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Kommentierte Bibliografie (Die
Vorgeschichte: 1990 - 2000 )
1990
SPIEGEL
(1990): "Da brennt die Sicherung durch".
Mindestens 500.000 DDR-Bürger werden in diesem Jahr in die
Bundesrepublik übersiedeln, Hunderttausende kommen aus den
Ostblockstaaten. Wer soll die Einwanderer bezahlen? Der Kampf um
Jobs und Wohnungen wird härter; Renten- und
Krankenversicherungen sehen sich enormen Zusatzforderungen
ausgesetzt,
in: Spiegel Nr. 4 v. 22.01.
"Sorgenvoll
werden die Zahlen der Neubürger addiert und hochgerechnet.
Täglich wechseln derzeit bis zu 2.000 Deutsche-Ost nach
Deutschland-West, für das ganze Jahr werden in Bonn mehr als
eine halbe Million Übersiedler nicht mehr ausgeschlossen. Bleibt
die Wirtschaftslage der DDR so trostlos wie im Augenblick,
verschlimmert sie sich gar, so dürfte der Strom der Abwanderer
noch deutlich anschwellen.
Dazu kommen jene, die aus osteuropäischen Staaten und der
Sowjetunion ins vermeintliche Paradies Bundesrepublik umziehen.
Alles zusammen wird das westliche Deutschland in diesem Jahr
durch Aus- und Übersiedler eine Million Bürger dazugewinnen,
mindestens. Bereits 1989 waren es 720 000 Aus- und Übersiedler.
Ängste machen sich breit, daß diejenigen, die nun mühelos die
Grenzen passieren, die Kräfte selbst der reichen Bundesrepublik
überfordern; daß die Sozialsysteme, daß der Wohnungs- und der
Arbeitsmarkt dem Ansturm nicht gewachsen sind; daß Gefahr für
den hart erarbeiteten Wohlstand droht. (...).
Die Aus- und Übersiedler und ihre vermeintliche oder
tatsächliche Bevorzugung bei Arbeit und Wohnung, Rente und
Krankheitskosten - dieses Thema droht zu einem Hit des
Wahlkampfjahres 1990 in der Bundesrepublik zu werden",
meint der
Spiegel und zählt eine Reihe von Möglichkeiten des
"Sozialmissbrauchs" auf, die DDR-Bürgern offen stehen.
SPIEGEL
(1990): "Bald brennt hier die Luft".
Viele DDR-Bürger leiden unter den schlechten Manieren von
Touristen aus der Bundesrepublik,
in: Spiegel Nr. 12 v. 19.03.
SPIEGEL
(1990): "Das halten wir nicht aus".
"Dieses Jahr wird chaotisch", ahnt eine Bürgermeisterin auf
Rügen: Millionen Westbesucher sind für den Sommer in der DDR
angesagt, aber Hotellerie und Gastronomie sind in desolatem
Zustand. In Sorge sind die Ostbürger auch um ihren letzten
Reichtum: schöne Landschaft, die unter die Räder kommen könnte,
in: Spiegel Nr. 15 v. 09.04.
Der
Spiegel berichtet über einen drohenden touristischen Ansturm
auf Ostdeutschland:
"Was auf die
DDR zukommt, läßt sich leicht ausmalen. Denn 70 Prozent der
erwachsenen Bundesbürger planen nach einer Umfrage des
Sample-Instituts, in diesem Jahr das andere Deutschland zu
besuchen. 19 Millionen wollen »auf jeden Fall«, 15 Millionen
»vielleicht« über die offene Grenze fahren, und zur ersten
Umdrehung hat diese Walze schon angesetzt.
Einem »kaum zu bewältigenden Besucheransturm« schaudert Armin
Godau entgegen, Berater des DDR-Tourismusministers Bruno
Benthien. Der Hamburger Freizeitforscher Professor Horst
Opaschowski rechnet mit einer »urlaubstouristischen Revolution«.
(...).
»Dieses Jahr wird chaotisch«, sorgt sich die Bürgermeisterin
Renate Bobzin aus dem Ostseebad Binz auf der Insel Rügen. Nicht
weit entfernt, am Runden Tisch des Kreises Wolgast auf Usedom,
war von der »Ausrufung des Notstands« die Rede, und einer wußte
schon: »Das halten wir nicht aus.« Noch zur Schneeglöckchenzeit
bekamen die Ostdeutschen eine Ahnung davon, wie es im Sommer
sein könnte. (...).
Eine Invasion an der Küste der DDR wird schließlich von See her
erwartet - voraussichtlicher D-Day: Pfingsten."
Doch die
touristische Infrastruktur sei dem jedoch nicht gewachsen. Zu
den Ostseebädern Sellin und Binz sowie Kap Arkona heißt es:
"Auf dem
Bergkamm über dem Rügener Bad Sellin macht die helle Fassade des
»Cliff-Hotels« einen guten Eindruck, und das ist kein Wunder.
Vor kurzem noch genossen hier die Mitglieder des ZK der SED samt
Anhang ihre sozialistischen Errungenschaften: Zimmer vom
Feinsten und gepflegte Restaurants, Schwimmhalle und Kegelbahn
und was man sonst so braucht. Jetzt darf hier jeder wohnen, im
einfachsten Zweibettzimmer für 185 Mark West. Unten in Sellin
jedoch läßt sich die Anmut des alten Ortsbildes nur noch
erahnen. Das hölzerne Filigran der Balustraden und Vorbauten ist
verrottet, und neben der Treppe zum Strand hinunter ballt sich
der Müll. Gastronomisches Kleinod ist der »Seehund«, wo es
Flaschenbier am Tresen gibt und ein Dutzend nackter Tische.
(...).
Selbst in den renommierten Häusern, etliche Interhotels
eingeschlossen, sollte der Gast auf Überraschungen gefaßt sein.
In der Halle des altehrwürdigen »Kurhaus Binz« baumelt eine
Glühbirne in der nackten Fassung, was, weil sie ja leuchtet,
weiter nicht stört. Im Zimmer zu 90 Mark West - fünfziger Jahre,
frühes Stadium - läßt sich, bis das warme Wasser endlich warm
werden will, in Ruhe das Neue Deutschland lesen, mindestens die
Seite 1. Wie das Innere der Herbergen, so ist auch das
touristische Umfeld nicht auf eine Kundschaft abgestellt, deren
Erwartungen in Benidorm oder in der Ramsau, am Timmendorfer
Strand oder in der Toskana gezogen wurden - schon gar nicht,
wenn die in Massen kommt. (...).
An frei umherschweifende Feriengäste, die einfach auf Erkundung
gehen und dabei womöglich in eins der ehemaligen Sperrgebiete
kommen, ist auch an den hohen Stellen des Landes nicht gedacht:
Am Fußpfad längs der 46 Meter tief abfallenden Steilküste des
Kap Arkona auf Rügen, wo einer, der danebentritt, nicht mehr
aufzuhalten ist, baumelt nur ein dünner, loser Draht und liegt
streckenweise auf dem Boden; mit Verlusten muß gerechnet
werden."
SPIEGEL
(1990): Und keener kommt.
Die Tourismuspleite an der DDR-Ostseeküste treibt traditionelle
Ferienorte in den Ruin,
in: Spiegel Nr. 32 v. 06.08.
"Von der
Zukunft des Tourismus in ihrer Region hatten die Kurdirektoren
und Urlaubsmanager der Ostseebäder entlang der DDR-Küste bislang
ganz feste Vorstellungen. Sie träumten von »sanftem Tourismus«
und ungestümen Umsatzsteigerungen, ohne Bettenburgen,
Betonfassaden und Badeverbote.
»Ein bißchen verschlafen, etwas verträumt, das wollen wir«,
umschreibt Anke Kurzenberg, 46, stellvertretende Bürgermeisterin
in Kühlungsborn nahe Rostock, dem größten Seebad der
Ost-Republik, den idealen Kurort.
Die Sehnsucht nach der neuen ostdeutschen Urlaubsidylle wurde
schneller wahr als erwartet - wenn auch ganz anders als erhofft:
Am Ostseestrand zwischen Ahlbeck auf Usedom und Boltenhagen bei
Wismar, wo bis zur Wende Jahr für Jahr rund 3,5 Millionen
Menschen Ferien machten, bleiben die Urlauber weg.
»Wir haben gedacht, der große Boom ist da«, sagt Bürgermeisterin
Kurzenberg, »aber die Leute kommen nicht.« Ein Zimmervermittler
in Graal-Müritz drastisch: »Alles tote Hose.«
Im 7.300 Einwohner großen Ostseebad Binz auf Rügen etwa, in dem
sich zur Sommerfrische mehr als doppelt soviel Gäste drängelten,
ist die Nachfrage "um fast 50 Prozent zurückgegangen", klagt
Bürgermeisterin Gisela Lemke, 41. In Kühlungsborn, wo
massenweise Hinweisschilder »Zimmer frei« melden, spricht
Kurdirektor Jürgen Kröger von einem "erheblichen Rückgang" bei
den Buchungen. (...).
Genaue Zahlen über den drastischen Einbruch im
Fremdenverkehrsgewerbe an der Ostsee gibt es bislang nicht, aber
die Indizien für die Pleite des Sommers 1990 sind
allgegenwärtig",
berichtet der
Spiegel und meint:
"Viele
westdeutsche Urlauber haben offensichtlich, gewarnt durch
kritische Berichte über den
miesen Urlaubsstandard in Deutsch-Ost, im letzten Moment auf
die Erschwernisse eines ausgedehnten DDR-Urlaubes verzichtet."
1991
SPIEGEL
(1991): Palmen am Ostseestrand.
Auf den Landstraßen stauen sich die Autos, die guten Hotels sind
ausgebucht: Rügen, die Insel mit dem Mythos des Caspar David
Friedrich, erwartet eine touristische Invasion. Baukonzerne,
Hotelgesellschaften und Freizeitunternehmen wittern das große
Geschäft. Macht der Massentourismus die bizarre Insel-Natur
kaputt?
in: Spiegel Nr. 18 v. 27.04.
"Die mit 926
Quadratkilometern größte deutsche Insel hat gute Aussicht, zum
Eldorado von Immobilien-Spekulanten und Geschäftemachern zu
werden.
(...).
Beim Rügener Landratsamt stapeln sich 27 Anträge zum Bau von
Golfplätzen. Auf der Halbinsel Bug, zwischen Dranske und einem
Naturschutzgebiet, soll ein Segelhafen entstehen. Im Wieker
Bodden und an der offenen Ostseeküste sind 800 weitere
Bootsliegeplätze vorgesehen. Der Damm zum Festland soll eine
zweite Fahrspur erhalten. Und schon existieren Pläne, Rügen eine
Autobahn-Anbindung zu verschaffen - trotz des neuen
Intercity-Anschlusses.
Ganz vorn liegt der Frankfurter Baukonzern Philipp Holzmann. Die
Sports Leisure Promotion, eine Tochterfirma des Unternehmens,
will auf Rügen einen »Ferienpark mit integrierter
Wasserfreizeitanlage« errichten; das alte Ostseebad Binz will
die Gruppe »revitalisieren und weiter ausbauen«",
berichtet der
Spiegel, um dem die Sicht der Vorsitzenden des Binzer
Fremdenverkehrsvereins entgegenzusetzen, die für einen sanften
Tourismus plädiert. Es wird die goldene Zeit des Bädertourismus
hervorgehoben und ein neuer Run auf die Insel betont:
"Die ersten
Badegäste kamen Anfang des vergangenen Jahrhunderts. In den
Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren die Rügener Seebäder die
Top-Adresse der feinen Gesellschaft. Sellin galt als »die Perle
der Ostsee«, die Binzer Strandpromenade als »Flaniermeile des
internationalen Geldadels«. Heute ist von den einst weißen
Fassaden der Häuser im Stil der Bäderarchitektur mit ihren
hölzernen Balkonen und dem filigranen Fachwerk die Farbe
abgeblättert. Das Holz fault, vom Mauerwerk bröckelt der Putz.
Das wird nicht mehr lange so bleiben. Rügen ist zu attraktiv, um
in Ruhe gelassen zu werden. Überall, vom nördlichen Kap Arkona
bis zur Halbinsel Mönchgut im Süden, herrscht
Goldgräberstimmung."
Die Gemeinde
Sagard wird als Negativbeispiel des Booms herangezogen. Es
werden uns Projekte für das Seebad Binz vorgestellt, die als
Naturzerstörung beschrieben werden. Am Schluss wird das Jahr zum
Schicksalsjahr stilisiert:
"Sicher ist
nur, daß die Weichen für die Zukunft Rügens jetzt gestellt
werden."
