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Berlin in
Zitaten
1927
"Als das
Statistische Reichsamt im Jahre 1927 eine reichsweite
Wohnungszählung durchführte, betrug der Anteil der von Ledigen
bewohnten Einpersonenhaushalte in den Großstädten bereits 37,5
%, in Berlin sogar 41,2 %. Damit erreichte die
Reichshauptstadt schon in der Zwischenkriegszeit Werte, die
in der Bundesrepublik in den 90er Jahren Gültigkeit hat. Rund
70 % dieser Ledigen-Haushalte entfielen auf Frauen."
(aus: Peter Borscheid "Von Jungfern,
Hagestolzen und Singles", 1994, S.46f.)
1968
"Ich erfuhr und lebte,
indem ich las, gleichzeitig ein ganz anderes Jahr 1968 als
das, in das ich täglich eingespannt war. Es war ein Jahr, das
sich in demselben Staat ereignete, der mich zum Militärdienst
eingezogen hatte, und doch waren die Wellen, die diese
Ereignisse schlugen, immer schon lange verebbt, ehe sie den
Jadebusen erreicht hatten. Nur Zeitungen und Bücher
berichteten davon und die Briefe, die mir der Pinguin aus
Berlin schrieb. Die Identität, die das Lesen war, war eine
unruhige Identität. Ich war dabei, bei dem was passierte, aber
ich konnte nicht teilnehmen. Ich war dabei, aber man sah mich
nicht, und darunter, daß ich dabei war und doch nicht dabei
sein konnte, litt ich."
(aus: Jochen Schimmang "Schöner Vogel Phönix", 1979)
1969
"Ich fuhr meinem Traum
entgegen: Berlin.
Zugleich entfernte ich mich während dieser Fahrt von einem
anderen Traum (...).
Der Zug fuhr (...) bis Bahnhof Zoo, und zum erstenmal hatte
ich während dieser Strecke jenes hochgradig beunruhigende,
flaue Gefühl im Magen, das mich künftig bei jeder Einfahrt
nach Westberlin begleiten sollte, »jenes
leichte Ekelgefühl vor der Zukunft, das man Unruhe nennt«. Das
Gefühl verließ mich auch in der U-Bahn nicht
(...).
Ich war müde, aber ich hatte Angst, gleich jetzt mein
möbliertes Zimmer in Steglitz aufzusuchen, mich allein
wiederzufinden in dieser Stadt, in der ich außer dem Pinguin
und Pappler noch niemanden kannte."
(aus: Jochen Schimmang "Schöner Vogel
Phönix", 1979)
1974
"Als ich
vor über fünf Jahren nach Berlin kam, war ich noch
gewissermaßen Teil eines Aufbruchs, einer Bewegung, die aber
schon beinahe das Stadium ihrer Ebbe erreicht hatte. Woran ich
aktiv teilnahm, zum Teil unter großer Kraftanstrengung und
unter Aufbietung aller verfügbaren Irrtümer, war allein die
Ebbe, auch wenn ich sie lange Zeit für die Flut hielt. Es ist
nicht gesagt, daß noch einmal eine neue Flut kommt. Natürlich
hoffen wir alle darauf, und mancher sieht in jedem kleinen
Aufflackern gleich den Beginn einer neuen Bewegung (...). Aber
in Wahrheit versuchen wir vor allem zu überwintern und der
Winter kann ewig dauern. (Noch immer) Berlin, im September
1974."
(aus: Jochen Schimmang "Schöner Vogel
Phönix", 1979)
1981
"Frühjahr
1981 (...) Ein Mythos war geboren, zu dem drei heiße Sommer
lang tout Berlin hinpilgerte (...) Es ist die Zeit,
von der Bodo Morshäuser in seinem Roman »Berliner Simulation«
seinen Helden sagen läßt: »In diesen Tagen Schöneberg zu
verlassen, das wäre, wie nach Oldenburg zu fahren«."
(aus:
Sighard Neckel "Die Macht der Unterscheidung", 2000, S.148f.)
"Mal sehn, was im
Dschungel läuft,
Musik ist heiß, das Neonlicht strahlt.
Irgendjemand hat mir 'nen Gin bezahlt,
die Tanzfläche kocht, hier trifft sich die Scene,
ich fühl' mich gut, ich steh' auf Berlin!"
