Verunsicherte Japaner üben Konsumverzicht.
Kommentar: Abenomics ohne Glanz,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 17.08.

Patrick WELTER, Redakteur der FAZ und gleichzeitig Korrespondent der NZZ, schreibt die japanische Wirtschaftsmisere der desolaten Renten- und Krankenversicherung zu und fordert deshalb:

"Japan braucht Reformen, um die Sozialwerke nachhaltig zu finanzieren."

WAGNER, Wieland (2016): Kollektiv kaltherzig.
Japan: Nach einem Massenmord an Behinderten debattiert das Land über seinen schwierigen Umgang mit Randgruppen, Alten und Kranken,
in:
Spiegel Nr.34 v. 20.08.

Wieland WAGNER erzählt uns eine rührende Mutter Theresa-Geschichte. Ausgerechnet Japan soll am Katholizismus genesen, der in Deutschland einerseits die Hartz-Gesellschaft abgesegnet hat und anderseits auf seinen Reichtümern sitzt und höchstens noch für Prunkbauten Geld übrig hat. Es ist keine zwei Jahrzehnte her, da wurde uns Japan als Land vorgestellt, dessen religiöse Wurzeln eine Garantie sein sollten, dass dort die Alten würdevoller leben würden als im gottlosen, egoistischen Deutschland. Nun beschreibt uns WAGNER Mörder, die ihre Verbrechen gegen Alte quasi als neoliberalen Gnadenakt bezeichnen.

"Die konfuzianisch geprägte Gesellschaft, die immer so stolz war auf die gegenseitige Treue zwischen Eltern und Kindern, Bossen und Angestellten, zerbricht zunehmend in Arme und Reich, Schwache und Starke. Und in Junge und Alte",

knüpft WAGNER an dieses in Deutschland verbreitete Japan-Bild an, nur um es demontieren zu können. Das Erstaunliche an dieser Verklärung der religiösen Wurzeln mit ihren Idealen ist ja, dass es passgenau zur deutschen Vorstellung unserer einstigen Großfamilienidylle passt, die von der Industriegesellschaft zerstört worden sei. Ein schönes Märchen, das uns immer wieder von einer konservativen Soziologie als Kontrastbild zu einer individualisierten Gesellschaft mitgeliefert wird, die im Grunde das Ideal des Neoliberalismus ist. Nur was haben diese unrealistischen Großerzählungen mit dem Alltag in Deutschland und Japan zu tun?

Und vor allem: Wie kann es sein, dass der Spiegel, der in Deutschland die Agenda 2010 gnadenlos verherrlicht hat, nun die gleichen Reformversuche in Japan verurteilt? Nicht die Politik wird jedoch verurteilt, sondern nur die Rhetorik, mit der sie propagiert wird. Uns Deutschen konnten die Neoliberalen ja noch vormachen, dass es ums Fördern, statt ums Fordern gehe. Offenbar glauben das inzwischen auch in Deutschland nur noch wenige. Wie viel Verlogenheit lassen wir uns von unseren Mainstreammedien eigentlich noch bieten?  

LATSOS, Sophia & Gunther SCHNABL (2016): Warum die lockere Geldpolitik die Geburtenraten sinken lässt.
Das Beispiel Japan zeigt: Die ultralockere Geldpolitik verschärft die Ungleichheit zwischen den Generationen zum Nachteil der Jüngeren,
in:
Wirtschaftswoche N.35 v. 26.08.

LATSOS & SCHNABL wollen uns mit Blick auf das Japan seit Mitte der 1980er Jahre einreden, es gäbe einen allgemeinen Generationenkonflikt. Die Älteren würden profitieren und die Jüngeren hätten das Nachsehen. Dabei geht es um das Vermögen, das von jeher bei den Älteren angesiedelt ist und sich bei den älteren Reichen konzentriert, während die meisten kaum Vermögen gebildet haben.

Belege werden uns deshalb auch von den Autoren nicht geliefert, d.h. wir haben es hier mit Altersrassismus zu tun. Ein Klassenkonflikte zwischen arm und reich wird in einen angeblichen Generationenkonflikt, der im Grunde ein Altersgruppenkonflikt ist, umgedeutet und damit Ressentiments gegen Ältere geschürt.

Ein Schaubild erklärt uns: Geldpolitik treibt Häuserpreise und drückt Löhne in Japan. Die Mehrzahl der Jungen sind Singles, die keine Häuser kaufen, sondern auf den Mietwohnungsmarkt angewiesen sind. Von daher geht es nicht um die Jungen, sondern um die obere Mittelschicht, die sich zum Opfer stilisieren kann, weil sie als Verbündete der Oberschicht die Medien und Wissenschaft dominiert.

NEIDHART, Christoph (2016): Allein unter Senioren.
Japan legt viel Wert auf sein traditionelles Handwerk, doch die Nachwuchskräfte fehlen,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 27.08.

Christoph NEIDHART führt uns in seiner Reportage nach Ontayaki, einem Dorf mit 14 Haushalten, auf der japanischen Insel Kyushu, um uns die demografische Katastrophe in Japan nahe zu bringen:

"Vier Kinder (...). Damit geht es Ontayaki besser als so vielen anderen Dörfern, wo nur noch Betagte leben, wo alternde Schwiegertöchter greise Schwiegereltern pflegen. Erst verschwindet der Laden, dann die Post. Und irgendwann werden die Dörfer ganz aufgegeben."

Die Dörfer sterben aus. Diese Botschaft verkündet in Deutschland seit Jahren das Berlin-Institut. Japan gilt uns Deutschen als Vorbote unserer eigenen Zukunft:

"Japan schrumpft, (...) derzeit verliert es jedes Jahr etwa 200.000 Einwohner. 34 Millionen Japaner, mehr als ein Viertel der Bevölkerung, sind über 65 Jahre alt, ihnen stehen nur 15,8 Millionen Kinder unter 14 Jahren gegenüber. Die sogenannte demografische Katastrophe lässt sich nicht mehr aufhalten (...): Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter ist zu niedrig.
Einige Länder, etwa Singapur, haben niedrigere Geburtenraten als Japan, aber sie lassen Immigration zu. Das ist in Japan ein Tabu. Zudem werden die Menschen nirgendwo so alt wie in Japan."