1992
SPIEGEL
(1992): Im blauen Dunst.
Landflucht: Die Landwirtschaft in den neuen Bundesländern bricht
zusammen, in den Dörfern herrscht gespenstische Öde,
in: Spiegel Nr. 18 v. 27.04.
"Während sich
die Politiker vor allem mit den Krisen in Werften- und
Bauindustrie befassen, stirbt die Landwirtschaft in den neuen
Bundesländern »einen stillen Tod«, klagt die Gewerkschaft
Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft. Am schlimmsten trifft es
das ländlich geprägte Mecklenburg-Vorpommern.
Dort waren vor der Wende allein knapp ein Viertel aller 840.000
in der DDR-Landwirtschaft tätigen Menschen beschäftigt. Von den
189.000 Arbeitskräften wurden bis heute 160.000 entlassen, »ohne
daß für die Freigesetzten eine Alternative geschaffen« wurde, so
Röpke. (...).
Niemand weiß, wie das ärmste Bundesland, das ohnehin mit der
höchsten Arbeitslosenquote (17,7 Prozent) geschlagen ist, die
Krise auf dem Land verkraften soll. Bauernführer Röpke warnt vor
»bürgerkriegsähnlichen Zuständen«. (...).
Wer kann, wandert in den Westen ab. Besonders junge,
intelligente und mobile Arbeitskräfte wollen nicht länger auf
dem öder werdenden platten Land wohnen. Seit der Wende haben
nach Schätzungen des Schweriner Sozialministeriums etwa 66.000
Menschen die ohnehin dünnbesiedelte Region verlassen. (...).
Die Menschen im westlichen Mecklenburg haben immerhin noch
Aussicht, in Hamburg oder Lübeck Arbeit zu finden; bereits
60.000 Arbeitskräfte pendeln täglich hin und her. Doch östlich
der Autobahn Berlin-Rostock ist die Lage finster. Dort
entvölkern sich ganze Regionen. Über den Dörfern lastet tödliche
Langeweile, das Gemeinschaftsleben ist erloschen. An der Tür
einer vernagelten Jugenddisco im Kreis Wolgast steht in
holprigem Deutsch: »Wegen geschlossen zu.«",
berichtet der
Spiegel über die wirtschaftliche Lage und die
Massenarbeitslosigkeit in Mecklenburg. Vorpommern. Besonders
dramatisch wird die Situation im Landkreis Teterow geschildert:
Auf Unruhe
braucht der Landkreis Teterow nicht mehr zu warten. Dort gingen
Anfang März die Menschen erstmals seit der Wende wieder auf die
Straße. Sie forderten »Solidarität mit den Arbeitslosen«. Davon
gibt es in Teterow genug - im vergangenen Monat offiziell 26,9
Prozent. Viele werden binnen kurzem, wenn die
Arbeitslosenunterstützung nach den gesetzlich vorgesehenen zwei
Jahren ausläuft, zu Sozialhilfeempfängern. Der
christdemokratische Landrat Christian Zöllner, 52, hält es für
»realistisch«, daß im kommenden Jahr nahezu jeder zehnte
Teterower dazu zählen wird; 72 Millionen Mark plant der verarmte
Kreis dafür schon mal ein. In den Dörfern um die Stadt herum
liegt die Arbeitslosenquote bereits über 60 Prozent. Für die
alten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ist
bisher kein Ersatz gefunden, Rindermastanlagen existieren nicht
mehr, Industrie gibt es nicht."
Der
Landkreis Teterow mit der Kreisstadt Teterow wurde 1994
aufgelöst und gehörte dann bis 2011 zusammen mit den ehemaligen
Landkreisen Büstrow und Güstrow zum neuen Landkreis Güstrow. Bei
dieser Kreisgebietsreform wurden die bis dahin 30 Landkreise in
12 Landkreise überführt.
SPIEGEL
(1992): Indische Toiletten.
Tourismus: Zuwenig Betten, schlechte Qualität - die Gegenwart
ist trist, doch schon bald sollen die Ostseebäder in
Mecklenburg-Vorpommern ganz edel werden,
in: Spiegel Nr. 32 v. 03.08.
Der
Spiegel sieht die Ostseeküste nicht für den touristischen
Ansturm gerüstet, z.B. auf Usedom:
"Zinnowitz
auf der Ostsee-Insel Usedom hat Touristen nicht viel zu bieten.
»Kaputter SED-Ort, scheußlichstes Insel-Hotel« urteilt das
Reisemagazin Holiday und rät: »Unbedingt vermeiden!«
Die Warnung bleibt ungehört. Esther Schulz, die einen privaten
Zimmervermittlungsdienst betreibt, muß jede Stunde 10 bis 15
Quartiersuchende abweisen: »Zinnowitz ist restlos voll.«
Ausgebucht sind auch Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck, die
übrigen Seebäder der Insel. Im dritten Sommer nach der Wende ist
die Nachfrage nach Quartieren an der Küste
Mecklenburg-Vorpommerns riesengroß. Doch viele Besucher müssen
wieder abreisen: Es gibt zuwenig Unterkünfte."
Die Treuhand
wird als Ursache der Probleme gesehen:
"Fehlende
Treuhand-Entscheidungen, ungeklärte Eigentumsansprüche sowie
verschleppte Privatisierungen von Betriebsferienheimen und
FDGB-Bettenburgen haben dazu geführt, daß in Bansin 1.600 Betten
nicht belegt werden können; in Zinnowitz sind es einige hundert,
an der gesamten Ostseeküste viele tausend. (...). Privatisiert
wurden erst 36 Prozent der Objekte und 45 Prozent der Betten."
Doch in
einigen Jahren sollen Touristen mit lockerem Geldbeutel die
Badeorte überschwemmen:
"In fünf
Jahren, glaubt auch Bansins Bürgermeister Lutz Piehler, wird
alles anders sein. Dann stehen das für 50 Millionen Mark neu
erbaute Hotel Meeresstrand mit dem Kongreßzentrum, das
Fünfsternehotel Vineta und zwei, drei andere Großprojekte, die
in diesen Tagen beschlossen werden.
(...) Nichts weniger als ein Weltbad soll Bansin nach den
Vorstellungen seines Bürgermeisters werden. Pech nur, daß die
Bürgermeister der anderen Ostseebäder genau das gleiche Ziel
verfolgen.
Ein »mondänes Seebad« möchte Kühlungsborn werden, Bad Doberan
ein »Kur- und Badeort für gehobene Ansprüche«;
Börgerende-Rethwisch und Rerik konzipieren große Jachthäfen und
Luxushotels, Ahlbeck und Heringsdorf träumen vom »gehobenen
Tourismus", und Zinnowitz wirbt als »anspruchsvolles Seeheilbad«
um Kururlauber - »aber keine AOK-Leute«.
Am gemeinen Volk hat keiner Interesse. Die Seebäder setzen auf
die Reichen. Zu tief sitzt der Ärger über die traditionellen
DDR-Touristen, die alles in den Urlaub mitbrachten, nur kein
Geld."
SPIEGEL
(1992): "Da hört die Christlichkeit auf".
Weil sie um ihren Fremdenverkehr fürchten, wollen Bürger in der
mecklenburgischen Provinz ungebetene Fremde vertreiben. Eine
ganze Stadt steht gegen rumänische Asylbewerber auf und
blockiert sogar die Zufahrtstraßen,
in: Spiegel Nr. 44 v. 26.10.
Der Spiegel
berichtet über die "5.000-Seelen-Gemeinde"
Goldberg, die vom "sanften Tourismus" träumt und sich nun
durch die Planung einer Einrichtung für Asylbewerber in ihren
Plänen bedroht fühlt:
"Goldberg
erlebt schlechte Zeiten. Seit die frühere Kaserne der Nationalen
Volksarmee (NVA) geschlossen wurde und die Filiale des Güstrower
Taschenwerkes dichtgemacht hat, sind 30 Prozent der Einwohner
arbeitslos. Ebenso viele schulen um oder schlagen sich auf
ABM-Stellen durch. (...).
(D)er parteilose Bürgermeister träumt, wie (...) fast ganz
Mecklenburg-Vorpommern, vom »sanften Tourismus« als Quelle
künftigen Wohlstands. Er begann, Hoffnung für Goldberg zu
schöpfen.
Als Arbeitgeber hatte er zunächst nur eine Firma aus Solingen
nach Goldberg locken können. Doch dann interessierte sich die
Hotelgesellschaft »Skan« aus Gifhorn für den Ort. Die plant ein
200-Betten-Haus am Goldberger See. Das seien mindestens sechs
Millionen Mark Investitionen und 25 Dauerarbeitsplätze, schwärmt
Wollschläger.
Doch nun droht die Landesregierung, glaubt man den Goldbergern,
alles kaputtzumachen. Warum nur mußte Lothar Kupfer (CDU), seit
März Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, ausgerechnet in
ihrer ehemaligen NVA-Kaserne eine Zentrale Anlaufstelle (ZASt)
für 300 Asylbewerber einrichten und den armen Goldbergern
Zigeuner sowie in deren Gefolge womöglich auch noch rechte
Krawallmacher und Chaoten auf den Hals schicken?"
1993
SPIEGEL
(1993): Pilze an der Decke.
Ein Immobilienspekulant macht der Stadt Stralsund zu schaffen,
er kauft Teile der Innenstadt auf,
in: Spiegel Nr. 34 v. 23.08.
Der
Spiegel berichtet über einen Immobilienspekulant, der in
Stralsund Häuser in der Altstadt aufkauft. Die Ostsee-Zeitung ("Unternehmer
saniert Häuser aus dem 17. Jahrhundert") wird fast 25 Jahr
später schreiben:
"Lange konnte
die Stadt Stralsund mit den finanziell hoch belasteten Gebäuden
nichts anfangen, da sie Bestandteil eines fast zwei Jahrzehnte
währenden Immobilien-Kampfes mit der Berliner Firma Weyland &
Quast um Gustav Sommer waren. Das Unternehmen hatte Anfang der
1990er-Jahre rund 80 Häuser in Stralsund aufgekauft, war 1997
aber Pleite gegangen. Erst 2011 hatte Stralsund den letzten
Rechtsstreit um die seit 1994 leer stehenden Altstadthäuser in
der Heilgeiststraße gewonnen."
SPIEGEL
(1993): Perlen auf Usedom.
Der bayerische Bäder-Unternehmer Zwick ist auch in Mecklenburg
erfolgreich - zu Lasten der Steuerzahler,
in: Spiegel Nr. 34 v. 22.11.
SPIEGEL
(1993): Helgoland der Ostsee.
Bonn und Mecklenburg-Vorpommern streiten um Deutschlands
skurrilstes Eiland - die Greifswalder Oie,
in: Spiegel Nr. 34 v. 22.11.
Der
Spiegel berichtet über den Streit um Kaufpreis und Nutzung
der
Greifswalder Oie.
1994
SPIEGEL
(1994): Wie in alten Zeiten.
Die Kühe im Stall gehören wieder ihm selbst, und daß die
Milchquote Geld bringt, hat er schnell begriffen: Der ehemalige
LPG-Bauer Zuedel in Mecklenburg lebt gut mit der
Marktwirtschaft. Er hat tüchtig Schulden gemacht, aber sein
Einkommen könnte bei manchen Bauern im Westen Neid aufkommen
lassen,
in: Spiegel Nr. 35 v. 29.08.
Der
Spiegel berichtet über einen erfolgreichen Bauer in
Lüblow.
"Die anderen
Bauern seiner Generation in Lüblow gingen in Rente, als die LPG
langsam in den Konkurs schlitterte. Vor der Kollektivierung gab
es 19 Höfe im Dorf. Die Zuedels haben als einzige aus dem Ort
wieder mit einem eigenen Betrieb angefangen. Dann sind da noch
zwei Westdeutsche: Ein Möllner übernahm die Reste der LPG, ein
Ostfriese hat sich mit Frau und fünf Kindern niedergelassen."
1995
SPIEGEL
(1995): Befehl zum Prassen.
Kommungen: Trotz der Förderung mit Steuermillionen verfallen
ostdeutsche Städte: Stralsund ist ein Beispiel,
in: Spiegel Nr. 38 v. 22.05.
"Von den
65.000 Einwohnern der Hansestadt leben nur noch 3.000 im
mittelalterlichen Stadtkern, Tendenz fallend. Die Innenstadt,
einst ein Kleinod deutscher Backsteingotik, zerfällt. (...).