(Ideal: "Ich steh auf Berlin")
1989
"Lange
bevor Techno durch die Medien geisterte, hatte die Szene
begonnen, ihr Selbstbild zu formen. (...). Motor der
Selbststilisierung war Frontpage, das 1989 mit einer
Auflage von 5000 Exemplaren von Frankfurt aus seine
bundesweite Blitzkarriere startete. (...). Schon im August
1989 erschien das Heft monatlich als ein eigenständiges
Magazin, die Auflage erhöhte sich rasant, die Redaktion zog
nach Berlin. 1995 ging Frontpage mit einer Auflage von
100 000 Exemplaren an die Kioske, um zwei Jahre später Konkurs
anzumelden. Bis dahin aber scheint das Mediengeschäft rund um
Techno floriert zu haben."
(aus: Gabriele Klein "electronic vibration",
1999, S.35f.)
1999
"Am Ende sind wir
betrunken und allein
Und nur die stumpfen Sterne leuchten uns heim
Aber wir sind nie sentimental
Es war ok, es war ja unsere Wahl
(Britta: "Ex und Pop", 1999)
"Du lächelst
Ich bin glücklich
Wir haben viel vor
Berlin liebt Dich"
(Surrogat: "Berlin liebt Dich", 2000)
"Ein Jahrzehnt nach dem
Hauptstadtbeschluss besteht jedenfalls kein Zweifel, dass
Berlin trotz Potsdamer Platz keine Global City mit weltweiten
Kommandofunktionen und trotz »Russendisko« keine
Drehscheibe zwischen New York und Riga ist.
(...).
Einzig im Bereich der unternehmensnahen Dienstleistungen, die
als Wachstumsindikator einer metropolitanen
Dienstleistungsökonomie gelten, erweist sich Berlin gemessen
an Köln, München oder Stuttgart als »Hauptstadt der
Putzkolonnen und Sicherheitsdienste«."
(Heinz Bude in der Frankfurter Rundschau v.
21.03.2001)
2003
"Im Szenebezirk ist der Babyboom ausgebrochen. Der Eindruck trügt
nicht, denn die Statistik verzeichnet für den Stadtteil 22,5
Prozent mehr Kinder unter drei Jahren als noch vor vier
Jahren"
(aus: Elisabeth Schwiontek "Abenteuer Kind" in zitty Nr.10
v. 05.05.2003)
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Berlin, die Hauptstadt der Singles?
Eine
erste Annäherung: Die Veränderungen der Einwohnerzahlen
(1950-2002)
Die Einwohnerzahl von Berlin ist heute
um ca. 50. 000 Einwohner höher als im Jahr 1950. Die Stabilität dieser beiden Zahlen
täuscht jedoch darüber hinweg, dass Berlin innerhalb dieser
50 Jahre eine bewegte Geschichte hatte. Die Teilung der Stadt, die besondere
Lage und die Wiedervereinigung hat das Gesicht der Stadt
verändert.
Nimmt man Westberlin, dann hat
diese Stadt in den 20 Jahren zwischen 1964 und 1984 ca. 350
000 Einwohner (über 15 %) verloren, die es in den 8 Jahren
zwischen 1985 und 1993 bis auf 25 000 Einwohner wieder
hinzugewonnen hat. Die größten Veränderungen
erlebte Westberlin in den 70er und in den 80er Jahren.
1970/71 und 1974/75 verlor Westberlin jeweils 40 000
Einwohner. Dem stehen rasante Zuwächse in den
Jahren 1987/88 (+ 56 000) und 1988/89 (+ 62 000) gegenüber.
Betrachtet man Ost- und Westberlin
zusammen, dann verlor Berlin von 1974 bis 1976 ca. 60
000 Einwohner, gewann aber allein in den Jahren 1986/87 ca.
158 000 Einwohner hinzu.
Dagegen sieht der Hauptstadtboom
der 90er Jahre geradezu läppisch aus. Gerade 23 000
Einwohner gewann Westberlin in den Jahren 1996/97 hinzu. Die New Economy
veränderte Berlin noch weniger. Ende 1998 lebten 3 398 822 Menschen
in Berlin, Ende 2001 waren es 3 388 434.
