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Vorbemerkung
Urbanität gilt in der Wissenschaft seit langem als
Leitbild und spätestens seit neoliberale Standortortpolitik und
Identitätspolitik eine Liaison eingegangen sind, wurde der
ländliche Raum abgeschrieben. Die Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme hat dazu beigetragen, dass die
Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse kein Wert mehr ist,
sondern das angeblich Alternativlose wurde auch noch politisch
gefördert. Seit jedoch der Rechtspopulismus den neoliberalen
Konsens gefährdet, wurde auch in Deutschland der ländliche Raum
als Möglichkeit zur politischen Profilierung entdeckt. Die
kommentierte Bibliothek soll einen Überblick über diese Debatte
ermöglichen.
Kommentierte Bibliografie (Teil 8: 2020)
2020
BURGHARDT, Peter (2020):
Sperrbezirk.
Mecklenburg-Vorpommern: Ein Investor will seit Langem auf der
Halbinsel Wustrow ein Ferienressort bauen. Die Anwohner wollen
ihre Ruhe. Über einen Kampf, den bisher die Natur gewinnt,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 13.01.
PORSCHE, Lars/STEINFÜHRER, Annett/SONDERMANN, Martin
(Hrsg.)(2019)Kleinstadtforschung in Deutschland. Stand,
Perspektiven und Empfehlungen, Arbeitsberichte 28 der ARL
(27.01.2020)
"Eine Kleinstadt ist (...) eine
Gemeinde eines Gemeindeverbandes oder einer Einheitsgemeinde mit
5.000 bis unter 20.000 Einwohnern oder mindestens grundzentraler
Bedeutung mit Teilfunktionen eines Mittelzentrums. Mit dieser
breiten Grundgesamtheit soll gewährleistet werden, dass keine
möglicherweise für die Entwicklung oder Versorgung ländlicher Räume
bedeutenden Städte oder Gemeinden vernachlässigt werden, so z. B. in
den Ländern Rheinland- Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern oder
Brandenburg", (S.6)
definieren
PORSCHE/STEINFÜHRER/SONDERMANN die Kleinstadt. Die Landgemeinde
ergibt sich dann in Abgrenzung zur Kleinstadt:
"Trifft keine der Bedingungen für
Kleinstädte auf den Gemeindeverband bzw. die Einheitsgemeinde zu,
dann handelt es sich um eine Landgemeinde." (S.6)
Die folgende Tabelle gibt die
Kleinstadtstruktur der Bundesländer Ende 2017 wieder:
Tabelle:
Kleinstadtstruktur der Bundesländer Ende 2017 |
Rang |
Bundesländer |
Anzahl |
Anteil aller
Kommunen |
Bevölkerungs-
anteil |
Bevölkerung
(Min./Max) |
1 |
Bayern |
498 |
34,9 % |
35,6 % |
3.423 - 19.858 |
2 |
Baden-Württemberg |
303 |
65,6 % |
38,5 % |
5.062 - 33.809 |
3 |
Hessen |
247 |
57,4 % |
39,8 % |
5.004 - 19.647 |
4 |
Niedersachsen |
239 |
55,5 % |
37,1 % |
5.118 - 29.408 |
5 |
Nordrhein-Westfalen |
183 |
46,2 % |
13,0 % |
5.012 - 19.855 |
6 |
Sachsen |
136 |
43,7 % |
32,5 % |
2.595 - 20.059 |
7 |
Rheinland-Pfalz |
104 |
55,3 % |
45,4 % |
7.660 - 41.530 |
8 |
Brandenburg |
96 |
48,0 % |
40,6 % |
5.321 - 19.110 |
9 |
Sachsen-Anhalt |
79 |
64,8 % |
35,9 % |
5.346 - 19.807 |
10 |
Schleswig-Holstein |
77 |
45,3 % |
36,6 % |
4.986 - 39.747 |
11 |
Thüringen |
59 |
26,9 % |
24,4 % |
3.363 - 19.265 |
12 |
Mecklenburg-Vorpommern |
43 |
37,1 % |
29,7 % |
5.311 - 20.495 |
13 |
Saarland |
42 |
80,8 % |
52,1 % |
6.023 - 18.977 |
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Quelle:
Kleinstadtforschung in Deutschland, S.9 |
Die Tabelle zeigt, dass es in
Deutschland große Unterschiede hinsichtlich der Bedeutung von
Kleinstädten gibt. Es gibt hier jedoch Ungereimtheiten, was am
Beispiel Mecklenburg-Vorpommern ersichtlich ist.