Unser Blick gilt nicht wirklich Japan, sondern immer nur Deutschland. Japan würde uns niemand näher bringen, wenn wir dort nicht unser Schicksal erblicken könnten oder zumindest Lösungswege sichtbar würden. Es ist noch kein halbes Jahrhundert her, da galt Japan als wirtschaftlicher Faktor, vor dem es sich zu fürchten galt. Wie schnell sich doch die Blickrichtung ändern kann. Über Japan haben wir jedoch auch damals schon nichts gelernt.

NEIDHART, Christoph (2016): Angriff der "Babymach-Maschinen".
Frauen hatten es in Japans Politik bisher schwer. Doch jetzt regiert eine Frau Tokio - eine andere vielleicht bald das Land,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 09.09.

MAYER-KUCKUK, Finn (2016): Die Welt bleibt draußen.
Hunderttausende Japaner vermeiden es, vor die Tür zu gehen - oft jahrelang,
in:
Frankfurter Rundschau v. 10.09.

Finn MAYER-KUCKUK berichtet anlässlich einer Studie des japanischen Gesundheitsministeriums über das Phänomen der Hikikomori in Japan.

RÖTZER, Florian (2016): Japan: Endemische Sexlosigkeit.
Über 40 Prozent der männlichen und weiblichen Singles im Alter zwischen 18 und 34 Jahren sind noch jungfräulich,
in:
Telepolis v. 19.09.

NEIDHART, Christoph (2016): Keine Lust auf Sex.
Immer mehr Japaner leben ohne Liebe. Viele stört das nicht: Beziehungen sind ohnehin zu kompliziert, Romantik nach der Ehe ist überflüssig,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 20.09.

BLASCHKE, Sonja (2016): Von halben und ganzen Frauen.
Kinder sind für viele Japanerinnen das Lebensziel - manche geben dafür ihren Beruf auf, bevor sie schwanger sind,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 20.10.

Sonja BLASCHKE verknüpft die übliche 0815-Darstellung zum Geburtenrückgang in Japan mit dem Bemühen von Kinderlosen schwanger zu werden.

"Japan gehört seit Jahren zu den Industrienationen mit den niedrigsten Fertilitätsraten. Kinder sind eng mit Heiraten verknüpft: Nur zwei Prozent der japanischen Kinder werden ausserhalb der Ehe geboren. (...). 2015 wurden nur rund 635.000 Ehen geschlossen - so wenig wie noch nie in der Nachkriegszeit. (...). 2015 waren Japaner bei der Heirat durchschnittlich 31,1 Jahre alt. Japanerinnen 29,4. Entsprechend steigt das Alter bei der Geburten des ersten Kindes: Waren Japanerinnen 1970 durchschnittlich 25,6 Jahre alt, als sie erstmals Mutter wurden, stieg der Wert bis 2015 auf 30,7 Jahre. 1975 fiel die Geburtenziffer erstmals auf unter 2 Kinder pro Frau. Der tiefste Stand war 2005 mit durchschnittlich 1,26 Kindern erreicht. Seither ist die Rate auf 1,46 im vergangenen Jahr gestiegen."

Die Gründe, die uns genannt werden, sind identisch mit jenen, die in den Nuller Jahren bezüglich der mangelhaften Vereinbarkeit von Beruf und Familie und dem Anstieg der Spätgebärenden genannt wurden.

"»Es wäre schön, wenn in der Gesellschaft beides akzeptiert würde, also Mutter zu werden oder kinderlos zu sein«. Doch sie beobachte, dass der Druck auf Frauen auch vonseiten der Regierung gestiegen sei. Das Gebären sei eine Angelegenheit der Politik geworden. Frauen sollen sich nicht nur stärker in die Arbeitswelt einbringen, sondern auch noch am besten zwei Kinder bekommen, damit die überalterte japanische Bevölkerung nicht noch schneller schrumpft",

erzählt uns BLASCHKE. Auch das ist keine spezifische Eigenart von Japan, sondern auch in Deutschland standen Frauen politisch mächtig unter Druck.

2017

WELTER, Patrick (2017): Arbeitskräftemangel in Japan.
Umfrage der Notenbank bestätigt einen gemässigten Erholungstrend,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 05.04.

"Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sank in den vergangenen zwanzig Jahren um fast 11 Mio. auf 76,2 Mio. Ökonomen erwarten, dass mit der jetzigen Verknappung auf mittlere Frist die Löhne steigen werden",

erklärt uns Patrick WELTER die Konsequenzen der Alterung der japanischen Bevölkerung.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Politikthema: Überbevölkerung.
Immer mehr Menschen, immer weniger Ressourcen - Mythos oder Fakt?

NEIDHART, Christoph (2017): Japan.
Unterwegs zum demografischen Kollaps,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 07.06.

Demografieberichterstattung hat viel mit Kriegsberichtserstattung zu tun: Die Wahrheit stirbt zuerst und Propaganda tritt an ihre Stelle. Japan gilt den demografiefixierten Deutschen als Warnung und Mahnmal, weswegen die Berichte aus Japan schon seit Jahren besonders schrill sind:

"Japan verliert jährlich 200.000 Einwohner - eine Stadt, so groß wie Mainz",

erklärt uns Christoph NEIDHART. Wer die deutsche Debatte der Nuller Jahre verfolgt hat, dem kommt dieser Satz wohlbekannt vor, denn er wurde auch den Deutschen verkündet:

"In den nächsten 50 Jahren wird die Bevölkerung in Deutschlands jährlich um knapp 200.000 Menschen schrumpfen, wenn man den Vorhersagen glaubt. Zunächst geschieht das langsamer, dann schneller",

schrieb die Wirtschaftsjournalistin Cordula TUTT  in ihrem Pamphlet Das große Schrumpfen aus dem Jahr 2007, dem eine Financial Times Deutschland-Serie zum Thema vorausgegangen war. Bekanntlich kam es anders und allerorten schreiben nun unsere Mainstreamzeitungen von "Wachstumsschmerzen".