Dabei gehört Stralsund seit 1990 zum »Modellvorhaben
Stadterneuerung«, einem Spezialprogramm der Bundesregierung, mit
dem besonders schöne Stadtkerne erhalten werden sollen.
Stralsund bekam bis Mitte vergangenen Jahres 81,5 Millionen Mark
aus Steuergeldern, mehr als jede andere Stadt
Mecklenburg-Vorpommerns. Doch »das einzige, was hier
weitergeht«, schimpft Dieter Bartels vom Bürgerkomitee »Rettet
die Altstadt«, einer Initiative von 200 Stralsundern, »ist der
Verfall«.
In Stralsund, wie in vielen anderen Kommunen in den neuen
Bundesländern, stockt der Aufbau Ost: Überforderte
Kommunalbehörden, Trägheit und Filz lassen Fördermillionen
versickern; Fehlplanungen, penible Vorschriften und komplizierte
Gesetze erschweren die zügige Sanierung.
Stralsunds Oberbürgermeister Harald Lastovka (CDU) gibt zu, daß
es »bislang nicht optimal gelaufen ist« mit seiner Stadt. Die
Schuld dafür gibt er Bundes- und Landesregierung. Besonders
lähmend, schimpft Lastovka, sei das von Bonn diktierte Prinzip
Rückgabe vor Entschädigung (...).
So hätten sich in Stralsund Westeigentümer um 3.800 Häuser und
Grundstücke gestritten, klagt Lastovka, der Stapel der
Rückgabeanträge sei vom Amt zur Regelung offener Vermögensfragen
bis heute »erst zu 60 Prozent« abgearbeitet.
Auch Baugesetzbuch und Städtebauförderrichtlinie seien, so
Lastovka, »für die Aufgaben nach einer friedlichen Revolution«
unbrauchbar. Die teure Innenstadtsanierung und der preiswerte
Eigenheimbau auf der grünen Wiese werden staatlich gleich hoch
gefördert. Bund und Land, fordert der Bürgermeister, müßten
endlich »begreifen, daß in den Altstädten noch mehr gefördert
werden muß«",
beschreibt
der Spiegel das Problem aus Sicht des CDU-Bürgermeisters,
um dem die Schweriner SPD-Sicht entgegenzusetzen:
"Für
Roland Kutzki, Städtebauförderer im Schweriner
Bauministerium, sind Stralsunds Probleme (...) großenteils auch
hausgemacht. Anders als etwa in Schwerin, wo in der Hauptsache
Häuser saniert wurden, habe Stralsund beispielsweise zuviel Geld
in Kanalisation und neue Straßendecken investiert. (...). Wer
nur Wege teere, sagt Kutzki, spare sich den Ärger mit
Hausbesitzern und könne das Geld flotter loswerden."
Zudem wird
kritisiert, dass gutsituierte Einheimische beim Verkauf
sanierter Altbauten bevorzugt wurden, statt sie höchstbietend
überörtlich zu verkaufen. Und nicht zuletzt werden
Einkaufszentren auf er grünen Wiese kritisiert:
"Statt wie
empfohlen die Innenstadt vor den Außenbezirken zu entwickeln,
habe die Stadt beispielsweise »Außenmärkte in wahnsinnig großer
Zahl selbst verschuldet«, sagt Kutzki, »indem sie zu viele
Baugenehmigungen erteilte«. 90 000 Quadratmeter Verkaufsfläche
in Supermärkten an der Peripherie stehen inzwischen ganzen 15
000 Quadratmetern in der Innenstadt gegenüber, die aus diesem
Grund verödet. Beim Kaufhaus Horten etwa, in der Fußgängerzone
vor sich hinsiechend, droht jetzt der Hälfte der Angestellten
die Entlassung, nachdem Bürgermeister Lastovka erst Anfang April
wieder ein Einkaufszentrum eröffnete, den »Strelapark«, direkt
vor den Toren der Stadt. Architekt Mittelbach hält das
Konsumparadies für den »Todesstoß für die Innenstadt«."
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Bauernland in Bonzenland.
Die neuen
alten Herren im Osten |
SPIEGEL
(1995): "Belogen und betrogen".
Nirgends haben die Führungskader der DDR die Wende so
unbeschadet überstanden wie auf dem Lande. In vielen Dörfern
herrschen noch immer die Chefs der alten Landwirtschaftlichen
Produktionsgenossenschaften. Die kleinen Bauern wurden
ausgetrickst und ausgenommen - mit Hilfe und zugunsten alter
Seilschaften,
in: Spiegel Nr. 38 v. 12.06.
"Die
Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften befanden sich
oft in besserem Zustand als die heruntergekommenen
Industrieanlagen der DDR. Ihre Einfamilienhäuschen und
Wohnblocks waren dank eigener Reparaturbrigaden durchweg
ordentlicher erhalten als die Mietskasernen in den Städten. Von
beträchtlichem Wert waren Viehherden, Melkanlagen und
Getreidespeicher. Ein milliardenschweres Vermögen wäre zu
verteilen gewesen - wenn tatsächlich geteilt worden wäre. (...).
Von der Ostseeküste bis zum Erzgebirge haben sich riesige
Agrarfabriken etabliert. Die Landwirtschaft ist der einzige
Wirtschaftszweig Ostdeutschlands, der dem Westen überlegen ist.
Schon bald haben die ehemaligen LPG-Chefs ihre Betriebe
technisch hochgerüstet, und dann werden allenfalls westdeutsche
Großbauern mithalten können.
Mit ihren Betrieben, im Schnitt 1736 Hektar groß, können die
Ostdeutschen nicht nur wesentlich rationeller wirtschaften, sie
kassieren auch ungleich mehr Subventionen. Die Nachfolgebetriebe
der aufgelösten LPG räumen systematisch ab, was an Beihilfen,
Subventionen, Ausgleichszahlungen und Prämien zu holen ist. Wo
einst in Mecklenburg-Vorpommern Zuckerrüben angebaut wurden,
dehnen sich nun kilometerlang riesige Rapsfelder - dank üppiger
Subventionen (1232 Mark pro Hektar) ist Rapsanbau lukrativer",
erklärt uns
der Spiegel.
SPIEGEL
(1995): Keine Angst vor Asiaten.
Unternehmen aus Bremen und Oslo beherrschen Ostdeutschlands
Werftindustrie. Mit über sechs Milliarden Mark Subventionen
verwandeln sie die veralteten DDR-Werften zu den modernsten
Schiffbau-Betrieben Europas. An der Küste geschieht, was in
keiner anderen Industrie gelang: Der Osten überholt den Westen,
in: Spiegel Nr. 33 v. 14.08.
SPIEGEL
(1995): Gesunde Hände.
Arbeit: Wie nach Kriegsende läßt Mecklenburg-Vorpommern
DDR-Ruinen entsorgen - durch Trümmerfrauen,
in: Spiegel Nr. 34 v. 21.08.
Der
Spiegel berichtet über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für
Frauen in Mecklenburg-Vorpommern am Beispiel von
Zettemin.
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Blühende
Landschaften?
Die neuen
alten Herren im Osten |
SPIEGEL
(1995): Dallas und DDR.
Vom Aufschwung in dem mecklenburgischen Dörfchen Staven,
in: Spiegel Nr. 36 v. 04.09.
"Noch vor
zwei Jahren lag die Arbeitslosenquote in Staven bei rund 60
Prozent, das triste Dorf nahe Neubrandenburg galt als einer der
chancenlosesten Orte in der Ex-DDR. Mittlerweile hat sich die
Rate gebessert, auf etwa 20 Prozent. Aber noch einmal so viele
schlagen sich mit Umschulungen oder ABM-Stellen durch",
schreibt der
Spiegel über den Aufschwung in
Staven bei Neubrandenburg.
SPIEGEL
(1995): Arm, leer und schön.
Spiegel-Serie Im Osten viel Neues (Teil 3): Ein Land verliert seine Leute: In Scharen wanderten die Menschen
nach der Wende aus Mecklenburg-Vorpommern ab, die Zahl der
Geburten sinkt dramatisch. Nach dem Zusammenbruch der
Planwirtschaft fehlen nun die Arbeitsplätze. Beinahe einziges
Kapital der Küstenregion ist die weithin unzerstörte Landschaft,
in: Spiegel Nr. 38 v. 18.09.
Der
Spiegel-Bericht stellt paradigmatisch die Themenpalette dar,
die das Bild von Mecklenburg-Vorpommern seit der
Wiedervereinigung prägen:
"Rote Ziegel,
dahinter das Meer; verfallene Bürgerhäuser, enge, verkommene
Gassen mit Staub und Schimmel und dazwischen immer mal wieder
eine Fassade, die frisch gestrichen glänzt: Die alte Hansestadt
am Strelasund, ein Kleinod der Backsteingotik, verfällt beinahe
schneller, als sie zu retten ist",
beschreibt
der Spiegel die Hansestadt Stralsund. Düsterer sieht es
teilweise aber im Bundesland aus:
"Manchem mag
es wie ein Wunder erscheinen, daß überhaupt jemand geblieben ist
im leeren, bäuerlichen Nordosten. Das spröde Land zwischen
Bodden und Haff, so scheint es, ist eher für Kraniche als für
Menschen gemacht.
Rund 23 000 Quadratkilometer Fläche hat Mecklenburg-Vorpommern,
31mal soviel wie Hamburg, doch schon zur Zeit der Wende lebten
zwischen Elbe und Oderhaff nur 300 000 Einwohner mehr als im
westlichen Stadtstaat. Und die flüchteten nach 1989 in Scharen
in den Westen, wo es Arbeit gab. Rund 2 Millionen Einwohner
zählten die Statistiker vor fünf Jahren, heute sind es etwa 1,8
Millionen.
Es wurde leerer, vor allem in den Dörfern, und die Jungen und
Flexiblen waren als erste weg. Lebten 1989 noch 338 000 Männer
und Frauen zwischen 20 und 30 Jahren in der Ostseeregion, so
zählten die Statistiker Ende 1994 nur noch 236 000 Einwohner
dieses Alters.
Und diejenigen, die geblieben sind, setzen wie überall im Osten
immer weniger Kinder in die Welt. Im Wendejahr wurden in
Mecklenburg-Vorpommern mehr als 26 000 Babys geboren, fünf Jahre
später nur noch knapp 9000, ein Wandel, der fast schon normal
geworden ist. (...).
Längst reden Planer davon, nicht nur Kindergärten zu schließen,
sondern auch Schulen zu verkleinern oder zusammenzulegen. Weil
auf dem platten Land immer weniger Schüler nachwachsen, spricht
Kultusministerin Regine Marquardt davon, nun Zwergschulen
einzurichten. Rund 11 000 Lehrerstellen, meldet sie überdies,
habe das Land langfristig zuviel - die sollen wegfallen.
Die Zukunft liegt offenbar anderswo. Als Problemfall unter den
Ostländern war Mecklenburg-Vorpommern gleich nach der Wende
ausgemacht."
Der Tourismus
und der Schiffsbau gelten als Hoffungsträger:
"Mühsam, aber
immer deutlicher sichtbar beginnt sich in den alten Kaiserbädern
auf Usedom oder Rügen, in Ahlbeck, Heringsdorf oder Binz ein
Fremdenverkehr zu etablieren, der an große Zeiten anknüpft. Der
heiße Sommer hat dem Küstenland eine gute Saison beschert. Wie
früher strömten die Sachsen, aber es kamen auch Westler an die
See. Naturfreunde haben Rügen oder Fischland entdeckt, und im
Kurhotel von Bad Doberan trinken wieder feine Damen Tee. (...).
Zufrieden meldeten Unternehmen wie die Warnow-Werft in Rostock
und die MTW Schiffswerft in Wismar, sie hätten den Westen
bereits überholt: Nirgends in Deutschland werden mit derart
moderner Technik Schiffe gebaut."
Doch die
Erfolge reichen nicht aus, um den Bevölkerungsrückgang zu
stoppen:
"Der
Tourismus bietet bisher nur Arbeitsplätze für 100 Tage im Jahr -
davon kann kaum einer leben. Die Werften, mit hohen Subventionen
gepäppelt, beschäftigen nur einen Bruchteil der Belegschaft von
früher: 8.000 Menschen anstatt einstmals 55.000. Ihre Zulieferer
sitzen größtenteils im Westen, Mecklenburg-Vorpommern steuert
nicht einmal fünf Prozent bei. Und die Landwirtschaft, die zur
DDR-Zeit fast 200.000 Menschen Arbeit gab, hat nur noch Jobs für
25.000 Männer und Frauen. Als völlig gescheitert erweist sich
die Industrialisierung im Hinterland. Was die DDR-Führung an
Betrieben mühsam ansiedelte, ist buchstäblich über Nacht
verschwunden oder auf Zwergenmaß geschrumpft."