Die
Bevölkerungsstatistik für Mecklenburg-Vorpommern gibt für 2017
43 Städte mit 5.000 - 20.000 Einwohnern an. 5.311 Einwohner hatte
die Stadt Binz. Eine Stadt mit 20.495 Einwohner gibt es dagegen
nicht. Drei Gemeinden hatten gemäß Statistischem Landesamt mehr als
5.000, aber weniger als 5.311 Einwohner (Sundhagen: 5.135; Zarrentin
am Schaalsee:
5.198; Lüdersdorf: 5.309). Für Mecklenburg-Vorpommern lassen sich
die Zahlen also nicht nachvollziehen. Auch eine
Excel-Datei des BBSR, die als Quelle angegeben wird, ergibt
keinen Treffer. Sundhagen, Zarrentin und Lüdersdorf werden als
Kleine Kleinstadt typisiert, fehlen jedoch in der Tabelle von
PORSCHE/STEINFÜHRER/SONDERMANN.
Gemäß BBSR wird das
Amt Bergen auf Rügen mit 20.495 Einwohnern als größte Kleinstadt
in Mecklenburg-Vorpommern gezählt. Die drei Gemeinden Sundhagen,
Zarrentin am Schaalsee und Lüdersdorf werden entsprechend ebenfalls
mit den Einwohnerzahlen des jeweiligen
Amtes gezählt (Miltzow,
Zarrentin und
Schönberger Land).
STEEGER, Gesa (2020): Letzte Ausfahrt Polen.
Eine Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern kämpft um ihre
Schule und um ihr Bestehen. Soll man Orte wie Penkun fördern
oder aufgeben? Während darüber noch gestritten wird, machen die
Penkuner einfach weiter,
in:
TAZ v. 08.02.
DRIBBUSCH, Barbara (2020): Kleinstadt als Chance.
Debatte: Die Verklärung der Millionenstädte als "the place to
be" ist veraltet. "Glokalisierung" in kleineren Städten ist ein
Zukunftstrend,
in:
TAZ v. 14.02.
Barbara DRIBBUSCH steht für die
Arroganz des kosmopolitischen Milieus, das alle Gemeinden
außerhalb der größten Großstädte als Peripherie betrachtet, die
sich gefälligst in ihrer Lebensweise dem urbanen Kosmopolitismus
anpassen soll. "Urbane Dörfer" heißt die Lösung, wenngleich
DRIBBUSCH nur Mittelstädte wie Eberswalde in Brandenburg oder
Görlitz in Sachsen als Beispiele nennt:
"Eberswalde (...). Die
40.000-Einwohner-Stadt im Umland von Berlin (...) gehört zu den
sogenannten Mittelstädten (...). Die Bedeutung dieser Städte
nimmt zu, auch weil sie zur Entlastung der überhitzten
Wohnungsmärkte vieler Großstädte beitragen. So steht es in einer
Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung
(...).
Görlitz (...) in Sachsen an der polnischen Grenze. Die 56.000
Einwohner-Stadt mit schöner Altstadtarchitektur bieten einen
Monat mietfreies »Probewohnen« an. 54 Haushalte mit Zugereisten
nahmen bisher daran teil, darunter KünstlerInnen, Autorinnen,
IT-Entwickler. Nur fünf Haushalte blieben.
Die Afd ist hier sehr stark. In einer Kleinstadt zu leben, in
der ein Klima der Enge, der Rückständigkeit herrscht, macht
einen Ort unattraktiv. Dabei wäre eine kleinere Stadt eigentlich
der richtige Ort für Individualisierung (...) sagt Stadtforscher
Robert Knippschild aus Görlitz, der sich mit der Entwicklung
von Mittelstädten in peripheren Lagen beschäftigt."