Eine
zweite Annäherung: Die Veränderungen unterhalb der
Einwohnerzahlen
Natürlich sagt die Größe einer Stadt
nicht alles aus über ihren Wandel aus. Ziehen 100 000 Menschen weg und kommen
im gleichen Zeitraum 100 000 Menschen hinzu, dann hat sich
in der Einwohnerstatistik nichts getan, aber die Stadt hat
sich durch diesen Austausch verändert. Im Jahr 2000 sind so z.B. 123 154
Menschen nach Berlin zugezogen, aber 124 012 Menschen
weggezogen. Einzig im Jahr 2001 war der
Wanderungssaldo seit 1995 wieder positiv. Es kamen ca.
10 500 Menschen mehr als wegzogen.
Aber auch der Wanderungssaldo sagt
nicht alles aus. Kommen die Menschen von weit her, oder nur
aus dem Umland, ziehen sie ganz weg, oder nur in den
Speckgürtel des Umlands?
Betrachtet man die Zuzüge im
Zeitraum 1991 bis 2001, dann hat Berlin seine
Attraktivität für Ausländer drastisch verringert. Zogen
1993 noch 71 109 direkt aus dem Ausland zu, so sind es im
Jahr 2001 nur noch 45 782. Auch auf die alten
Bundesländer war die Attraktivität Berlins
nicht besonders groß.
Zogen 1993 32 539 Menschen zu, so waren es 2001 mit 44 334
zwar ca. 40 % mehr, aber aus den neuen Bundesländer
kamen 2001 fast doppelt so viele Menschen wie im Jahr 1993.
Betrachtet
man die Fortzüge, dann waren 1997/98 die
schlechtesten Jahre für Berlin. Jeweils über 139 000
Menschen kehrten der Stadt den Rücken. Zirka 50 000 Menschen
zogen ins Ausland, ca. 35 000 verließen Berlin Richtung alte
Bundesländer und ca. 40 000 zogen in die Speckgürtel in den
neuen Bundesländern.
Auch
hier lässt sich also weder von einem Hauptstadt-Boom, noch
von einem New-Economy-Boom viel spüren. Die
viel beschworene Neue Mitte ist quantitativ gesehen eine
unsichtbare Kategorie, die sich wohl am ehesten an den
Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt bemerkbar macht.
Eine
dritte Annäherung: Die Veränderung der Haushaltszahlen
Die Frage nach der Hauptstadt der
Singles wird in den Medien gewöhnlich mit einem Verweis
auf den Anstieg und die hohe Zahl der
Einpersonenhaushalte begonnen. Das sagt zwar viel über diejenigen
aus, die dies tun, aber es hilft jenen wenig, die etwas über
so unterschiedliche Personengruppen wie Partnerlose,
Partnersuchende, Einsame, Alleinwohnende, Alleinesser,
Kinderlose, Unglückliche, Bindungsunfähige, Hedonisten usw.
erfahren möchten
. Noch weniger hilft diese Annäherung
den Betroffenen selbst. Die einzigen Profiteure
dieser Verwendungsweise sind die Sozialpopulisten. Nachdem die Unbrauchbarkeit dieser
Kategorie geklärt ist, soll dennoch kurz auf diesen
Indikator eingegangen werden, denn Politik und
Wissenschaft haben bisher verhindert, dass brauchbarere
Indikatoren bei amtlichen Statistiken verfügbar sind.
Berlin ist nicht einmal die Hauptstadt
der Singles, wenn man die Einpersonenhaushalte in
Deutschland als Maßstab verwendet.
Der
Focus hat am
25. März 2002 die Top-Ten der "Single"-Städte
veröffentlicht. An der Spitze liegt demnach München mit 51,8
% Einpersonenhaushalte. Danach folgt Hannover (51,2 %) und
Frankfurt mit 50,6 %. Berlin
hat nur ca. 49 % Einpersonenhaushalte. Der Anteil der
"Singles" liegt jedoch bei nicht einmal 27 %, wenn man den
Anteil von Alleinlebenden an der Einwohnerzahl von Berlin
misst.
Die Avantgarde der
Single-Generation
Im Jahr 1969 fährt der
junge Murnau - der Protagonist des Romans Der schöne
Vogel Phönix von Jochen SCHIMMANG - nach Berlin. Er hat gerade seinen Wehrdienst im
ländlichen Norddeutschland absolviert
und möchte nun in Berlin studieren. Die Ereignisse im Jahr
1968 haben die Attraktivität Berlins für junge Gymnasiasten
der Bonner Republik erhöht. Als Avantgarde
der Single-Generation
beschreibt Murnau das damalige Berlin folgendermaßen:
Der schöne
Vogel Phönix
"Die Stadt
ist eingeschlossen, hört an ihren Grenzen abrupt auf,
übergangslos. Sie kann sich nicht mehr ausweiten. Sie sammelt
die Schwerkraft in sich und weiß nicht wohin damit.