Kein gutes
Haar lässt der Spiegel an der DDR-Stadtplanung. Beispielhaft für
die Fehlplanungen gilt
Ribnitz-Damgarten:
"Wo die
Recknitz in den Saaler Bodden mündet, 30 Kilometer nordöstlich
von Rostock, liegt das Städtchen Ribnitz-Damgarten - ein
typisches Fünfziger-Jahre-Kunstprodukt nach SED-Manier. Westlich
der Recknitz, in Mecklenburg, steht der Ort Ribnitz; jenseits
des Flüßchens liegt Damgarten, das seit jeher zu Vorpommern
gehört.
Weil es nichts gab in dieser verlorenen Gegend zwischen Rostock
und Stralsund, mußte aus zwei stillen Dörfern eine Kreisstadt
entstehen. Für die Menschen, die dort hinzogen, wurden Fabriken
gebaut, wie der Volkseigene Betrieb Faserplattenwerk
Ribnitz-Damgarten.
Es spielte keine Rolle, daß der Rohstoff Holz von weither
transportiert werden mußte, vor allem aus dem Seengebiet bei
Waren im südlichen Mecklenburg. Dort hätte sich das Werk
vielleicht rentiert. Doch die Menschen saßen jetzt nun mal in
Ribnitz-Damgarten an der spärlich bewaldeten Küste.
Als die DDR zusammenbrach, kollabierten landesweit solche
künstlichen Industrien. Wie in Ribnitz hatten sie weder die
Rohstoffe noch die Absatzmärkte am Ort, und die Transportwege
waren zu weit, zu schlecht und zu teuer. Die Faserplatte aber
überlebte.
Am Stadtrand von Ribnitz-Damgarten, zwischen der Bundesstraße 105
und einem sumpfigen Meeresarm, blieb ein Stück DDR bestehen: der
zur Firma Bestwood mutierte VEB mit knapp 500 Beschäftigten."
Westnähe gilt
dem Spiegel als Standortvorteil:
"Jetzt, seit
der Wende, hat es Mecklenburg leichter - Rostock, Wismar,
Schwerin sind besser an den Westen angebunden. Dort ist die
Arbeitslosigkeit geringer, wächst die Wirtschaft schneller als
in Vorpommern. Große Sorgen, sagt etwa Rolf Christiansen, der
Landrat des westnahen Kreises Ludwigslust, müsse er sich
»eigentlich nicht mehr« machen: »Uns geht es schon ganz gut.«
Auch längs der Küste und quer über die Mecklenburgische
Seenplatte entwickeln sich Inseln eines wirtschaftlichen
Aufschwungs, dessen Hauptkapital die unzerstörte Natur ist. An
den Seeufern, zwischen Wiesen und Buchenwäldern, siedelten sich
mittlerweile an die 30 Kliniken und Rehabilitationszentren an.
»In sechs Monaten«, berichtet Sibylle Skriba vom Schweriner
Sozialministerium fast euphorisch, »sind es mindestens wieder
fünf mehr.«
Nahe der polnischen Grenze aber, im vorpommerschen Landkreis
Uecker-Randow, blickt Landrat Rainer Haedrich gequält auf seine
Einwohnerstatistiken. Zehn Prozent der Bevölkerung hat das
Gebiet seit der Wende verloren, zurück blieben 90.000 Menschen.
Obendrein sinkt die Zahl der Geburten in keinem pommerschen
Landkreis so stark wie hier: 1990 kamen dreimal so viele Babys
zur Welt wie 1994.
Wer hier noch einen Job hat, der sieht sich vor - so erklärt
sich Pasewalks Frauenbeauftragte Rita Dornbrack den
Geburtenrückgang. (...) Doch inzwischen sind die
Industriebetriebe im Kreis reihenweise zusammengebrochen. Und
noch bestehende Firmen arbeiten mit einem Bruchteil der
Belegschaft.
Der größte Arbeitgeber im Kreis ist jetzt die Armee. Seit jeher
wird hier vom östlichen Hinterland aus das jeweilige Staatswesen
verteidigt."
Für den Osten
bleibt nur die Hoffnung auf Stettin in Polen:
"Straßen,
Straßen, Straßen verlangt der Mann und Schienenanschlüsse. Von
der »Euroregion Pomerania« verspricht sich Haedrich große Dinge.
Der Zusammenschluß zwischen Kommunen auf beiden Seiten der
deutsch-polnischen Grenze soll den Aufschwung beflügeln. Nur 50
Kilometer östlich von Pasewalk liegt die polnische Stadt
Stettin, mit internationalem Flugplatz und Tiefwasserhafen. »Was
nützt uns das«, fragt Haedrich, «wenn wir keine anständigen
Verkehrswege haben und die Lastwagen stundenlang an der Grenze
stehen?«"
Fortschrittsskepsis prägt dagegen Rügen:
"Für Udo
Knapp auf der Insel Rügen hingegen könnte die Zukunft gerade
wegen der rückständigen Gegenwart kaum heller sein. Der
ehemalige Bonner Grüne, jetzt Sozialdemokrat und
stellvertretender Landrat im Osten, begeistert sich für viele
Dinge, woran Christdemokraten leiden. (...).
Den zweiten Auto-Damm nach Rügen jedoch, der nun gebaut werden
soll, lehnt der Kommunalpolitiker kategorisch ab: »Wir brauchen
um Gottes willen nicht vierspurig nach Mukran.« Die CDU hingegen
ist der Meinung, der Weg zum Aufschwung führe nur über Beton
oder die Magnetspuren des Transrapid, jenes Mammutprojekts, das
Hamburg und Berlin via Mecklenburg verbinden soll. Wer einen
etwas sanfteren Weg in den Fortschritt will, stelle sich »der
Zukunft in den Weg«, behauptet Ministerpräsident Seite.
Im Städtchen Jarmen stoßen die gemäßigten Visionen schon heute
mit der Betonrealität der Mehrheitsmeinung zusammen. Dort wird
die vom einstigen Verkehrsminister Günther Krause messianisch
versprochene Ostseeautobahn A 20 von Lübeck nach Stettin über
die Peene geführt werden, einen der letzten unregulierten
Flußläufe Deutschlands."
An diesen
Themen arbeitet sich die Medienberichterstattung auch 25 Jahre
später noch ab.
SPIEGEL (1995): Millionen in den Sand gesetzt.
Spiegel-Serie Im Osten viel Neues (Teil 3): Von Glücksrittern
und Immobilienschiebern auf der Insel Usedom,
in: Spiegel Nr. 38 v. 18.09.
Der Spiegel
beschreibt wie auf Usedom westdeutsche Großinvestoren absahnen,
während die Mittelständler auf der Strecke bleiben und die
Einheimischen schlecht bezahlte Dienstleistungsjobs übernehmen:
"Spekulanten
und Glücksritter überschwemmten das idyllische Eiland kurz vor
der polnischen Grenze und setzten Hunderte Millionen Mark
buchstäblich in den Sand - oftmals das Geld anderer.
Jetzt droht der schönen Insel, einstmals mit ihren Seebädern
Heringsdorf, Ahlbeck und Bansin die »Badewanne Berlins«, eine
Pleitewelle. Einige Immobilienschieber haben sich
gesundgestoßen, andere hatten Pech. Überall fehlt Kundschaft,
vor allem die zahlungskräftige. (...). Zwischen September und
Ostern ist auf Usedom tote Hose, Fischotter und Einheimische
sind weitgehend unter sich. (...).
Gewinnen können auf Usedom bestenfalls Abschreibungskünstler,
für die kleinen Hotelbesitzer ist das Überleben sogar mit
Selbstausbeutung schwierig. (...).
Auch Friedrich Münzel aus Hamburg will auf Usedom das große Rad
drehen. Was Sylt den Hamburgern, so Münzels Hoffnung, soll die
idyllische Ostseeinsel den Berlinern werden. Die Schickis der
Hauptstadt könnten hier wochenends viel Geld lassen. Aber wie?
Die einzige Diskothek im Seebad Ahlbeck ist von den Dorfkids
besetzt. Es gibt kein Nachtleben und auch keine Boutiquen mit
Armani-Klamotten.
Für die Berliner liegt Usedom weit vom Schuß. Sie sind schneller
mit dem Jet auf Ibiza als mit dem Auto über verstopfte
Mecklenburger Landstraßen am Strand von Usedom.
Vergangenes Jahr weihte Münzel in Heringsdorf die mit 508 Metern
»«längste Seebrücke Kontinentaleuropas« ein. Während die
Geldgeber bei Lachs und Champagner feierten, bestaunten Tausende
einheimische Familien mit Kind, Regenschirm und Butterbrot das
eigenwillige Bauwerk: einen Koloß aus Stahl, Holz und Glas mit
22 Geschäften, Kino, Cafe und einem Restaurant am Ende des
Stegs. Für die Brücke hat Münzel, Geschäftsführer der Hamburger
Beac Immobilien GmbH, Geld (...) gesammelt, insgesamt 27
Millionen Mark. Fördermittel waren nicht zu bekommen, aber
kräftige Steuergeschenke. »Ohne die Sonder-Afa«, rechnet Münzel
vor, »gäbe es keine Seebrücke.« (...).
Heringsdorfs Bürgermeister Hans-Jürgen Merkle, 36 (...) hat
(...) den Gemeinderäten klargemacht, daß weiter geklotzt werden
muß.
Rund 300 Millionen Mark, schätzt der frühere hessische
Verwaltungsbeamte, werden in der nächsten Zeit in den drei
Seebädern an der Ostsee verbaut: ein Einkaufszentrum für 50
Millionen Mark, eine Therme für 35 Millionen, ein Kulturhaus für
40 Millionen, eine Kurklinik für 40 Millionen, ein Kurhotel für
20 Millionen. Bezahlt wird von Investoren, Banken und dem
Steuerzahler.
Die Usedomer werden auch gebraucht. Zwar nicht als
Hotelbesitzer, nur schätzungsweise 10 bis 20 Prozent der
Herbergen, meist die in zweiter und dritter Reihe, gehören
Einheimischen. Doch sie haben das Bettenmachen, Putzen und
Servieren unter sich aufgeteilt."
VOß-SCHARFENBERG, Sonja (1995): Geld war nie.
Spiegel-Serie Im Osten viel Neues (Teil 3): Die Schriftstellerin
über Mecklenburg,
in: Spiegel Nr. 38 v. 18.09.
SPIEGEL (1995): Vermächtnis der Eiszeit.
Umwelt: Der Aufbau Ost läßt einen unscheinbaren Rohstoff boomen:
Kies, sagen die Leute in Mecklenburg, ist wie Öl,
in: Spiegel Nr. 46 v. 13.11.
Der
Spiegel berichtet über die Goldgräberstimmung beim Kiesabbau
u.a. über Pläne bei Hallalit, einem Ortsteil von
Vollratsruhe:
"Es geht um
gigantische Flächen im Milliardengeschäft mit dem Kies,
Rücksicht auf die Interessen anderer wird da selten genommen.
Die Region Hallalit nahe der Müritz beispielsweise mit ihren
Hügeln, Tälern, Mooren und Wäldern ist so abwechslungs- und
artenreich wie kaum eine Landschaft; hier sagen sich Graureiher,
Kranich und Fischadler gute Nacht. Eine Region, wie modelliert
für Touristen, die nichts als Natur pur genießen wollen: das
»Tor zur Mecklenburgischen Schweiz«.
Doch adieu Fremdenverkehr. Ausgerechnet hier liegt Kies, viel
Kies, ein Vermächtnis der Eiszeit. Geht es nach den momentan
beantragten Abbauflächen, werden bald 46 Kieslöcher und Dutzende
von Dreißigtonnern die Ausflügler vergraulen. (...)."
Schon im August 1990 hatten sich viele volkseigene Kiesbetriebe
in Joint-ventures verwandelt; heute sind sie fest in
westdeutscher Hand. Als Morgengabe brachten die Ostfirmen ihre
Schürfrechte ein, die zwar - da ja staatliches Eigentum - neu
gekauft und bezahlt werden mußten, doch es wurden auf diese Art
langwierige Raumordnungsverfahren umgangen. Auch clevere
SED-Funktionäre und -Betriebsleiter hatten sich rechtzeitig
Schürfrechte gesichert und verkauften sie profitabel weiter.