Vor diesem Hintergrund sollten wir als die Berichte aus Japan eher mit Vorbehalt lesen, erst Recht, wenn immer wieder von Katastrophe und Kollaps gesprochen wird wie bei NEIDHART:

Mit Katsunobu Kato gibt es zwar einen »Minister für Maßnahmen zur fallenden Geburtenrate«, der die Geburtenrate von derzeit 1,43 Kinder pro Frau auf 1,8 anheben soll. Wie er das machen will, bleibt unklar. Es ist ohnehin zu spät: Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter ist so tief, dass die Bevölkerungsimplosion nicht mehr aufgehalten werden kann. Bis zu den Über-70-Jährigen steht die Alterspyramide auf dem Kopf. Die hohe Lebenserwartung verschärft das. Auf zwei Frauen zwischen 25 und 29 kommen drei zwischen 65 und 69; es gibt mehr 80-Jährige als Babies. (...).
Wenn der gegenwärtige Trend anhält, wird Japan von heute 126 Millionen Einwohnern bis 2060 auf 87 Millionen schrumpfen. 40 Prozent aller Japaner sind dann über 65."

SCHNABL, Gunther (2017): Die Zukunft leidet.
Die Politik des billigen Geldes hat in Japan den jungen Leuten geschadet. Macht die EZB so weiter, droht das auch in Europa,
in: Die
ZEIT Nr.33 v. 10.08.

Der Neoliberale Gunther SCHNABL, Angehöriger jener Generation Golf, die Anfang des Jahrtausends von den Medien zur verlorenen Generation stilisiert wurde und nun die Meinungsmacht in den Mainstreammedien repräsentiert, spielt sich zum Anwalt der jungen Generation auf, die nun wiederum zur verlorenen Generation stilisiert wird. Japan wird von SCHNABL zum Schreckgespenst des demografischen Wandels stilisiert, obwohl Deutschland wenig mit Japan gemein hat. Weder gab es in Deutschland einen solchen Babyboom wie in Japan, noch wird die Alterung hier ähnlich ausfallen wie in Japan. Gemäß dem Alterungsreport des US Census Büro gehört Japan bereits heute und auch 2050 zu den Ländern mit dem höchsten Anteil der über 65-Jährigen. Deutschland dagegen, wird von Rang 2 auf Rang 19 zurückfallen, weil andere Länder schneller altern, z.B. Südkorea, Hongkong, Taiwan oder die jungen osteuropäischen Länder.

Fazit: SCHNABL verdummt uns mit seinem Japan-Vergleich. Und wer als seriöser Wissenschaftler junge Japaner als "Parasitensingles" diffamiert, der sollte eigentlich in seriösen Medien kein Gehör finden können!

LILL, Felix (2017): Häng bloß nicht zu Hause rum.
In kaum einem wohlhabenden Land arbeiten so viele Senioren wie in Japan. Geld und Ethos spielen eine Rolle - und die Ehefrau,
in:
Die ZEIT Nr.35 v. 24.08.

Über kaum ein Land gehen die Meinungen derart weit auseinander wie über Japan. Den einen ist Japan Warnung, den anderen Musterland. Und nicht selten ändert sich die Perspektive in Konjunkturzyklen der Berichterstattung zum demografischen Wandel. Felix LILL verkauft uns heute Japan als neoliberales Musterland:

"Der durchschnittliche japanische Arbeitnehmer geht mit 69 Jahren in den Ruhestand, neun Jahre nach Erreichen des gesetzlichen Rentenalters. Damit ist Japan völlig untypisch in de reichen Welt, wo sich über die vergangenen Jahrzehnte eher das Prinzip der Frühverrentung durchgesetzt hat. In Deutschland verabschieden sich die Menschen im Schnitt mit 63 Jahren aus dem Berufsleben, also rund zwei Jahre vor dem offiziellen, schrittweise steigenden Rentenalter. In Österreich macht man sogar drei Jahre eher Schluss. Auch in den USA arbeiten die meisten Menschen nicht länger als für den Bezug der Rente nötig.
Man könnte Japan sogar das Musterland für »lebenslanges Lernen« nennen - jenen Lebensstil, den all die internationalen Institutionen von EU über Unesco bis OECD seit Jahrzehnten predigen. Denn (...) das entlastet die Rentenkassen. Insbesondere in Japan ist das wichtig. Mittlerweile ist dort gut ein Viertel der Bevölkerung 65 Jahre oder älter. Bis 2050 wird der Anteil voraussichtlich bei 40 Prozent liegen. 65.000 Menschen im Land sind sogar 100 Jahre oder älter. Damit ist Japan das Land mit der ältesten Bevölkerung weltweit. (...).
Durch die niedrige Geburtenrate und die sehr geringe Immigration ist die Arbeitsbevölkerung seit Ende der 1990er Jahre von ihrem Höchststand, 67 Millionen, schon um zwei Millionen geschrumpft. Wenn sich die heutigen Trends fortsetzen, werden es 2030 nur noch 56 Millionen sein",

schildert LILL die Situation in Japan. Der Leser wird mit Zahlen gefüttert, die wenig aussagekräftig sind. Dies gilt für alle Artikel in den Mainstreamzeitungen, die zu Japan in den letzten Jahrzehnten erschienen sind. Sie beschränken sich auf Suggestionen, die sich aus der deutschen Debatte um den demografischen Wandel ergeben. Über das Alterssicherungssystem in Japan wird dagegen nur insoweit berichtet wie es dem neoliberalen Zeitgeist hierzulande in die schönfärberische Argumentation passt.

LILL beschreibt Japan als "Land des gesunden Alterns", das nicht zufällig identisch ist mit den Vorstellungen unserer neoliberalen Eliten zu den fitten "Alten":

"Getrost kann man Japan das Land des gesunden Alterns nennen: Die Senioren von heute helfen ihren Kindern als Babysitter, organisieren sich in Nachbarschaftsverbänden und gewinnen Seniorenweltmeisterschaften in der Leichathletik. (...).
Von 34 Millionen Rentnern haben 12, 6 Millionen einen Job."

Warum das Renteneintrittsalter so niedrig liegt, das erschließt sich aus der folgenden Passage:

"Betriebe (sind) froh, wenn sie die teuersten mit sechzig erst mal verabschieden dürfen. Wer dann erneut eingestellt werden will, muss deutlich schlechtere Konditionen akzeptieren."