Ja, und dann die alten Leute, überall, in der U-Bahn, in den
Cafés, in den Bussen, in den einzelnen Vierteln, ganz massiert
in Friedenau und Steglitz, meiner ersten genaueren
Bekanntschaft mit Berlin: die sterbende Stadt und ihre
sterbenden Bewohner"
(1979) |
Als Murnau Ende der 1960er Jahre nach
Berlin kam, da fehlte noch jene Infrastruktur, die
heutzutage selbstverständlich ist. Die damaligen, postpubertären Singles
waren meist auf das universitäre Ghetto "Schlachtensee"
zurückgeworfen:
Der schöne
Vogel Phönix
"mir
standen zwölf Quadratmeter zur Verfügung.
Den etwa sechshundert anderen Bewohnern dieses Dorfes ging
es nicht anders. Unter ihnen waren auch Liebespaare, die
sich diese zwölf Quadratmeter teilten. Immerhin gab es in
jedem Stockwerk der einzelnen Häuser Duschen und eine
Gemeinschaftsküche. All diese Höhlenbewohner kamen kaum
umhin, Kontakt miteinander aufzunehmen, sich kennenzulernen,
und genau das war es, was ich wollte.
Schließlich gab es zwischen den Häusern auch einige
Rasenflächen, auf denen man den Spätsommer des Jahre 1969
genießen konnte, dazu eine deprimierende Kneipe namens
»Club«, in der sich abends der harte Kern des Ghettos traf,
der es nicht mehr schaffte, in die Stadt zu fahren: Berlin
war sehr weit weg. (Es gab gerade noch Zehlendorf mit dem
Bali-Kino und den Spätvorstellungen mit Eddie Constantine
und später den Italowestern.)".
(1979) |
Die
Vorform der Single-Party nannte sich damals Fete:
Der schöne
Vogel Phönix
"Mit dem
Frühjahr begann die Zeit der Fêten. Es genügte, am
Samstagmorgen in der Wohngemeinschaft (...) anzurufen, um zu
erfahren, welche Fêten für den Abend in Betracht kamen.
(...). Die sich kannten, klammerten sich am Anfang
aneinander, bis sie genug Sicherheit gewonnen hatten, den
vertrauten Kreis zu verlassen und sich an neue Personen
heranzumachen. (...).
Denn selbstverständlich waren diese Feste vor allem
Menschenmärkte. Konnte zum Beispiel Murnau nirgends auf dem
Fest einen Ruhepunkt finden, kein Gespräch, in dem er sich
verankern konnte, und verließ er die Fête bald wieder (...),
so war es ein erfolgloser Abend gewesen; blieb er länger,
konnte er Fuß fassen, lernte er Menschen kennen, die bis
dahin in seinem Gesichtsfeld noch nicht aufgetaucht waren,
so war ein relativer Erfolg zu verzeichnen; kam es zu einem
Flirt oder zu einer kleinen Knutscherei, unmittelbar
folgenlos, aber doch in einigen Wochen, bei einem zufälligen
Wiedersehen auf einem anderen Fest, wiederaufzunehmen, so
war schon Anlaß gegeben, mit dem Gefühl eines größeren
Erfolges, der den eigenen Marktwert ( um den es letztlich
auf all diesen Festen ging) erhöhte, nach Hause zu gehen.
Der Gipfel des Erfolges war es natürlich, die Nacht (oder
was als Rest davon verblieb) nicht allein verbringen zu
müssen. Dies galt jedenfalls für Murnau und seinesgleichen,
für alle, die wie er sich suchend durch diese Berliner
Abende und Nächte tasteten, ohne deutlich zu wissen, was sie
suchten."
(1979) |
Die
Entstehung der
Single-Infrastruktur
Gehörte Murnau Ende der 1960er
Jahre noch zur überschaubaren "Scene", der ein informelles
Informationssystem reichte, so entstand in den 1970er Jahren
im Zuge der Studentenbewegung mit den Stadtmagazinen
ein neuartiges Publikationsorgan, das über Veranstaltungen
informierte. Im
Januar 1972 wurde in Berlin der Tip gegründet. Diese
"Stadtzeitung" des Kunststudenten Klaus STEMMLER war zu
Beginn eine "sechsseitige Blattsammlung mit
Off-Kino-Programm" (SZ v. 22.06.2002). Bald gab es auch das
Konkurrenzblatt Zitty.