In dieser Goldgräberstimmung steckte jeder seine Claims ab. So
(hat), Readymix aus Ratingen (...) das Zementwerk Rüdersdorf bei
Berlin übernommen und schaufelt in Mecklenburg, wo auch die
Haniel Baustoff KG Kies macht".
Im Jahr 2009
bestanden gemäß einer
kleinen Anfage die Tagebaue Hallalit Nordost, Landkreis
Müritz und Tagebau Hohen Wangelin, Landkreis Müritz, in denen
die Heidelberger Betonwerke GmbH Kies abbaute.
1996
SPIEGEL (1996): Nutzlos versichert.
Subventionen: Fast 300 Millionen Mark steckten die Schweriner
Landesregierung, der Bund und die Treuhand in eine
Pleite-Fabrik. Nun droht das Ende,
in: Spiegel Nr. 6 v. 05.02.
Der Spiegel
berichtet erneut über
Ribnitz-Damgarten und das dortige VEB Faserplattenwerk:
"Die
regierenden Parteien scheuen sich aus Angst um Wählerstimmen
gleichwohl, das Millionen-Grab an der Ostsee dichtzumachen. Der
Bestwood-Ruin wäre für die abgelegene Region eine Katastrophe.
Neben der Pleite-Fabrik gibt es in der 17.500-Einwohner-Stadt
Ribnitz-Damgarten nur kleine Händler und
Dienstleistungsbetriebe. Etliche Arbeiter sind zu DDR-Zeiten
extra für das Spanplattenwerk aus Thüringen und Sachsen in den
Norden gezogen. »Unvorstellbar für die, wenn Bestwood platt
gemacht würde«, sagt die sozialdemokratische Landtagsabgeordnete
Sigrid Keler, »wo sollen die Menschen denn hin?«"
SPIEGEL (1996): Üppiger Speckgürtel.
Grenzland: Die Kommunen an der ehemaligen Zonengrenze gehören zu
den Verlierern der Einheit: Immer mehr Firmen wandern nach Osten
ab.,
in: Spiegel Nr. 8 v. 19.02.
"Östlich der
ehemaligen DDR-Grenze von Wismar bis Plauen wächst ein von
Milliarden aus dem Steuersäckel üppig angefütterter Speckgürtel.
Im mecklenburgischen
Zarrentin etwa entsteht nur wenige hundert Meter jenseits
der Landesgrenze von Schleswig-Holstein ein »Mega Park«, den
bereits der Kaffeeröster Tchibo, ein Hamburger Autoimporteur und
ein Versandhaus für ärztliches Zubehör bevölkern. Für die
alteingesessene Hamburger Firma Kühne ist auch schon ein Platz
reserviert.
Immer mehr Unternehmer kommen auf den Dreh, daß die Verlagerung
ihrer Produktion für sie höchst profitabel ist - bei häufig
niedrigeren Löhnen, billigeren Grundstücken und Mieten sowie
reichlich Zuschüssen aus der Staatskasse für ihren Beitrag zum
Aufbau Ost. Die Verlegung kommt oft billiger als die
Modernisierung des alten Betriebs",
berichtet der
Spiegel über westdeutsche Verlierer und ostdeutsche
Gewinner der Wiedervereinigung.
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Absturz Ost.
Das Ende der
Blütenträume |
SPIEGEL (1996): "Vulkane sind überall".
Der ostdeutschen Wirtschaft droht der Absturz: Viele der wenigen
Betriebe, die den Weg in die Marktwirtschaft scheinbar schon
geschafft hatten, gehen pleite. Die industrielle Basis der neuen
Länder, ohnehin klein und brüchig, schrumpft weiter. Ist der
Aufschwung Ost vorbei, ehe er richtig begann?
in: Spiegel Nr. 6 v. 25.06.
"In
Mecklenburg-Vorpommern präsentierte das Wirtschaftsministerium
eine Liste von 31 »Anker«-Unternehmen, die von der Treuhand als
regional bedeutsam eingestuft worden waren. Fast die Hälfte
dieser Unternehmen gilt als akut gefährdet, darunter die
Schiffswerft Rechlin oder die Greifswalder Brauerei",
berichtet der
Spiegel über die Situation in Mecklenburg-Vorpommern, bei der
auch wieder Ribnitz-Damgarten erwähnt wird.
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Der neue Osten.
Im
Städtevergleich. Spiegel-Umfrage über Gefühl und Wirklichkeit |
SPIEGEL (1996): Der Osten wird bunt.
In der bisher umfassendsten Studie dieser Art hat der SPIEGEL
die Lebensqualität der 20 größten ostdeutschen Städte
untersuchen lassen. Ergebnis: Mit der von oben erzwungenen
Gleichheit ist es vorbei, Gewinner und Verlierer driften immer
deutlicher auseinander. Am zufriedensten sind die Menschen in
der Provinz,
in: Spiegel Nr. 41 v. 07.10.
Der
Spiegel vergleicht folgende 20 Städte in Ostdeutschland,
deren Bevölkerungsentwicklung zwischen 1990 und 1995 dargestellt
wird:
Rang |
Stadt |
Bundesland |
Bevölkerung 1995 |
Bevölkerungs-
gewinn/verlust
seit 1990 |
1 |
Leipzig |
Sachsen |
475.332 |
-
10,3 % |
2 |
Dresden |
Sachsen |
471.844 |
-
5,9 % |
3 |
Halle |
Sachsen-Anhalt |
285.485 |
-
11,3 % |
4 |
Chemnitz |
Sachsen |
269.375 |
-
10,8 % |
5 |
Magdeburg |
Sachsen-Anhalt |
260.936 |
-
9,5 % |
6 |
Rostock |
Mecklenburg-Vorpommern |
229.560 |
-
9,2 % |
7 |
Erfurt |
Thüringen |
211.982 |
-
2,3 % |
8 |
Potsdam |
Brandenburg |
137.469 |
-
2,8 % |
9 |
Gera |
Thüringen |
124.368 |
-
6,0 % |
10 |
Cottbus |
Brandenburg |
123.994 |
-
6,2 % |
11 |
Schwerin |
Mecklenburg-Vorpommern |
115.975 |
-
10,4 % |
12 |
Zwickau |
Sachsen |
103.332 |
-
13,1 % |
13 |
Jena |
Thüringen |
101.372 |
-
4,2 % |
14 |
Dessau |
Sachsen-Anhalt |
91.854 |
-
9,3 % |
15 |
Brandenburg an
der Havel |
Brandenburg |
86.526 |
-
7,4 % |
16 |
Frankfurt an der
Oder |
Brandenburg |
81.263 |
-
6,7 % |
17 |
Neubrandenburg |
Mecklenburg-Vorpommern |
81.250 |
-
10,7 % |
18 |
Plauen |
Sachsen |
68.431 |
-
7,5 % |
19 |
Görlitz |
Sachsen |
66.634 |
-
10,9 % |
20 |
Stralsund |
Mecklenburg-Vorpommern |
66.502 |
-
10,8 % |
MATUSSEK, Matthias (1996): Grenze ohne Schatten.
Spiegel-Serie Die deutsche Ostgrenze (Teil 1): Über die deutsche
Ostgrenze, wo der Kapitalismus viel, die Vergangenheit wenig
zählt,
in: Spiegel Nr. 41 v. 07.10.
Matthias
MATUSSEK beschreibt das Ostseebad Ahlbeck als das Sylt der
Nachwendezeit:
"Ahlbeck
sucht nach einer neuen Identität. Um die Jahrhundertwende war es
das mondäne Kaiserbad, im Zweiten Weltkrieg Durchgangsstation
für Millionen von Ostflüchtlingen, danach mit
realsozialistischem Beton zur FDGB-Erholungsfabrik
heruntergewirtschaftet, nun allmählich auf dem Weg zurück zur
Flaniermeile für betuchte Berliner Bürger. Ahlbeck, Sylt der
Nachwende, Promenadenglück im neuen Deutschland.
Nur ein paar hundert Meter östlich verläuft ein unscheinbarer
Zaun: die Grenze, die deutsche und polnische Badetücher trennt,
ihr nördlichster Punkt. (...).
Für die Urlauber im Ahlbeck von heute ist der Raum im Osten
lediglich der Preisvorteil hinter den Dünen - in den
Polenmärkten am Ende der schattigen Allee, die ins benachbarte
Swinemünde führt.
Die einstige preußische Hafenstadt, in der Fontane seine
Kindheit verbrachte, war im Zweiten Weltkrieg Flottenstützpunkt
und Anlaufstelle für Flüchtlingsboote in den letzten Kampftagen.
Am 12. März 1945 wurde sie von 700 US-Bombern praktisch zerstört
und erlebte ihre polnische Wiedererstehung als sozialistische
Retortenstadt. Nach der Wende entstand hier einer der größten
Schnäppchenmärkte des Landes. (...).
Allenfalls die Rentner, die sich auf der Seebrücke von Ahlbeck
treffen, interessieren sich für ein anderes Polen. Nämlich für
die einstige Heimat, das Deutsche unter polnischer Maske."
KLASSEN, Ralf (1996): Irgendwie der Arsch der Welt.
Spiegel-Serie Ostdeutschland (2): Über Pulow, ein Dorf in
Vorpommern, das ums Überleben kämpft,
in: Spiegel Nr. 43 v. 21.10.
Ralf KLASSEN
beschreibt die Tristesse in Pulow in Vorpommern, einem
Nachbarort von Lassan:
"In Pulow
geht es nicht mehr weiter. Am letzten Haus endet der einzige
Weg, der in das kleine Dorf führt. Früher gab es von hier aus
noch eine rumpelige Panzerplattenstraße nach Warnekow. Doch
Warnekow ist schon verlassen und abgerissen, die Straße
zugewuchert. Und in Pulow haben sie Angst.
48 Menschen, 4 registrierte und ein paar illegale Hunde, eine
Handvoll Katzen, einige Dutzend Hühner und Ziegen, eine Frage:
Wie lange noch?
Das Schicksal des Nachbardorfes Warnekow erfüllte sich schon zu
Zeiten des DDR-Regimes. Damals begann die Partei, ihre Bauern in
größeren Ortschaften zusammenzufassen, um - wie die Funktionäre
zu Unrecht glaubten - die Effizienz der Landwirtschaft zu
steigern. Eingebracht hat es den ländlichen Regionen in
Ostdeutschland nur Tausende von schmutziggrauen Plattenbauten,
die meist wie eine Art Mini-Marzahn an den Rand der zum
Überleben auserkorenen Dörfer geklotzt wurden.
Auch Pulow stand schon auf der Abrißliste der Kreisgenossen.
Doch obwohl die wie ihre DDR Vergangenheit sind, ist der kleine
Ort noch immer in Gefahr. »Endpunkt-Nachteil« heißt jetzt im
Wirtschaftsdeutsch die Krankheit, die Dörfer killt: Orte, so
weit ab von allem, daß anscheinend niemand für sie etwas übrig
hat - weder Phantasie noch Geld.
Dabei ist es eine schöne Gegend, dieser östliche Teil des
Landkreises Ostvorpommern, 15 Kilometer von der Kreisstadt
Anklam entfernt. (...).
An einer der hübschesten Stellen, direkt an einem See, liegt
Pulow. Es ist kein klassisches Dorf, es gibt weder eine Kirche
noch einen zentralen Platz. Die Häuser, manchmal nicht mehr als
ausgebaute Schuppen, sind ungeordnet auf ein paar Hügelchen
verteilt. Idylle, so nennt man das wohl anderswo, »irgendwie ja
der Arsch der Welt« nennt es (CDU-)Bürgermeister Matthias Andiel,
40. (...).
Jede Abwanderung raubt dem Gemeindeetat wertvolles Geld.
Da freut sich Andiel diebisch, wenn er seinem Kollegen aus dem
benachbarten Lassan (...) ein paar der seltenen Neuankömmlinge
»klauen« kann. (...).
»Viele ergeben sich in ihr Schicksal«, sagt Dieter Markhoff,
CDU-Landtagsabgeordneter aus Anklam. »Das ist die Mentalität
hier.« Er wünscht sich »ein bißchen mehr Eigeninitiative meiner
Leute, die könnten ab und an mal selbst was in die Hand nehmen«.