Solange also genügend Rentner - ob freiwillig wie der Artikel suggeriert oder gezwungen - als Rentner weiterarbeiten, ist eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalter gar nicht notwendig. Das niedrige Renteneintrittsalter ist in dieser Sicht also durchaus funktional!

Aber in Japan hat sich die Arbeitskultur, die LILL beschreibt längst geändert, sodass die verklärte Sicht von LILL zukünftig keinen Bestand mehr haben wird. LILL beschreibt also ein Auslaufmodell als ob es eine Vision für die Zukunft wäre.

STOCKER, Frank (2017): Wundersame Wiedergeburt.
In Japan boomt die Wirtschaft, Investoren kehren zurück, und selbst die Deflation scheint besiegt. Wenn da nicht die Schulden wären,
in:
Welt  v. 09.09.

WELTER, Patrick (2017): Die Reichtümer des Meeres sind endlich.
Im Südwesten Japans kämpfen die Bewohner der Insel Iki gegen Überfischung und gegen Überalterung,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 19.09.

"Die Jungen gehen und kommen nicht mehr zurück, klagen alle Gesprächspartner auf der Insel. Rund tausend Menschen verliessen die Insel im Jahr, doch nur 700 zögen zurück oder zu, berichtet Bürgermeister Hirokazu Shirakawa (...). In der vergangenen sechzig Jahren hat die Bevölkerungszahl sich auf etwa 27 000 nahezu halbiert. Die kleine Insel ist eine Art Versuchslabor, in der wirtschaftlicher Strukturwandel und demografisch bedingtes Schrumpfen eine verhängnisvolle Beziehung eingehen",

berichtet Patrick WELTER von der japanischen Insel Iki und seinen Fischern, die vom Thunfisch leb(t)en und der Tradition des Ama-Tauchens. junge Familien sollen mit einer spezialisierten Oberschule angelockt werden oder mit Telearbeit. Doch dass die Landflucht mit den verfolgten Maßnahmen gestoppt werden können, sieht WELTER skeptisch:

"Wenn sie einen guten Mann finde, werde sie hier heiraten. Ein Modellfall gegen den Bevölkerungsschwund auf Iki aber ist die junge Japanerin nur bedingt. Auch nach zwei Jahren hat noch keiner ihrer Freunde aus Yokohama sie auf der Insel besucht."

COULMAS, Florian (2017): Versuchsstation des Weltuntergangs.
Japan wird immer älter - und geht uns voran in eine Zukunft der Roboter und der Einsamkeit,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 22.09.

MAE, Michiko (2017): Neue Wege.
Welche Chancen bietet Japans hohe Altersstruktur?
in:
iz3w, Nr.362, September/Oktober

NEIDHART, Christoph (2017): Das alte Denken.
Ein Netzwerk hilft schwangeren Japanerinnen gegen Mobbing,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 06.10.

"In Japan nennt man die Diskriminierung und Schikanierung Schwangerer und junger Mütter »Matahara«. Die Soziologin Hiromi Sugiura hat den Begriff kreiert, eine Kurzform des englischen »Maternity Harassment« (Drangsalierung von Müttern)",

schreibt Christoph NEIDHART über eine Phänomen, das er vor dem Hintergrund des Wandels der Familie in Japan beschreibt:

"Obwohl sich die japanische Regierung mehr Geburten wünscht, werden immer wieder Fälle bekannt, in denen Unternehmen Schwangere vor die Wahl stellen: Abtreibung oder Kündigung. Es gibt auch Firmen, die meinen, liberaler zu sein und junge Frauen auffordern, ihre Kinderpläne bitte im Team so zu koordinieren, dass jeweils immer nur eine schwanger sei.
Bis heute halten viele Japaner das Modell, wonach der Vater arbeitet, das Haus früh verlässt und spät abends nach Hause kommt, während sich die Mutter ganz um die Kinder kümmert, für die traditionelle japanische Familienstruktur. Viele wissen nicht, dass ihr Land dieses Modell erst im 19. Jahrhundert aus Preußen importiert hat. Durchgesetzt hat es sich in den Nachkriegsjahren. Seither wird von Frauen erwartet, dass sie, wenn sie heiraten oder spätestens, wenn sie schwanger werden, ihre Stelle kündigen - und sich später, wenn die Kinder in die Schule gehen, mit einem Hilfsjob begnügen. Auch Frauen mit Hochschulbildung landen so an einer Kasse im Supermarkt. Und wer sich nicht an solche sozialen Normen hält, riskiert in Japan, belästigt zu werden."

"Mobbing" wird sozusagen als Reaktion der sozialen Umwelt auf einen Verstoß gegen die soziale Normen interpretiert. die Verfechter der moderne japanischen Familie, so muss man das lesen, haben vor drei Jahren die Selbsthilfeorganisation "Matahara-Net" gegründet. NEIDHART zählt noch andere Formen der Belästigung auf:

"Schwangere würden auch von Frauen belästigt, zum Beispiel von Kolleginnen, wenn diese mehr arbeiten müssen, um eine werdende Mutter zu schonen. Aus der Provinz erreichen Matahara-Net Hilferufe von Schwangeren, die von der eigenen Familie geplagt werden, weil sie weiter arbeiten wollen statt zum Beispiel ihre greisen Schwiegereltern zu pflegen, was bisher die soziale Norm im Land ist",

wird eine Betroffene zitiert, die sich bereits vor 15 Jahren erfolgreich gegen dieses "alte Denken" gewehrt hat. Wer sich bei dieser Berichterstattung an deutsche Kämpfe um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erinnert fühlt, der liegt sicherlich nicht falsch. Bei NEIDHART kommt zu kurz, dass der Kampf gegen die Diskriminierung von Müttern auch bevölkerungspolitisch motiviert und unterstützt wird. Oder wie es in einem Bericht von Sonja BLASCHKE in der Welt vor über zwei Jahren heißt:

"Japan schrumpft und überaltert so schnell wie keine andere Industrienation, es droht ein Arbeitskräftemangel. Daher wolle der Staat sicherstellen, dass das Arbeitsumfeld mütterfreundlich sei, sagt Ishii-Kuntz. Früher sei die Diskriminierung von Müttern kaum ans Licht gekommen, weil diese schwiegen und einfach ihren Job kündigten."