Die
Stadtmagazine halfen bei der Modernisierung des
Partnermarkts mit, indem neben die Heiratsanzeigen die
Kontaktanzeige trat. Der
Soziologe Jo REICHERTZ und die Kommunikationswissenschaftlerin
Sabome POLOTZEK schreiben dazu:
Sex als Objekt
der Begierde
"Ende der
sechziger und Anfang der siebziger Jahre (entwickelte sich)
ein damals meist lokales Printmedium, das vor allem von und
für die Polit-, Sponti-, Alternativ- oder Frauenszene
produziert wurde - das Stadtmagazin.
Es enthielt erstmalig Kontaktanzeigen, also Anzeigen, in
denen die Formulierung »spätere Heirat nicht ausgeschlossen«
völlig out war. Stattdessen suchten die Inserenten und
Inserentinnen in den Siebzigern (alles fanatische
Individualisten) mit Hilfe von paradoxer Sprüche,
literarischer »Perlen« und authentischer Ich-Botschaften
Zeitgenossen, die bereit und willens waren, sich auf
zeitlich begrenzte Beziehungsepisoden einzulassen."
(medien + praktisch, Heft4, 1994) |
Die
bürgerlichen Medien öffneten sich nach POLOTZEK & REICHERTZ
erst Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre den
Kontaktanzeigen.
Auch die Kneipenkultur wandelte sich. Die
Studentenbewegung bzw. die Alternativszene brachte auch
die sog. Szenekneipe hervor. War die traditionelle
Quartierskneipe der Arbeiterschicht eine Männersache, so
zogen mit dem Aufkommen der Szenekneipen die Frauen in die
männliche Domäne Kneipe ein. Begriffe
wie "Abschleppkneipe" oder "Aufreißkneipe" verweisen
darauf, dass kneipenaufsuchende Frauen Anfang der 1970er Jahre
noch der Norm widersprachen (DRÖGE & KRÄMER-BADONI "Die
Kneipe", 1987).
Die
Single-Party jenseits der Ball der einsamen Herzen-Etablissements, hielt erst Anfang der
1990er Jahre
Einzug in Deutschland. Vorreiter spielte hier das
Frankfurter Journal, während in Berlin das Stadtmagazin
Tip erst 1994 die erste Fisch-sucht-Fahrrad-Party
veranstaltete. Mittlerweile
gibt es in jeder größeren Stadt eine ausdifferenzierte
Single-Infrastruktur. Ständig kommen neue Angebote hinzu. Neben
den Stadtmagazinen ist mittlerweile das Internet zu
einem wichtigen Informations- und Kontaktmedium für Singles
geworden.
Die
Yuppisierung Berlins
Mit der
Punk- und Hausbesetzerszene geriet Kreuzberg Anfang der 1980er
Jahre in den Blickpunkt. Im Zuge der Mythologisierung wurde
der Stadtteil und speziell SO 36 zur Attraktion
postpubertärer Studenten. Susanne
MISCHKE beschreibt im Roman Stadtluft mit Eva Lorenzo
eine 25jährige Single-Frau, die sich von Berlin angezogen
fühlt und deshalb Mitte der 1980er Jahre aus der Rosenheimer
Provinz nach Berlin zieht:
Stadtluft
"Elisabeth und ich zogen uns um, dann saßen wir alle in der
Küche und studierten den Stadtplan. Ingo bemerkte lapidar,
die mir angebotene Wohnung läge am »Arsch der Welt«, im
hintersten Kreuzberg, direkt an der Mauer.
»In so'ner Gegend wohnt man nicht. Nur Punks und Türken
wohnen da!« Ingo verachtete tief und ausnahmslos jeden, der
kein »New Romantic« war, besonders seine Mutter mit ihren
Flower-Power-Ansichten und -Klamotten.
»Quatsch, das ist im SO 36, da geht die Post ab, sag ich
dir!« Für Elisabeth erstrahlte Kreuzberg noch immer im
verklärten Glanz und Gloria der 68er Jahre."