Was auch immer da in die Hand genommen werden soll, viel gibt es
davon nicht mehr in Pulow und Umgebung - und das beste Beispiel
dafür ist ausgerechnet die einstige und einzige Stärke
Vorpommerns, die Landwirtschaft."
KLASSEN
knüpft hinsichtlich der Landwirtschaft an
frühere Spiegel-Artikel
an, in denen die Umwandlungen der LPGs kritisiert wurden. Doch
die Stimmung ist im Gegenteil von Nostalgie geprägt:
"Es gibt
nicht wenige, vor allem unter den alten Pulowern, die sich am
liebsten die Rückkehr der alten Herren und eine Umkehrung des
DDR-Slogans aus der Zeit der Enteignungen wünschen: Bauernland
in Junkerhand."
Aber
Alternativen fehlen, denn der Tourismus ist dazu nicht in der
Lage:
"Der
Bürgermeister (...) schwärmt er von »Agrarurlaubern« und
»Wanderwegnetzen«, von »Kunst-Workshops« und »sanftem
Tourismus«, bis nichts mehr übrig ist von seinem düsteren
Realismus. Dabei kann (...) ein Land gar nicht so schön sein,
als daß es all die kühnen Träume vom rettenden Massentourismus
erfüllen könnte, die sämtliche Lokal- und Landespolitiker,
Hoteliers und Kurdirektoren, Gastwirte und Autobahnbauer in
Mecklenburg-Vorpommern haben. Wahrscheinlich müßte das Land mehr
Besucher als Mallorca verzeichnen, um jene Gästebetten zu
füllen, die nun noch zu den ohnehin schon 100.000 vorhandenen
geschaffen werden sollen - und schon die waren in diesem Sommer
nur zu 41 Prozent belegt."
LANGE-MÜLLER, Katja (1996): "Letztes Loch vor der Hölle".
Spiegel-Serie Ostdeutschland: Die Schriftstellerin über Lassan,
ein typisches Städtchen in Vorpommern,
in: Spiegel Nr. 43 v. 21.10.
"In Lassan,
bis 1990 Schlafstadt der Peenewerft Wolgast, die mit 4000
Beschäftigten (heute 700) der wichtigste Betrieb in der Gegend
war, wohnen nach des Bürgermeisters letzten Zahlen 1710
Menschen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 bis 65 Prozent.
(...).
Für die zumeist noch bei ihren Eltern, Ex-Peenewerftlern,
lebenden Jugendlichen, die alle weggehen wollen, zu
irgendwelchen Lehrstellen hin, gibt es einen Klub, der um 20 Uhr
schließen muß, denn in den oberen Stock ist eine Familie
gezogen",
erzählt uns
Katja LANGE-MÜLLER über Lassan im Landkreis Ostvorpommern,
dessen Bürgermeister als Problemfall beschrieben wird.
SPIEGEL (1996): Kurze Beine, kurze Wege.
Schulen: Sinkende Schülerzahlen bringen die alte Dorfschule
zurück - und ermöglichen eine zukunftsorientierte Ausbildung,
in: Spiegel Nr. 45 v. 04.11.
Der
Spiegel berichtet über den Rückgang der Schülerzahlen in den
ostdeutschen Grundschulen und sieht die altersmäßig gemischten
Grundschulklassen als Lösung:
"Seit
der Wiedervereinigung sind die Geburtenzahlen in den neuen
Ländern rapide gesunken, von 178 000 im Jahr 1990 auf 82 000 im
Jahr 1995. Der Rückgang trifft in den nächsten Jahren die
Bildungsstätten. Gab es 1993 in Ostdeutschland insgesamt noch
rund 909 000 Grundschüler, werden es im Jahr 2003 gerade noch
409 000 sein.
(...).
In Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit und ohne wirtschaftliche
Perspektive ist die Dorfschule für die Menschen oft der letzte
kommunale Identifikationspunkt, dort lernen nicht nur die
Kinder; in der Turnhalle trainiert auch der Sportverein, und die
Landfrauen treffen sich in der Aula.
Mecklenburg-Vorpommern will, auch um in den kleinen Dörfern den
letzten Rest sozialer Infrastruktur zu erhalten, in Zukunft
einzelnen Schulen ebenfalls erlauben, die Klassen altersmäßig zu
mischen. In Bayern und Baden-Württemberg ist es in kleinen
Gemeinden auf dem Land seit Jahren üblich, wenn nötig,
verschiedene Klassenstufen gemeinsam pauken und büffeln zu
lassen."
1997
SPIEGEL (1997):
Teure Ruhe.
Luftverkehr: Die meisten der ostdeutschen Regionalflughäfen, mit
vielen Fördermillionen erbaut, bringen nur Verluste ein,
in: Spiegel Nr. 3 v. 13.01.
Bericht über
die Regionalflughäfen
Rechlin-Lärz,
Barth und ein geplantes Großprojekt:
"In
Mecklenburg-Vorpommern kommt das von Ex-Verkehrsminister Günther
Krause geplante Vorhaben, den
ehemaligen Armeeflughafen in der Nähe der Kleinstadt Parchim
zur internationalen Luftverkehrsdrehscheibe zu machen, nicht
voran. Nur ab und zu verirrt sich mal ein Großflugzeug in die
Gegend, wenn die Lufthansa auf dem Gelände Starts und Landungen
übt. In den Airport sind schon 40 Millionen Mark an
Fördergeldern geflossen, weitere 40 bis 100 Millionen werden
noch gebraucht."
SPIEGEL (1997):
Schienen schlachten.
Bahn: Die Bahn möchte mehr als ein Viertel ihres Gleisnetzes
abstoßen. Die Pläne machen keinen Sinn,
in: Spiegel Nr. 12 v. 17.03.
"700
Strecken, (...) so eine interne Vorstandsvorlage, (sind) aus
Sicht der Bahn unrentabel (...).
Rund 11.700 Kilometer Gleisstrecken würde der Staatsbetrieb gern
abstoßen, so ist in den vertraulichen Papieren zu lesen, mehr
als ein Viertel des gesamten Netzes. Sie seien auf Dauer
wirtschaftlich nicht zu betreiben.
Fast 5.000 Kilometer dieses Netzes gelten als echte
»Schwachlaststrecken«, die als erste vor der Ausmusterung
stehen. Lassen sich keine privaten Betreiber finden, die diese
Gleise übernehmen, droht die Stillegung. (...).
Es ist kaum vorstellbar, in Thüringen oder
Mecklenburg-Vorpommern rund zwei Drittel der Gleise abzureißen",
schreibt der
Spiegel zu geplanten Streckenstilllegungen. Eine Grafik
gibt für Mecklenburg-Vorpommern 1.825 Streckenbestand an. Für
die ostdeutschen Flächenländer ergeben sich folgende
Streckenlängen und geplante Stilllegungen:
Rang |
Bundesland |
Gesamtlänge der Bahn |
Fläche |
Streckenlänge
pro 100 km2 |
Anteil der
Stilllegungen |
1 |
Brandenburg |
3.095 |
29.654 km2 |
10,4 |
39,4 % |
2 |
Sachsen |
3.041 |
18.450 km2 |
16,5 |
34,2 % |
3 |
Sachsen-Anhalt |
2.684 |
20.452 km2 |
13,1 |
36,9 % |
4 |
Thüringen |
1.993 |
16.202 km2 |
12,3 |
66,4 % |
5 |
Mecklenburg-Vorpommern |
1.825 |
23.292 km2 |
7,8 |
62,9 % |
Bezieht man
die Streckenlänge auf die Fläche der Bundesländer, dann zeigt
sich, dass Mecklenburg-Vorpommern mit Abstand am schlechtesten
abschneidet. Neben Thüringen wäre das Land zudem besonders stark
von geplanten Streckenstilllegungen betroffen
SPIEGEL (1997):
Gasfackel am Ostseestrand.
Tourismus,
in: Spiegel Nr. 25 v. 16.06.
Bericht über
geplante Erdgasförderung in der Nähe der Badestrände von
Heringsdorf und Bansin auf Usedom.
SPIEGEL (1997):
Costa Brava an der Ostsee.
Mecklenburg-Vorpommern, zweitärmstes Bundesland der Republik,
setzt auf den Massentourismus. Der Bauwahn an der Küste zwischen
Lübeck und Stettin beschädigt eine einzigartige Naturlandschaft.
Ob er den Aufschwung bringt, ist zweifelhaft,
in: Spiegel Nr. 30 v. 21.07.
Der
Spiegel berichtet über geplante Großprojekte. Neben
Heiligendamm gehört Kühlungsborn dazu:
"Der
Fremdenverkehr gilt als letzter Rettungsring vor der drohenden
wirtschaftlichen Katastrophe an der Ostseeküste. Rund 900
Millionen Mark pumpen der Bund und das Land derzeit jährlich in
die einzig zukunftsträchtige Branche von Mecklenburg-Vorpommern.
Das Land zwischen Lübeck und Stettin hat viel Natur zu bieten,
mit weiten Seen und schönen Wäldern, altehrwürdigen, wenn auch
etwas ramponierten Seebädern, kilometerlangen feinen
Sandstränden - einmalig an der deutschen Ostseeküste.
Genau deshalb erlebte Mecklenburg-Vorpommern nach der Wende
einen Besucheransturm, dem die in 40 Jahren real existierendem
Sozialismus vergammelte Infrastruktur nichts entgegenzusetzen
hatte. Kleine Pensionsbesitzer begriffen ebenso rasch ihre
Chance wie Großinvestoren aus dem Westen, sich mit Hilfe von
üppig fließenden Fördergeldern eine goldene Zukunft zu schaffen.
Im Land der Werftenkrise, mit einer Arbeitslosenquote von 17,9
Prozent, hängt mittlerweile jeder zwölfte Arbeitsplatz am
Fremdenverkehr. (...).
Am Strandboulevard in Kühlungsborn, dem größten ostdeutschen
Seebad, nur wenige Kilometer westlich von Heiligendamm, reiht
sich ein neues Hotelprojekt an das nächste. Wenn Werner Stange,
Baurat in Kühlungsborn, durch seine Stadt spaziert, sieht er die
vielen Neubauten mit Sorge. (...)
Allein durch die bereits in Bau befindlichen oder genehmigten
neuen Hotels oder Ferienwohnungen wird sich nach seinen
Berechnungen in den nächsten drei Jahren die Zahl der
Fremdenbetten im Ort von 6.500 auf über 13.000 erhöhen. (...).
Voller Wehmut redet man überall an der Küste von den
Jahrhundertsommern 1994 und 1995, welche die Kassen gefüllt und
den Blick auf deutsche Wetternormalität verklärt hatten. Das
vergangene Jahr lief mit einer durchschnittlichen Auslastung von
38 Prozent mehr als mies. Die diesjährige Saison hat sich kaum
besser angelassen. Im Winter werden wohl die ersten Betriebe
aufgeben müssen, wenn die Rückzahlung der Kredite ansteht.
(...).
Eine arme Region durch Urlauber zu retten, das mag in Spanien
oder Griechenland (...) gelungen sein (...) vor allem dank über
200 Tagen Sonne im Jahr.
Doch was macht man in Mecklenburg, wo die Sonne nicht öfter
scheint als auf Sylt, in Hannover oder in Wiesbaden?
»Saisonverlängernde Maßnahmen« ist der Zauberspruch, der seit
dem letzten verregneten Sommer in allen Köpfen ist.
Und so konzipieren und bauen sie nun überall Spaßbäder und
Schießanlagen, Tennishallen und Reitzentren - und machen sich
kaum Gedanken darüber, warum ein Tourist aus Sachsen oder Hessen
im Oktober kommen soll, um in Mecklenburg in Hallen zu baden
oder Reitunterricht im Regen zu nehmen. Auch in Kühlungsborn
will man sich um wetterunabhängige Klientel bemühen: Ein
Kongreßzentrum mit 1000 Plätzen soll mitten im Ort entstehen,
verbunden durch eine lange Seebrücke mit einem Luxushotel auf
einer Sandbank."
War in
vergangenen Berichten noch vom Wunsch nach "sanftem Tourismus"
zu lesen, so heißt es nun:
"Mecklenburg-Vorpommern ist wohl das Bundesland mit den
wenigsten Umweltschützer pro Hektar schützenswerter Umwelt. Ein
kleiner versprengter Haufen ist westlich von Kühlungsborn zu
finden. In der Gemeinde Rerik soll die konsequente Ergänzung zu
all den Luxusvillen, Golfplätzen, Jachthäfen und Kongreßzentren
errichtet werden: ein Fliegerpark nach amerikanischem Vorbild.