KÖLLING, Martin (2017): Angst vor dem Wähler.
Vorgezogene Neuwahlen sind in Japan eigentlich normal, besonders unter Regierungschef Shinzo Abe. Aber dieses Mal ist alles anders. Denn eine Anti-Abe-Partei könnte den Reformer stürzen - mit weitreichenden Folgen für die Wirtschaftspolitik und die Finanzmärkte,
in:
Handelsblatt v. 12.10.

KÖLLING, Martin (2017): Deutlicher Rückhalt.
Japan: Die Partei von Premier Shinzo Abe wird bei der Parlamentswahl klar stärkste Kraft,
in:
Handelsblatt v. 23.10.

Vor 11 Tagen heulte uns Martin KÖLLING noch die Ohren voll, dass der Premier seine Mehrheit verlieren könnte. Wie kann das sein? Offenbar geht es KÖLLING nicht um Aufklärung über die Zustände in Japan, sondern um neoliberale Interessenpolitik und damit um ideologische Berichterstattung.

GNAM, Steffen (2017): Ich ziehe mich von der Welt zurück.
Lost in Transition: Das Hikikomori-Syndrom der japanischen Jugendlichen,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 01.11.

"Was anderswo als »Hotel Mama« verspottet wird, ist in Japan laut Sachiko Horiguchi positiver besetzt: Das Kinderzimmer als »Mutterschoß« wird dort auch mit Takeo Dois psychoanalytischem Konzept der Freiheit in Gebortenheit (Amae) assoziert",

erklärt uns Steffen GNAM, dessen Artikel ein Sammelsurium von Texten zum Hikikomori-Komplex präsentiert. Anlass ist die Publikation des Aufsatzes "Unhappy" and isolated youth in the midst of social change. Representations and subjective experiences of hikikomori in contemporary Japan von der Anthropologin Sachiko HORIGUCHI in einem Sammelband über Lebenslauf, Glück und Wohlbefinden in Japan.

BLASCHKE, Sonja (2017): Frisches Blut belebt serbelnde Dörfer.
In Japan ziehen junge Menschen auf der Suche nach einem anderen Lebensentwurf vermehrt aufs Land,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 03.11.

Wenn ein japanischer Landleben-Magazin-Redakteur in die japanische Einöde von Ishidani - einem Dorf mit 11 Haushalten - zieht, dann machen Journalisten wie Sonja BLASCHKE daraus gleich eine Bewegung. Und wie macht man den Lieblingsbegriff der Neoliberalen "Überalterung" anschaulich?

"Sachihiko Shigitani, ein aufgeweckter, drahtiger 40-Jähriger mit markanter Brille, ist der Einzige, der nicht weit über 70 Jahre alt ist. Seine Frau Tamami Sakanakura, die in Gummistiefeln am Hang Bambusgrasblätter erntet, ist mit 33 Jahren die jüngste Einwohnerin des Dorfes mit elf Haushalten. (...).
Sie ist schwanger. Im Dezember wird zum ersten Mal seit 28 Jahren in Ishidani wieder ein Baby schreien."

In Deutschland fahndeten in den Nuller Jahren Journalisten nach solchen Geschichten, um die unaufhaltsame Schrumpfung Deutschlands herbeizuschreiben. Das Dorf Affler in der Eifel ist das deutsche Ishidani und Bionade-Biedermeier-Erfinder Henning SUSSEBACH hat es für die Medien entdeckt (vgl. "Ein Dorf geht in Rente", Badische Zeitung 05.04.2001). Damals lebten dort angeblich 39 Einwohner und 20 Jahre lang war kein Baby geboren worden.

Gemäß Wikipedia lebten in Affler bereits 1997 nur noch 32 Menschen. Ende 2015 waren es nur noch 27 Einwohner, davon 11 Frauen. Ende 2001 waren es gemäß den Statistischen Berichten noch 7 Männer mehr gewesen. Weiter zurück reicht das Archiv nicht.

Sollte nun ein Journalist meinen, dass Affler Stoff für eine weitere Sensationsstory à la Seit 30 Jahren kein Baby mehr geboren worden bietet, der täuscht sich. Im Jahr 2010 wurde in Affler nämlich ein Kind geboren. Damit ist diese Sensationsstory futsch!

"2002 beendete die Familie Theis eine 20-Jährige Pause. Erstmals wurde damals wieder ein Kind im Dorf geboren, zwei Jahre später folgte ein weiteres. Heute sind Lars und Julia Theis die Hoffnungsträger. Sie werden mit einem Kleinbus täglich in den Kindergarten der Nachbargemeinde gebracht",

berichtete Christian GALLON bereits im Jahr 2008 für den SWR über Affler. Gemäß Statistik wurde weder 2002 noch 2004 ein Kind in Affler geboren. 2003 wurde jedoch ein Kind geboren. Das andere Kind ist also möglicherweise bereits 2001 geboren worden. So weit reicht jedoch das Archiv nicht zurück. Als der Bericht von SUSSEBACH über das kinderlose Dorf in den Zeitungen publiziert wurde, war die kinderlose Ära also möglicherweise bereits vorbei. SUSSEBACH hätte der Story also die gleiche Wendung geben können wie BLASCHKE in der NZZ, aber damals war das unerwünscht. Nicht seit 20 Jahren wird das erste Baby geboren, sondern eben nur: seit 20 Jahren kein Baby mehr geboren lautete deshalb die Botschaft.

Einen Artikel über den Kampf gegen die Landflucht in Japan gab es bereits im September in der NZZ.

BELZ, Nina (2017): Inselstaat auf Sinnsuche.
Nicht erst seit dem Aufstieg Chinas leidet Japan unter einer Sinnkrise. Shinzo Abe will dem Land zu neuem Selbstbewusstsein verhelfen. Doch er lässt das grundlegendste Problem ausser Acht,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 25.11.