( 1994) |
Im Essay
Politik der Lebensstile (1990; 2000) beschreibt der
Soziologe Sighard NECKEL die Veränderung in Kreuzberg und
Schöneberg mit dem Nollendorf- und dem Winterfeldplatz. Kneipen
wie die Ruine, der Dschungel, Slumberland,
das Café Mitropa sind zu Kristallisationspunkten spezieller
Jugendszenen geworden, die sich Mitte der 80er Jahre gegen
Neuankömmlinge abgrenzen, die als Yuppies beschimpft
werden. NECKEL
beschreibt diese Eindringlinge folgendermaßen:
Die Politik der
Lebensstile
"Was
bedeutet es nun, in Schöneberg ein sogenannter Yuppie zu
sein? Wichtigste Voraussetzung ist eigentlich ein anderswo
ganz selbstverständlich geltender Tatbestand: eine halbwegs
sichere Beschäftigung in den formell geregelten Sektoren des
Arbeitsmarktes, die ein festes, kalkulierbares und
kreditwürdiges Einkommen mit einem gewissen konsumptiven
Überschuß und der Teilhabe an wohlfahrtsstaatlichen
Leistungen garantiert. Der staatliche Bereich des tertiären
Sektors dominiert eindeutig den oberen Winterfeldplatz,
durchmischt mit den modernen Dienstleistern."
(aus: Die Macht der Unterscheidung
2000, S.152) |
Andernorts wird Yuppie knapp mit Young Urban Professionals
übersetzt. Die
Ausführlichkeit von NECKEL ist der Tatsache geschuldet, dass
sich hier zwei Lebensstile feindselig gegenüberstehen, was
einer längeren Erklärung bedarf. Die entscheidende Charakterisierung der Yuppies, die ihre
Ablehnung rechtfertigt, wird von NECKEL so formuliert:
Die Politik der
Lebensstile
"Was
allerdings auffällt, ist, daß all diese Fraktionen der neuen
Mittelschicht ihr leidlich sicheres Einkommen nicht dazu
nutzen, es anderen als sich selbst zugute kommen zu lassen.
Nach Tiergarten hat Schöneberg mit 58,9 Prozent den
zweitgrößten Anteil von Einpersonenhaushalten in ganz Berlin
und nach Kreuzberg mit 45,5 Prozent den zweithöchsten Anteil
von Personen, die als Familienstand »ledig« angeben.
Gleichzeitig ist Schöneberg ebenfalls wieder nach Kreuzberg
und Tiergarten derjenige Berliner Bezirk, in der die Gruppe
der 20- bis 40jährigen mit einem Anteil von knapp 38 Prozent
der bezirklichen Gesamtbevölkerung am stärksten vertreten
ist. Alle diese Tendenzen sind in Schöneberg-Nord besonders
stark ausgeprägt, wo - zumindest in der deutschen
Bevölkerung - die Lebensform der Familie eindeutig in der
Minderheit ist."
(aus:
Die Macht der Unterscheidung 2000, S.152f.) |
Was hier
nicht deutlich wird, das ist die Tatsache, dass sich die
beiden feindlichen Lebensstile der postpubertären
Quartiersverteidiger und der Yuppies sowohl in der
Haushaltsform, der Altersgruppe als auch im Familienstand
ähnlich sind, jedoch in den Einkommensverhältnissen
unterscheiden. Den
Yuppie-Treff Café Sydney bezeichnet NECKEL als "steingewordene
Niederlage der Hausbesetzerbewegung". Vor
kurzem lief im Kino der Hausbesetzerfilm Was tun, wenn's
brennt, der zeigt, dass auch die Hausbesetzerszene
mittlerweile ihre Gewinner und Verlierer kennt
.
Die Politik der
Lebensstile
"Was
allerdings auffällt, ist, daß all diese Fraktionen der neuen
Mittelschicht ihr leidlich sicheres Einkommen nicht dazu
nutzen, es anderen als sich selbst zugute kommen zu lassen.
Nach Tiergarten hat Schöneberg mit 58,9 Prozent den
zweitgrößten Anteil von Einpersonenhaushalten in ganz Berlin
und nach Kreuzberg mit 45,5 Prozent den zweithöchsten Anteil
von Personen, die als Familienstand »ledig« angeben.