Zu diesem Zweck will eine Hamburger Investorengruppe den kleinen
Sportflughafen in Zweedorf üppig ausbauen. 37 Luxus-Ferienhäuser
und ein Motel für Hobbypiloten sollen auf dem Gelände entstehen.
(...).
Der Flugplatz liegt zwar mitten in der Gemeinde Rerik, gehört
aber zu der rund zehn Kilometer entfernten Gemeinde Bastorf, die
auch die Steuern kassiert. Und die treibt das Vorhaben im
Eilverfahren voran, unbeeindruckt von der Reriker
Bürgerinitiative gegen den künftigen Fluglärm.
Schöne Aussichten für die Flieger: In ihrer neuen
Einflugschneise liegt die Halbinsel Wustrow, die erst vor kurzem
von der Landesregierung an einen West-Investor verkauft wurde.
Der will dort ein Projekt für ökologisch vorbildlichen Tourismus
errichten - mit Windanlagen, Öko-Häusern und natürlicher
Abwasserentsorgung."
SCHUMACHER,
Hajo (1997): Kaff der guten Hoffnung.
Aufbau Ost: Wer im Osten auf den Aufschwung hofft, kann lange
warten. Originelle Ideen versprechen nur Erfolg, wenn eine
Kommune sich als "bedingungsloser Dienstleister" versteht - das
beweisen Wirtschaftsförderer im vorpommerschen Wolgast,
in: Spiegel Nr. 39 v. 22.09.
Hajo
SCHUMACHER berichtet darüber wie mit westlichem Humanexport die
Ossis für die Selbstständigkeit fit gemacht werden:
"18 Firmen
hat Geyer (...) auf die Beine geholfen, meist Einmannbetriebe
wie der Buchhaltungsservice (...) oder die Lkw-Waschanlage im
Industriegebiet. Inzwischen nutzen sogar Auswärtige den
EGZ-Service. (...). So entstanden 200 neue Jobs in einer Region,
wo die Arbeitslosenrate nur in der Urlaubssaison unter 20
Prozent fällt. Ein winziger Posten für die Nürnberger Statistik,
aber eine gewaltige Entlastung für die Wolgaster Stadtkasse.
(...).
Geyer, der gern unbefangenen amerikanischen Optimismus
verbreitet, mußte lernen, daß in seinem neuen Revier bedächtige
Vorpommern leben, die eine risikoarme Lebensplanung bevorzugen
und lieber gar nichts tun, als zu einem jener 9.000 Pleitiers zu
gehören, die in diesem Jahr für die neuen Länder prognostiziert
werden. (...).
Bürgermeister Jürgen Kanehl, 46, (sieht) für seine 15.344 Bürger
keine Alternative zur Ameisenstrategie. »Nur Krümel für Krümel«
lasse sich Wolgast in ein Kaff der guten Hoffnung verwandeln,
mit einer Welle von Gründungen, von denen einige vielleicht
überleben.
Das Warten auf den gütigen Großinvestor dagegen, der auf einen
Schlag die in der Peene-Werft oder im nahe gelegenen
Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald abgewickelten mehr als 5.000
Arbeitsplätze zurückbringt, hält Kanehl für Selbstbetrug. Zumal
die mit über einer halben Milliarde Mark subventionierte Werft
lieber portugiesische Leichtlohnschweißer einfliegen läßt, als
örtliche Fachkräfte anzuheuern.
So lockt Kanehl statt der Großindustrie lieber wagemutige
Einzelkämpfer, denen er eine »bedingungslose
Dienstleistungsmentalität« verspricht."
West-Manager
und West-Bürgermeister schaffen für Wolgast Arbeitsplätze im
Niedriglohnsektor, z.B. in Call-Centern.
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Steuer-Paradies Ost.
Wie der
Abschreibungswahn die Staatsfinanzen und so manches Privatvermögen
ruiniert |
SPIEGEL (1997):
Fehl-Steuer Ost.
Mit dem größten Steuergeschenk aller Zeiten wollte der Staat den
Aufbau Ost fördern - und mehrte statt dessen das Vermögen
cleverer Westler. Die fatale Folge: Im Osten entstehen Wohnparks
und Büropaläste, die keiner braucht - und in Bonn
Milliardenlöcher, die keiner überblickt,
in: Spiegel Nr. 46 v. 11.10.
"Adlon-Bauherr
Anno August Jagdfeld will (...) mit Hilfe von 300
Anlegermillionen das einst mondäne Ostseebad Heiligendamm
wiederbeleben. Doch es entstanden auch unzählige Büropaläste und
Wohnparks, die in dieser Fülle keiner braucht - und die nun als
Potemkinsche Dörfer in der blühenden Landschaft stehen.
Die Hauptprobleme des Ostens, eine unzureichende
Industriestruktur, Betriebe mit zu geringem Kapitalstock, wurden
durch die Sonderabschreibungen nicht gelöst. Nur maximal ein
Drittel der privaten Gelder floß in die Firmen. Und siehe da:
Kaum läßt der Bauboom nach, sacken die Wachstumsraten wieder
nach unten. In diesem Jahr wird die Wirtschaft in den neuen
Ländern nur noch mit zwei Prozent wachsen - und damit langsamer
als im Westen",
berichtet der
Spiegel über die Folgen der Sonderabschreibung Ost.
SCHMIDT-KLINGENBERG,
Michael (1997): "Da ist noch so viel Schutt".
Aufbau Ost: In einer vergessenen Ostecke des neuen Deutschlands
suchen zwei kleine Orte Anschluß an die Zukunft. In Ducherow
lähmen sich alt-neue Honoratioren gegenseitig, das Städtchen
Torgelow erstrahlt in fast schon unwirklichem Glanz,
in: Spiegel Nr. 44 v. 27.10.
Michael
SCHMIDT-KLINGENBERG stellt Ducherow als typische Gemeinde in
Vorpommern vor:
"Hier am
Ostrand Deutschlands steht alles noch etwas stiller als anderswo
am Standort D. Die Arbeitslosen sind noch arbeitsloser - zu rund
30 Prozent. Die Unternehmer sind noch etwas unternehmungsloser -
neben der Tankstelle erstrecken sich blühende Landschaften mit
eigener Straßenbeleuchtung: Im einst mit acht Millionen Mark
hergerichteten Gewerbegebiet leuchtet in strahlender Einsamkeit
das neue Haus der Freiwilligen Feuerwehr Ducherow. (...).
1993 wurde ein großes Jahr in der 690jährigen Geschichte von
Ducherow. Lüder eröffnete seine Speise-Tanke, daneben errichtete
ein Herr Wunderlich aus dem Westen ein Domitel. Das Hotel hat
ein auf Kirchenbau spezialisierter Architekt mit einer gläsernen
Domkuppel gekrönt - nun steigen dort Bustouristen ab, die sich
eine Nacht auf dem teuren Usedom nicht leisten können. Das
Diakonische Werk weihte im selben Jahr ein menschen- und
tierfreundliches Altenpflegeheim ein (...).
Aber jetzt herrscht wieder Ruhe in Ducherow."
Torgelow
steht dagegen für die Ausnahme in der Region:
"Um das
renovierte Rathaus ist ein ganz neues, strahlend weißes
Ortszentrum entstanden. Die sowjetischen Soldatengräber mitten
in Torgelow, ewiges Mahnmal der Befreiung mit anschließender
Unterdrückung, wurden in einem feierlichen Akt auf den
städtischen Friedhof am Ortsrand umgebettet. Nun ist an der
Stelle des »Russenfriedhofs« der Parkplatz des neuen Zentrums.
Die Plattenbauten der Albert-Einstein-Siedlung sehen dank
geschickter Bemalung, neuer Balkone und ein paar modischer
Attrappen wie neu aus. Im Gewerbegebiet hat sich, bald nach der
Bar »Zur Banane«, die Firma ME-LE angesiedelt, Holding eines
kleinen Konglomerats der Heizungs- und Regelungstechnik mit über
1000 Mitarbeitern in ganz Deutschland.
Diesen Sommer reisten Professoren (...) auf Einladung eines
Torgelow-Instituts in die Stadt am deutschen Rand, um im
Ueckersaal des neuen Zentrums über die Zukunft der Region »Mare
Balticum« zu debattieren und mit Architektur-Studenten aus Polen
und Deutschland Ideen-Entwürfe für die weitere Stadtentwicklung
zu produzieren. Noch diesen Herbst soll der Vertrag für ein
Modellprojekt des Siemens-Konzerns unterschrieben werden, für
»Xenia - die Stadt des Wissens«. Das sind ungeheure
Entwicklungen für einen zusammengewürfelten Ort mit 12.000
Einwohnern, der seine Erhebung zur Stadt 1945 nur einem
ehrgeizigen russischen Offizier verdankt, dem der Titel
Dorf-Kommandant zu schäbig klang."
Aber wie
erklärt sich der Unterschied?
"Unter den
Strukturschwächen der Region leiden Ducherow wie Torgelow
gleichermaßen. "Eine kleine DDR" nennt der Greifswalder Geograph
Helmut Klüter Vorpommern, weil wie einst im Sozialismus die
Staatswirtschaft dominiert - es fehlt schlicht an privaten
Unternehmen. Allein die Ausgaben von Land und Gemeinden machen
hier mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes aus, der
höchste Anteil in Deutschland.
Vorpommern liegt seit über 50 Jahren in der Ecke. (...). Im
Norden saugen die frisch aufgeputzten Ostseebäder fast jeden
Touristen ab, im Osten holen sich die Polen die spärliche
Kaufkraft der Einheimischen. (...) Die Ducherower fahren über 50
Kilometer bis zum nächsten Grenzübergang, um drüben billiger zu
tanken. Ihr Geld lassen sie nicht bei »Pick''s raus« und im
Plus-Markt, sondern bei den Textil- und Zigarettenhändlern von
Lubieszyn. (...).
Ducherow liegt irgendwo zwischen den Welten: Aus der
sozialistischen Vergangenheit noch nicht ganz gelöst, in der
kapitalistischen Zukunft noch nicht richtig angekommen. Im
Niemandsland dazwischen ist die Zeit stehengeblieben",
schreibt
SCHMIDT-KLINGENBERG über das landwirtschaftlich geprägte
Ducherow. Torgelow ist dagegen von der Deindustrialisierung und
proletarischer Tradition geprägt:
"Auch in
Torgelow gab es nach der Wende erst mal Knatsch.
Zusammengebrochen war die Gießerei (...). 2.000 Menschen
verloren ihre Arbeit, ein Altkader mit ungebrochenen
Bonzenallüren ruinierte inzwischen den kümmerlichen Restbetrieb
mit 80 Leuten.
Der neue Bürgermeister Ralf Gottschalk, ehemals Ingenieur der
Gießerei und Synodaler der Evangelischen Kirche, holte den
Recyclingbetrieb Irut in seine Gemeinde. Doch die Einwohner
hielten das angebliche High-Tech-Projekt nicht ganz zu Unrecht
für eine bessere Mülldeponie und stimmten es in der ersten
Volksabstimmung der neuen Länder nieder.
Im Mai 1993 hatten 60 Prozent der Torgelower keinen Job mehr
oder brachten sich nur noch in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen
durch. Mit Krediten wurde renoviert, mit Krediten wurde gebaut,
aber die strahlenden weißen Mauern waren eine hohle Hülse.
Immerhin, es gab noch Dietrich Lehmann. Der hatte sich schon
gleich nach der Wende mit den 70 besten Technikern aus einem
Kombinat selbständig gemacht, das die Treuhand später als HGS
Hausgeräteservice bis an den Rand der Pleite privatisierte.
Lehmann war aus Torgelow, und in einem ökonomisch
abenteuerlichen Akt von Lokalpatriotismus verlegte er die
Zentrale seines schnell wachsenden Imperiums in das Städtchen.
Rund 500 Menschen arbeiten inzwischen in der Gegend für ihn
(...). Dennoch sind die harten Daten des Arbeitsmarktes in
Torgelow - noch immer rund 30 Prozent Arbeitslose - heute nicht
besser als im verschlafenen Ducherow. Anderswo wäre der Jammer
groß - nicht so in Torgelow. Eine fast schon irrationale
Aufbruchstimmung ist dieses Jahr über das Städtchen gekommen.
Vielleicht ist es nur die Euphorie vor dem Ende, vielleicht aber
ist es auch jener Schwung, der sich selbst zum Aufschwung
trägt."