Robert KNIPPSCHILD gehört zu
einer Autorengruppe, die sich mit dem
strategischen Rückzug aus peripheren Ortsteilen mit hohem
Leerstand beschäftigt haben (MORO Informationen 6/2019).
Dabei geht es um das Absiedeln von Ortsteilen, das gegenwärtig
bei Interessen des Tagebaus oder des Hochwasserschutzes
angewendet wird. Dieses Instrument soll nun auch aus
"demografischen Gründen" angewendet werden, z.B. bei folgenden
Voraussetzungen:
"•
Anwender wären Gemeinden im
strukturschwachen ländlichen Raum, deren Gesamtsituation vor
allem vom planerisch-politischen Ziel einer Stabilisierung
geprägt ist, d. h. bei denen Wachstumsthemen nahezu keine Rolle
spielen.
• In der Gemeinde gibt es einen sehr kleinen Ortsteil („Weiler“
mit maximal noch 30 Einwohnerinnen und Einwohner) mit
erheblichem Leerstand, schleichenden Verfallsprozessen,
rückgehender Einwohnerzahl und hohem Handlungsdruck bei der
Erneuerung der technischen Infrastrukturen (Straße,
Kanalisation, Trinkwasser, ggf. Brücken)." (S.24)
Die Teilnehmer des Planspiels
gehen davon aus, dass Absiedlungen bis 2030 Deutschland
notwendig werden könnten. Solche Aspekte bleiben bei DRIBBUSCH
unberücksichtigt. KNIPPSCHILD hat sich aber auch mit den Chancen
von Mittelstädten (statt von Kleinstädten!) am Beispiel von
Görlitz beschäftigt (z.B.
"Stadt auf Probe. Wohnen und Arbeiten in Görlitz")
Colin ELLARD ("Psychogeografie")
gilt ihr stattdessen als Guru jener, die im Internet die Chance
zur Urbanisierung des ländlichen Raumes sehen.
"Sind offene Leute da,
vielleicht eine Hofgemeinschaft, ein Kulturzentrum, vielleicht
ein soziales Projekt, dann wirkt die kleine Stadt für Zuzügler
sofort attraktiver (...). Das Ideal ist die Kleinstadt, in der
Einwohnerinitiativen zum Beispiel Geflüchtete vor Ort
unterstützen und damit gewissermaßen
»Weltstadt« spielen",
erklärt uns DRIBBUSCH, die "Glokalisierung"
zum Allheilmittel stilisiert. Ein Begriff, der bei uns im
Dunstkreis von Ulrich BECKs Weltgesellschaftsphantasien in den
1990er Jahren popularisiert wurde.
KROHN, Philipp (2020): Abgehängt?
Das Dorf Finsternthal liegt in den Hügeln des Hintertaunus.
Schützenverein und Posaunenchor waren das Rückgrat der
Gesellschaft. Ein Beispiel für den Verfall will man nicht sein,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.02.
Philipp KROHN präsentiert uns
mit
Finsternthal einen Ortsteil, der seit den 1970er Jahren zur
Gemeinde
Weilrod im südhessischen Hochtaunuskreis gehört. Die
Gemeinde entspricht nicht dem, was üblicherweise gemäß den
demografischen Indikatoren als "abgehängte Region" bezeichnet
wird, weshalb die Schlagzeile "Abgehängt?" eine rein
rhetorische, aber keine echte Frage beinhaltet.
KROHN nennt die Gemeinde als
zersiedelt:
"6.800 Einwohner verteilen
sich auf 72 Quadratkilometer, die Fläche einer kleinen
Großstadt."
Zersiedelt bezieht sich
jedoch eher auf die Gemeindereform, aber nicht auf die
Siedlungsform, denn Finsternthal gehört mit 50 Einwohner pro
Quadratmeter nicht zu den Gemeinden mit der geringsten
Bevölkerungsdichte. Die Gemeinde Weilrod mit 91 Einwohnern pro
Quadratmetern gehört erst Recht nicht in diese Kategorie. Warum
also hat KROHN nicht ein typisches Dorf präsentiert?
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