Gleichzeitig ist Schöneberg ebenfalls wieder nach Kreuzberg
und Tiergarten derjenige Berliner Bezirk, in der die Gruppe
der 20- bis 40jährigen mit einem Anteil von knapp 38 Prozent
der bezirklichen Gesamtbevölkerung am stärksten vertreten
ist. Alle diese Tendenzen sind in Schöneberg-Nord besonders
stark ausgeprägt, wo - zumindest in der deutschen
Bevölkerung - die Lebensform der Familie eindeutig in der
Minderheit ist."
(aus: Die Macht der Unterscheidung 2000, S.152f.) |
Es
wird nun auch deutlich, warum sich die Veränderungen des
Stadtbildes nicht auf der Ebene von Einwohnerzahlen,
Wanderungssaldos oder stadtweiten Haushaltszahlen sichtbar
machen lassen. Die
Veränderungen sind auf spezielle kleinräumige Quartiere
beschränkt. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die neuen
Lebensstile mit den klassischen Kategorien nicht mehr angemessen beschreiben lassen,
die NECKEL hier verwendet. Der
Strukturbegriff Familienhaushalt, den NECKEL mit
Familie gleichsetzt, ist nur eine Familienphase der
modernen multilokalen Mehrgenerationen-Familie. Wer in
der Statistik als Alleinlebender geführt wird, der ist nicht
unbedingt kinderlos und schon gar nicht lebenslang. Die
amtliche Haushaltsstatistik reicht zur exakten Erfassung der
Kinderlosigkeit nicht aus. Die
Verknüpfung von sozialmoralischen Bewertungen mit
Haushaltsbegriffen ist deshalb das Kennzeichen von
Sozialpopulisten
.
Die
Yetties der New Economy
In den
90er Jahren haben sich die jugendkulturellen Szenen und die
damit verknüpften Lebensstile weiter ausdifferenziert. Mit Techno entstand eine dominierende Jugendkultur, die
bald mit dem Hauptstadt-Boom und der Spaßgesellschaft
in Verbindung gebracht wird
. Die Love Parade wird
Symbol des Hedonismus. Nach
der Wiedervereinigung greift die Yuppisierung auch auf
Ostberliner Wohngebiete wie den Prenzlauer Berg über. Mitte
der 90er Jahre wird auch hierzulande die New Economy
zum geflügelten Wort. Die
Agentur ist einer der Orte dieser schönen neuen Arbeitswelt.
Rainer MERKEL hat in dem Roman Das Jahr der Wunder
(2001) eine Innenansicht dieser Welt nachgeliefert. Yuppies
heißen Ende des Jahrtausends Yetties
und verkörpern das Ideal der
Generation Berlin:
Was ist die Generation Berlin?
"Was sich
in der Vorstellungswelt der »Generation Berlin« herausbildet,
ist der Leitbegriff des »unternehmerischen Einzelnen«, der
sich nicht an vorgegebene Standards hält, sondern eigene
Kombinationen ausprobiert und auf dem Markt anbietet und in
die Gesellschaft einbringt. Das Gefühl von Selbständigkeit und
Selbstverantwortung ist wichtiger als angestrengte
Selbstverwirklichung oder unbekümmerter Selbstgenuss"
(Heinz Bude in der Berliner Republik Nr.1,
1999) |
Berliner
Firmen wie Pixelpark waren beispielhaft für den
Aufstieg und Niedergang der New Economy. Das
Aufkommen des Begriffs
Yettie im Jahr 2000 kündigt
eigentlich schon den Niedergang der New Economy an.
Auf dem Hypeway to Hell
Spätestens im Sommer 2002 ist es auch dem Letzten in der
Generation Golf klar, dass es Schluss mit Lustig ist. Jung,
erfolgreich, entlassen. Die Arbeitslosigkeit erreicht die
Mittelschicht, titelt der Spiegel am 12.08.2002. Der
Absturz der New Economy erreicht auch den Printmarkt. Die
überregionalen Zeitungen von FAZ bis SZ stellen ihre
Hauptstadtseiten ein. Mit den Berliner Seiten der
FAZ wird gleichzeitig der Popjournalismus und die
dazugehörige Literatur zu Grabe getragen
.
Jung, erfolgreich, entlassen
"Innerhalb eines Jahres,
von Juni 2001 bis Juni 2002, stieg die Zahl der arbeitslosen
Werbefachleute in Berlin von gut 10 000 auf über 15 000, die
der Unternehmensberater ohne Job von gut 7000 auf fast 11 000
und die der arbeitslosen Publizisten und Journalisten um fast
2000 auf etwa 7300.