Nina BELZ kommt uns mit den typischen neoliberalen Horrorszenarien:

"Japans grösste Herausforderung (...): seine demografische Situation. Schon heute sind 27 Prozent aller Japaner über 65 Jahre alt; in der Schweiz sind es 18 Prozent der Bevölkerung. Auch wenn viele von ihnen inzwischen trotz Rentenalter im Arbeitsprozess bleiben, so schlägt sich diese Gesellschaftsstruktur – in Kombination mit der konstant tiefen Geburtenrate und quasi inexistenter Immigration – auf die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft nieder. Immer mehr Firmen suchen händeringend nach Arbeitskräften; auch für die Armee kann mangelnder Nachwuchs zum Problem werden. Denn Japan ist nicht nur überaltert, die Bevölkerung schrumpft zudem rapide. Setzt sich der gegenwärtige Trend fort, wird sie von heute rund 127 Millionen bis zum Jahr 2053 auf unter 100 Millionen fallen – für die Regierung schon heute ein Schreckensszenario."

Ein Artikel zeigt, dass - nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan der Anstieg der Geburtenrate in früheren Szenarien zu niedrig angenommen wurde:

"Due of the estimated rise in the birthrate, Japan’s population would slip below the 100-million threshold five years later than what was projected in the previous estimates."

Es darf davon ausgegangen werden, dass auch diese Bevölkerungsvorausberechnung zu pessimistisch ist. Auch in Japan sind solche Szenarien ideologisch begründet. Treffsicherheit gehört nicht zu den Kriterien von Bevölkerungsvorausberechnungen.

LILL, Felix (2017): Japans Grauzone.
Nur in einem Industrieland ist die Bevölkerung noch älter als in Deutschland. Japans Rentner beeinflussen zunehmend Politik, Geschäftsmodelle und die Arbeitswelt. Hier lässt sich beobachten, was uns noch bevorsteht,
in:
Capital, Dezember

Felix LILL sieht in Japan ein Horrorszenario, das uns Deutschen angeblich ebenfalls droht. Dieser neoliberale Kurzschluss ist zwar weit verbreitet, aber falsch. Während Japan auch 2050 noch die älteste Bevölkerung weltweit aufweisen wird, gilt das für Deutschland dagegen nicht, weil viele Länder gemäß Berechnungen des U.S. Census Bureau Deutschland bei der Alterung überholen werden. LILL dagegen verschweigt uns das. Auch bei der Zuwanderung ist Japan kein Vorbild. Japans Bevölkerung schrumpft bereits heute, während das für Deutschland keineswegs der Fall sein muss. Natürlich wird uns wieder mit der Rentnerdemokratie (andere sagen: Gerontokratie) gedroht. Uns wird eine mächtige, japanische Rentnergewerkschaft vorgegaukelt, nur weil sie angeblich 34 Millionen Rentner vertritt. Von den Ungleichheiten innerhalb der Rentnerpopulation spricht LILL dagegen nicht.

"Japans Rentensystem ist größtenteils umlagefinanzeirt. Ohne eine Reform werden die Jahrgänge ab 1985 weniger Geld aus der Pensionskasse bekommen, als sie einzahlen",

behauptet LILL. Das sieht Carsten GERMIS in der FAZ vom 11.01.2014 ganz anders:

"Die gute Position japanischer Pensionäre hat auch damit zu tun, dass kapitalgedeckte Altersvorsorge in Japan neben dem staatlichen Rentensystem schon lange einen hohen Stellenwert hat. Das staatliche System bietet allein eine Grundversorgung. Dies wirkt als Anreiz zur Privatvorsorge. Die wichtigste Rolle spielen neben der Grundversorgung aber die Betriebe. Ihre Versorgungssysteme, oft gekoppelt an große Pensionsfonds, sind für viele Menschen der wichtigste Bestandteil ihrer Altersvorsorge – und einer der Gründe dafür, warum die Bindung zwischen Arbeitnehmer und Betrieb in Japan immer noch stark ist."

LILL will einen Generationenkonflikt in Japan entdeckt haben. Dieser wird bei uns schon seit gut 20 Jahren beschworen, obwohl nichts davon der Realität entspricht.

Während bei uns die Neoliberalen im Weiterarbeiten im Rentenalter den Königsweg sehen, kritisiert LILL dies in Japan, denn dort hat die niedrige Regelaltersgrenze den Vorteil, dass das Senioritätsprinzip ausgehebelt wird. Auch in Deutschland drängen Neoliberale auf billige Rentnerarbeitskräfte.

Fazit: LILL stilisiert die Jüngeren in Japan zu den Opfern, während die Alten angeblich den Jungen die Arbeit wegnehmen und genauso viel verdienen würden. Leider wird das nirgendwo mit Zahlen belegt, d.h. LILL spricht in diesem Artikel zu Gleichgesinnten. Im Rückblick wird sich zeigen, was von LILLs Vision übrig bleiben wird.

LILL, Felix (2017): Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns Singles, edition a

Felix LILL, Jahrgang 1985 und Verfasser einer Dissertation zu einem möglichen Generationenkonflikt in Deutschland und Japan, sieht für die Single-Gesellschaft eine Zukunft. Eine Sicht, die ihm in Tokio schlüssig erscheint. Ob diese Sicht jedoch die Zukunft prägen wird, bleibt offen. Die Gesellschaft der Langlebigen dürfte in den nächsten Jahren eher auf eine Zunahme von Paarhaushalten und eine Abnahme von Einpersonenhaushalten bei der kopfstarken Altersgruppe 60 Plus hinauslaufen, weil zum einen die "Kriegerwitwen" wegsterben und zum anderen Angleichungsprozesse bei Lebenserwartung und Altersdifferenz von Partnern ein längeres Zusammenleben im Alter ermöglichen. Die Fixierung auf Heirats- , Scheidungsziffern- und Haushaltszahlen verhindert einen unverzerrten Blick auf die privaten Lebensformen.

LILL, Felix (2017): Die Zukunft gehört den Singles.
Alleinsein ist traurig und ohne die große Liebe bleibt das Leben leer? In Japan hat ein sozialer Umbruch das Singleleben zur Normalität gemacht. Andere Länder, in denen sich Ähnliches abzeichnet, können lernen,
in:
Neues Deutschland v. 09.12.

Der trennungsgeschädigte Journalist Felix LILL hat das Buch Einsame Klasse. Die Zukunft gehört uns Singles veröffentlicht. Aufgrund seiner Berichterstattung über Japan handelt das Buch über das angebliche Pionierland Japan.

"Das Nationale Institut für Bevölkerungsforschung hat erhoben, dass unter den unverheirateten Frauen zwischen 18 und 34 nur noch 30 Prozent einen Partner haben, der Anteil bei den gleichaltrigen Männern ist schon auf 21 Prozent gesunken",

erklärt uns Felix LILL. Wie die Partnerlosigkeit ermittelt wurde, das verschweigt uns LILL. Bekanntlich wurde auch in Deutschland lange Zeit Unverheiratetsein oder das Alleinwirtschaften mit Partnerlosigkeit verwechselt.

"Nach Umfragen des Kondomherstellers Sagami nimmt der Anteil der Unverheirateten insgesamt zu: ein Drittel der Männer in ihren Dreißigern und ein Viertel der Frauen. Unter 30 Jahren sind es sogar fast 80 (Männer) und über 50 Prozent (Frauen). Zudem ist die Scheidungsrate gestiegen. Alles in allem dürfte bis 2035 die Hälfte der Menschen alleinstehend sein",

erklärt uns LILL weiter. Das erinnert stark an die Hysterie, die Ulrich BECK & Elisabeth BECK-GERNSHEIM 1990 mit ihrem Bestseller Das ganz normale Chaos der Liebe entfacht hatten. Angeblich drohte damals die vollmobile Single-Gesellschaft. Und in den Büchern der 68er ging das Trennungsvirus umher. Damals sollte jede zweite Ehe in den Großstädten geschieden worden sein. LILL will wissen, dass Deutschland den Japanern nacheifert. Doch die Scheidungsrate ist seit den 1990er Jahren in Deutschland gesunken. Zuletzt meldete das Statistische Bundesamt im Juli:

"Der endgültige Anteil an Scheidungen für einen Eheschließungsjahrgang kann erst nach Ablauf einer sehr langen Zeitspanne bestimmt werden. So beträgt im Jahr 2016 die Scheidungsrate für die im Jahr 1991 geschlossenen Ehen – also nach 25 Jahren Ehedauer – bisher 392,6 Scheidungen je 1 000 Ehen."

Das wären 39 Prozent der Ehen, wobei die meisten dieser Ehen in den 1990er Jahren geschieden wurden, während in den letzten Jahren die Scheidungsrate gesunken ist.

Auch das Ende der Liebe will LILL in Japan entdeckt haben. Das Ende der Liebe hieß bereits 2009 ein Bestseller von Sven HILLENKAMP.

Nichts von dem, was uns LILL über Japan berichtet, ist eine Sensation, sondern alter Wein in neuen Schläuchen. Aber das Akademikermilieu der sozialen Aufsteiger und deren Kinder lieben solche Geschichten aus fernen Landen. Sie sind zum einen Projektionsflächen für die eigenen Ängste, die von den Medien und der Politik zusätzlich geschürt werden. Zum anderen sind sie Sinnstiftungsversuche für jene, die nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland als Gescheiterte angesehen werden.

"Hierzulande sind ebenso die Scheidungsrate und das durchschnittliche Heiratsalter gestiegen und leidenschaftlicher als über Politik oder Sport schüttet man sich heutzutage, zumindest in meinem Bekanntenkreis, nur über Liebe und Partnerschaft aus. Dass (...) Dating Coaches und Paartherapeuten gutes Geld mit banalen Tipps einnehmen können, ist ein deutliches Indiz: Liebe ist den Menschen eines der wichtigsten Themen überhaupt".

Und natürlich möchte LILL auch von der Angst seiner Mitmenschen profitieren: Mit einer Grusel- bzw. Sinnstiftungsstory aus Japan, bei der man sich am heimischen Ofen wärmen kann. Der Zeitungstext enthält jedenfalls keine Belege für das, was er behauptet, sondern ist die 08/15-Schreibe, die uns per Mainstreammedien tagtäglich ins Haus gemeldet wird.

Fazit: Die Zukunft gehört den Singles? Warum nicht? Aber dazu hätte man gerne gewusst, was das überhaupt sein soll. Hinter den Datenbergen über Singles lauert meist nur ein Phantom!

Der Text kann auch hier in der Wiener Zeitung online gelesen werden.

2018

HOLTHUS, Barbara (2018): Glück und Wohlbefinden in Japan.
Der Fall junger Eltern,
in: beziehungsweise, Januar/Februar
v. 08.01.

BLASCHKE, Sonja (2018): Die letzte Ruhe im Hochregal.
In Japan ändern sich angesichts der Überalterung die Totenrituale - es fehlt an Platz, Zeit und manchen auch an Geld,
in: Neue Zürcher Zeitung
v. 10.01.

"Yukiko Maeda war eine von rund 1,34 Millionen Menschen, die in Japan 2017 verschieden, das sind so viele wie nie seit Kriegsende. Seit 1983 ist in Japan die rohe Sterbeziffer, also die Zahl der Todesfälle pro 1000 Einwohner, stetig angestiegen, von damals 6 auf über 10 pro 1000 Personen. Seit 2005 übertrifft in der ältesten Nation der Welt die Zahl der Todesfälle stets die der Geburten, und die Prognosen für die Zukunft sind ähnlich",

erzählt uns Sonja BLASCHKE, die uns den japanischen Staat als neoliberalen Kostensenkungsstaat vorstellt:

"90 Prozent der Japaner sterben im Spital. Stirbt jemand jedoch zu Hause, fragen die Nachbarn schon einmal, ob man den Arzt geholt habe. Das bringt die Hinterbliebenen in Verlegenheit, zumal auch die Polizei vorbeikommt. Der japanische Staat versucht derzeit, den Japanern das Sterben daheim nahezubringen. Es würde das Sozialsystem entlasten."

Zum Kostensenkungsstaat gehört auch die umfassende Vorsorge für den eigenen Todesfall, der als Selbstsorge propagiert wird:

"In Bahnen und Bussen, Zeitungen und Zeitschriften, selbst auf Facebook finden sich Anzeigen, die zum Grabkauf vor dem eigenen Ableben animieren wollen. Inzwischen sorgt über die Hälfte der Japaner vor, auch um die Kinder nicht finanziell zu belasten."

In Deutschland nehmen Berichte über "Armenbestattungen" zu, die dem Kostensenkungsstaat zu Last fallen könnten. Solche Berichte zielen darauf ab, eine neue Bestattungskultur zu installieren.