Schon verfassen frisch entlassene Redakteure ergreifende
Sozialreportagen über ihresgleichen
(...).
Schluss mit lustig, die Tristesse allemande hat uns wieder.
Berlin, das kulturelle Großlabor, macht dicht."
(Reinhard Mohr & Silja Schiller im Spiegel
v. 12.08.2002) |
Zeit für Korrekturen am Berlin- und
Singlebild
Jetzt, da
der Berlin-Hype zu Ende ist, und die Provinzler, die diesen
Hype verursacht haben, wieder in die Provinz zurückkehren,
darf Berlin auch wieder zu jener Normalität zurückfinden,
die der Entwicklung der Einwohnerzahlen eigentlich schon die
ganze Zeit angemessen gewesen wäre. Als
Murnau 1969 nach Berlin kam, da erlebte er Berlin als
sterbende Stadt. Tatsächlich jedoch war Murnau Teil jener,
sich ständig erneuernden Jugendbewegung, die Berlin bis ins
neue Jahrtausend das Image einer jungen Stadt verlieh, das
der Bevölkerungswissenschaftler Rainer MÜNZ in einem
Interview der Berliner Zeitung nur zum Teil
bestätigt:
"Die Jungen
werden weniger"
"Das Durchschnittsalter ist etwa so
hoch wie im Rest Deutschlands. Vor der Wende war das mal anders.
Ins alte West-Berlin zogen junge Männer, die sich die Wehrpflicht
ersparen wollten, andere kamen wegen des Lebensgefühls. Und in
Ost-Berlin lebten gerade in Marzahn und Hellersdorf fast nur junge
Familien, die oft aus anderen Teilen der DDR herzogen. Inzwischen
wandern viele Jüngere aus Berlin ab".
(Berliner Zeitung vom 20.01.2003) |
Berlin
muss sich nun den Herausforderungen einer alternden
Gesellschaft genauso stellen wie die ganze Berliner
Republik, denn die meisten Single-Haushalte haben in all den
Jahren die alleinlebenden Witwen geführt
. Nun
ist es endlich Zeit, dies auch zu registrieren.
Und noch etwas wird bislang nicht ausreichend registriert. Murnau
kam nicht als Partnerloser nach Berlin. Er ließ seine große
Liebe hinter sich. Die Liebe auf Distanz
funktionierte jedoch nicht. Murnau wurde zum Partnerlosen
wider Willen. Wenn
der Begriff Individualisierung überhaupt eine
Berechtigung hat, dann ist Murnau das Urbild jenes Singles,
der den Alt-68ern von links bis rechts als Feindbild gilt.
Den einen ist er zu unpolitisch, den anderen zu ungebunden.
Die Single-Lüge - Das Buch zur Debatte
"Unsere
Single-Generation ist gezwungen im statistischen
Untergrund zu leben.
Die
68er-Generation vermisst uns weiterhin nach den
Koordinaten der 1950er Jahre. Unsere Lebensweise wird in
Begriffen von Familienstand und Haushalt eingeordnet, aber
damit fallen wir durch alle Raster.
Diese verkalkte
Republik verweigert uns eine faire Behandlung! Sie
will uns nicht zur Kenntnis nehmen, weil wir ihren Normen
nicht entsprechen. Wir leben in haushaltsübergreifenen
Beziehungen und sind mobil wie keine Generation zuvor."
(2006, S. 113) |
Die Generation Golf konnte sich die Errungenschaften, die
die Single-Generation mit der Single-Infrastruktur in
den 1970er und 1980er Jahren aufgebaut hat, zu eigen
machen. Dies
hat das Leben vor der Familiengründung für viele
erleichtert, die Ursache für den Aufschub der
Familiengründung kann jedoch nicht Singles wie Murnau
angelastet werden, denn bereits Murnau ist das Opfer einer
Akademikerkrise geworden, damals in den 1970er Jahren.
Der
ungebundene Single ist - jenseits der amtlichen Statistik -
oftmals mobil, flexibel und gebunden
. Diesem Tatbestand
sollte in Zukunft stärker Rechnung getragen werden. Der
"Babyboom" im Szenebezirk Prenzlauer Berg ist ein anderes
Berliner Kapitel, das noch geschrieben werden muss.
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