Und nicht zuletzt spielt auch die Religion eine funktionale Rolle im Kostensenkungsstaat, weshalb neben Bestattungsunternehmern auch japanische "Priester" zu Wort kommen.

VOLKMANN, Jana (2018): Nah am Fluss.
Kaffeefahrt: Ohne den Drang zum Drama erzählt die Japanerin Nanae Aoyama von den existenziellen Fragen junger Menschen,
in: Freitag Nr.17 v. 26.04.

Jana VOLKMANN stellt den Erzählband Bruchstücke von Nanae AOYAMA vor, deren 2006 in Japan erschienener Debütroman erst 2015 als Eigenwetter auf Deutsch erschien. Darin ging es um Freeter:

"Für junge Menschen, die nach der Oberschule weder auf der Uni noch im Beruf Fuß fassen können (oder wollen) und sich mit Teilzeitjobs durchschlagen, gibt es einen eigenen Begriff, man nennt sie Freeter",

erklärt uns VOLKMANN dazu.

NYFFENEGGER, Manuela (2018): Ein Rentnerpaar mit modischem Flair.
Mit seinem eigenwilligen Partnerlook verzückt ein japanisches Ehepaar auf Instagram 730.000 Folower,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 25.05.

HEINSOHN, Gunnar (2018): Roboter oder Zuwanderer?
Tribüne: Für die ökonomische Zukunft ausschlaggebend, bleibt Japans sechsfache Überlegenheit bei den sehr Guten,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 05.09.

SIEDENBIEDEL, Christian (2018): Was die Altersvorsorge in Deutschland so schwer macht.
Einmal im Jahr blickt ein großer Vermögensverwalter auf die Rahmenbedingungen für den Ruhestand in aller Welt. Deutschland fällt 2018 im Vergleich zu anderen Ländern deutlich zurück,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 06.09.

Christian SIEDENBIEDEL blickt mit seiner einseitig neoliberalen Brille auf den Global Retirement Index 2018 des französischen Vermögensverwalter Natixia Investment, der sich aus einer Vielzahl von Statistiken einen Index zusammengebastelt hat, der den eigenen Geschäftsinteressen dient. SIEDENBIEDEL greift sich aus den 18 Variablen, die auf 4 Dimensionen verteilt wurden, um daraus einen Gesamtindex zu erstellen, dessen Aussagekraft zweifelhaft ist.

SIEDENBIEDEL greift sich den Altersquotienten heraus, um die angeblichen demografischen Probleme von Deutschland herauszustreichen:

"Mit 32,5 Prozent weist Deutschland in dieser Kategorie zum zweiten Mail in Folge den fünftschlechtesten Wert aller untersuchten Länder auf",

zitiert SIEDENBIEDEL einen Befund der Studie, der aus dem Zusammenhang gerissen, das Gegenteil dessen zeigt, was in der Studie tatsächlich als Problem dargestellt wird. Dort werden nämlich jene Länder aufgelistet, die zwischen 2016 und 2015 die höchste Steigerung des Altenquotienten aufweisen. Deutschland fehlt darunter, stattdessen steht China mit 30 % Steigerung an der Spitze, gefolgt von Japan mit 27,3 %. Danach kommt Brasilien (24,9 %) und die Schweiz mit 22,8 Prozent (vgl. Grafik S.11). Auch eine Publikation der US-Statistikbehörde sieht Deutschland nicht unter den Ländern mit dem größten Alterungsproblem. 

COULMAS, Florian (2018): Einwanderungsland Japan.
Gastkommentar: Schleichende Immigration,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 27.09.

KÖLLING, Martin (2018): Tokios Innenstadt vibriert.
Japan: Die bevorstehenden Olympischen Spielen wirken wie ein Katalysator auf die Stadtentwicklung der japanischen Hauptstadt. Der Immobilienmarkt läuft heiß,
in:
Handelsblatt v. 28.09.

Es ist erstaunlich, dass sich die Klischees über die Auswirkungen von Olympischen Spielen seit der Olympiade 1964 in Tokio unverändert halten. 1970 erschien das Buch Der unterschätzte Gigant von Robert GUILLAIN. Darin werden die Impulse auf die Stadtentwicklung Tokios folgendermaßen beschrieben:

"Shinyuku, ein belebtes und bekanntes Viertel, Treffpunkt der Jeunesse dorée und der - weniger wohlhabenden - Intellektuellen, ist für die Umgestaltung Tokios ein treffendes Beispiel. Bis vor wenigen Jahren bestand es größtenteils aus einem unheimlichen Gewirr von verfallenden Gemäuern, hier und a von einer Reihe Kneipen aufgeheitert, in denen man einen phantastischen Sake trinken und am Spieß gebratenes Geflügel essen konnte. Heute ist Shinyuku ein hochmodernes Viertel, das durchaus mit Marunuchi konkurrieren kann, dem großartigen Geschäftszentrum im Herzen der Stadt." (1970, S.10)

COULMAS, Florian (2018): Die Jahre, die es niemals geben wird.
Gastkommentar: Japan vor einer Zeitenwende,
in:
Neue Zürcher Zeitung v. 19.10.

STOCKER, Frank (2018): Japan kämpft gegen den Fachkräftemangel.
Nirgends ist die Alterung der Gesellschaft so fortgeschritten wie hier, zugleich hält das Land die Grenzen für Zuwanderer fest geschlossen. Jetzt wagt Tokio die Wende,
in:
Welt v. 22.10.

2019

JPZ/DPA/AP (2019): Japaner mit 113 Jahren gestorben.
Laut Guinness-Buch ältester Mann der Welt: Masazo Nonaka galt als ältester Mann der Welt. Nun ist er gestorben - er sei friedlich entschlafen, teilte seine Familie mit,
in: Spiegel Online
v. 20.01.

 
       
   
1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999
2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009
2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019
 
       
   

weiterführender Link

 
       
   

Übersicht - Themen des Monats

 
       
   
 
   

Bitte beachten Sie:
single-generation.de ist nicht verantwortlich für die Inhalte externer Internetseiten

 
   
 
   

 [ Übersicht der Themen des Monats ] [ Rezensionen ] [ Homepage ]

 
   
 
   
© 2002-2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt am: 13. Januar 2002
Update: 23. Januar 2019