Und wenn es
um Hoffnungen für Vorpommern geht, dann geht es um das polnische
Stettin:
"Wo liegt
denn Torgelow? Irgendwo im Nirgendwo zwischen dem Abgrund am
Rande der ehemaligen DDR und dem zukünftigen EU-Mitglied Polen.
Doch noch gibt es nur einen Fußgängerübergang in Richtung des
alten pommerschen Zentrums Stettin bei einer Ortschaft namens
Hintersee. Auf diese Verbindung aber setzen die Torgelower ihre
Hoffnung, auf eine neue Gemeinschaft gen Osten, die für viele in
der Region noch bedrohlich wirkt."
1998
SPIEGEL (1998):
Von Beruf Mutti.
Nachwuchs: Seltsamer Aufschwung Ost: Im vorpommerschen Kreis
Uecker-Randow werden immer mehr Minderjährige Mutter,
in: Spiegel Nr. 2 v. 05.01.
Der
Spiegel entdeckt im Landkreis Uecker-Randow das Phänomen der
Sozialhilfemutter, das erst in den Nuller Jahre prominent werden
wird:
Teenagerschwangerschaften "häufen sich seit zwei Jahren in dem
vorpommerschen Landkreis Uecker-Randow. In der 89 000 Einwohner
zählenden Region im Nordosten der Republik hat sich 1997 die
Zahl an minderjährigen Müttern auf 38 verdoppelt, während sie
landesweit konstant geblieben ist. Acht weitere Mädchen erwarten
Anfang dieses Jahres Nachwuchs. Die beiden jüngsten Mütter sind
14 Jahre. In ganz Mecklenburg-Vorpommern werden jährlich rund
130 junge Mädchen Mutter. (...).
Sozialarbeiter und Behörden haben für den seltsamen Aufschwung
Ost nur eine plausible Erklärung: In Uecker-Randow treibt die
Zukunftsangst viele Minderjährige in die Mutterschaft. (...).
In der DDR waren frühe Schwangerschaften und Heiraten aus
materiellen Motiven gang und gäbe (...).
Auch die neue Obrigkeit kümmert sich: Kann eine Mutter den gesetzlich
garantierten Mindestbedarf für Miete und Lebensunterhalt nicht
aufbringen, so sorgt das Sozialamt für ihr Auskommen. Nach der
jüngsten Änderung des Abtreibungsparagraphen 218 wurde der
Anspruch auf Sozialhilfe erweitert. Seit August 1996 bekommen
minderjährige Mütter Sozialhilfe, unabhängig vom Einkommen der
Eltern. (...).
Der Kreis, von jeher ein armer Landstrich und seit dem
Zusammenbruch der DDR-Agrarwirtschaft eines der
strukturschwächsten Reviere in Deutschland, verzeichnete im
vergangenen November offiziell eine Arbeitslosenquote von fast
25 Prozent (Landesdurchschnitt: 21 Prozent), doch die
tatsächliche Zahl liegt weit höher. Besonders betroffen sind
Frauen; jede dritte hat keinen Job."
SPIEGEL (1998):
Schneller Geist der Ahnen.
Eisenbahn: Die Ostsee-Insel Usedom galt einst als "Badewanne von
Berlin". 1945 wurde die wichtigste Festlandverbindung gesprengt:
die Karniner Brücke. Ein Verein kämpft für ihren Wiederaufbau,
in: Spiegel Nr. 23 v. 01.06.
Der
Spiegel berichtet über den Konflikt um die Südanbindung der
Insel Usedom, der auch
20 Jahre später noch virulent ist:
"Die
demolierte
Karniner Hubbrücke harrt als Baudenkmal im Peenestrom
aus, ein Triumphbogen des Volkes von Usedom. Die Reichsbahn
mußte die Abrißkräne abbestellen; die Brücke wurde zum Denkmal
erklärt.
Die »Freunde«, (...) ein Verein, den Gemeinden, Politiker und
Unternehmer der Insel fördern, verfolgen stur ihr Ziel: die
Wiederbelebung der Schnellverbindung zwischen Berlin und Usedom.
Rund vier Stunden braucht man heute von Berlin nach Usedom, egal
ob per Bahn oder Auto. Dabei nannte man einst die malerische
Insel »Badewanne von Berlin«. Laut Sommerfahrplan von 1935
erreichten die Hauptstädter sogar den Ostzipfel von Usedom,
Swinemünde, so schnell wie Hamburger heute Sylt: in zwei Stunden
und 36 Minuten. (...).
Die polnische Grenze durchschneidet den Osten der Insel vor
Swinousjcie, dem früheren Swinemünde. Mit 50.000 Einwohnern hat
die alte Kurstadt fast doppelt so viele Bürger wie alle
deutschen Inselgemeinden zusammen. Die Stadtväter drängen auf
die Öffnung des Schlagbaums, die ihnen die deutsch-polnische
Grenzkommission bereits zugesagt hat. Ihre Bürger können aufs
polnische Festland nur per Fähre, nach Deutschland nur zu Fuß.
»Wenn erst die Laster von Swinemünde-Hafen über die Insel
rollen«, fürchtet auch Hans-Joachim Mohr, SPD-Bürgermeister der
Grenzgemeinde Ahlbeck, »kollabiert der Verkehr.« Um das zu
verhindern, unterstützt der Ort die Eisenbahnfreunde. Bis zum
Krieg war Ahlbeck eines der bestbesuchten Seebäder Deutschlands
- heute gilt Usedom eher als Geheimtip und manchen als
Horrortrip. Jugendliche Schläger mit kahlgeschorenen Köpfen
machten die Insel deutschlandweit bekannt. (...).
Rund 150 Millionen Mark würde der Wiederaufbau der alten
Berliner Direktverbindung samt Brücke laut einer neuen Studie
kosten - ein Drittel dessen, was offiziell prognostiziert und
damit für zu teuer befunden wurde. Das hat ein finanzkräftiger
Freund der Usedomer Eisenbahn (»aus dem Westen«) ausrechnen
lassen von Contrack, einem auf Schienenprojekte spezialisierten
hannoverschen Ingenieurbüro. Zwar fehlen von Ducherow in
Vorpommern nach Heringsdorf auf Usedom auf 40 Kilometern die
Gleise, weil sie 1948 als Reparationsleistung nach Rußland
gingen. Aber die Grundstücke gehören noch der Bahn (...).
Usedom-Liebhaber Johannes Ludewig, Chef der DB, schließt die
Wiederinbetriebnahme der Karniner Brücke »bei höherem
Verkehrsaufkommen« zwar nicht aus. Vorrangiges Ziel sei aber,
eine »vernünftige Bahnverbindung über Wolgast« anzubieten, so
Ludewig. In Wolgast gibt es eine neue Klappbrücke, über die die
Bahnreisenden jetzt noch ihre Koffer bis zur Usedomer Bäderbahn
schleppen. Bald soll ein Gleis über die Brücke gelegt werden; 75
Millionen Mark investiert der Bund in die Anbindung.
»Die neue Brücke ist zu schwach für einen Fernzug«, höhnt der
pensionierte Stahlbauingenieur Nadler. Nur 60 Tonnen Gesamtlast
trage das Bauwerk. Die Berliner DB-Filiale habe bereits
errechnet, daß nur antiquierte oder leichte Triebfahrzeuge in
Frage kämen wie der RegioSprinter, der keine Kurswagen ziehen
darf.
Bahnsprecher Reiner Latsch dementiert das; nur für Güterverkehr
sei die Brücke nicht ausgelegt. Im übrigen prüfe die DB auch
eine weitere Verbindung nach Berlin: über Stettin und Swinemünde.
Schon 2000 solle aber die Direktverbindung nach Heringsdorf über
Wolgast in Betrieb gehen - Fahrtzeit dreieinhalb Stunden.
Da war schon der »Strohwitwer-Expreß« eine Stunde schneller. So
nannten die Usedomer früher die Schnellzüge, weil viele Berliner
sie bloß nutzten, um ihre Gattinnen auf der Insel abzuliefern."
SPIEGEL (1998):
Golfplatz statt Rendite.
Immobilien: Mit einem Grand Hotel und Luxusvillen will ein
Investor Touristen an die Ostsee locken. Doch die Einheimischen
wehren sich, und am Geld fehlt es auch,
in: Spiegel Nr. 25 v. 15.06.
"Mit vorerst
320 Millionen Mark plant Jagdfeld in Heiligendamm
Ostdeutschlands größtes Tourismusprojekt, das am Ende, wenn
später 150 Villen und eine Reihe von Wohnungen gebaut werden,
wohl weit mehr als eine halbe Milliarde Mark verschlingen wird.
Danach soll Wustrow mit 480 Millionen Mark an der Reihe sein.
Bislang jedoch ist noch kein Bagger aufgefahren. In Heiligendamm
wie auf Wustrow wächst der Mißmut über den Großinvestor. Die
Ostseegemeinde Rerik will den Fondsinitiator aus Aachen nicht
auf Wustrow haben",
berichtet der
Spiegel über die Pläne eines westdeutschen Großinvestors
in Heiligendamm und auf Wustrow.
SPIEGEL (1998):
Kampf ums Erbe.
Bodenreform: Zwischen 10.000 und 20.000 Familien fürchten um ihr
rechtlich verbrieftes Erbe aus der DDR-Bodenreform. Die neuen
Länder treiben rigoros ehemaliges Staatsland ein,
in: Spiegel Nr. 32 v. 03.08.
SPIEGEL (1998):
Die neue Ostzone.
Spiegel-Serie Projekt Deutschland 2000: Absturz und Aufschwung
liegen in Ostdeutschland dicht beieinander: Acht Jahre nach dem
Ende der Planwirtschaft blühen immer mehr High-Tech-Oasen
inmitten einer industriellen Dürrelandschaft. Der Osten muß auch
weiterhin mit Geld und intelligenten Ideen gefördert werden -
wie eine Sonderwirtschaftszone,
in: Spiegel Nr. 38 v. 14.09.
Der
Spiegel ignoriert die Situation in Mecklenburg-Vorpommern,
weil es nicht zum Aufstiegs-Bild in Ostdeutschland passt:
"Ökonomen
(warnen) vor beidem: vor übertriebenem Optimismus, aber auch vor
jenen Schwarzmalern, die bloß vom »Mezzogiorno« reden, Chiffre
für die angebliche Verelendung des Osten. Denn entstanden ist
eine Landschaft voller Kontraste: In den ländlichen Gebieten von
Mecklenburg-Vorpommern oder im Brandenburgischen nahe Polen
mangelt es an Altbetrieben und an Gründern. Zur gleichen Zeit
entwickelt sich am Rande der Hauptstadt ein wuchtiger
Speckgürtel, der den Brandenburgern 1997 mit 2,9 Prozent das
höchste Wachstum aller Bundesländer bescherte."
Eine Grafik
(S.41) verlegt das brandenburgische Schwedt nach
Mecklenburg-Vorpommern, um wenigstens ein Vorzeige-Unternehmen
in dem nördlichsten Bundesland vorweisen zu können. Nur so viel
zu Fake-News beim Spiegel.
SPIEGEL (1998):
Fauler Deal.
Privatisierung: Windige Investoren und ein selbstherrlicher
Bürgermeister manövrieren den Rostocker Hafen in die Nähe des
Ruins,
in: Spiegel Nr. 42 v. 12.10.
GLESS, Florian (1998): Gute Noten um fast jeden Preis.
Schulen: Im mecklenburgischen Torgelow spaltet ein
Elite-Internat die Dorfgemeinschaft. Die Kluft verläuft nicht
mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen Arm und Reich,
in: Spiegel Nr. 49 v. 30.11.
Florian GLESS
berichtet über eine Eliteschule in
Torgelow am See:
"Torgelow ist
ein Schloß mit angrenzendem Dörfchen unweit von Waren an der
Müritz, mitten in Mecklenburg-Vorpommern: Es gibt eine
Dorfstraße, gesäumt von einfachen Landarbeiterhäusern, eine
Kreuzung ohne Ampel und als Mittelpunkt des Dorflebens den
»Landmarkt«. (...).
480 Menschen leben hier, die Arbeitslosenquote liegt bei 25
Prozent - »wenn das reicht«, sagt Bürgermeister Kucklick. Vor
der Wende war Torgelow eine LPG. Und nur »verschwindend gering«
sei die Zahl der Arbeitsplätze, die bis heute übriggeblieben
ist. Hier gab es immer nur die Landwirtschaft, erst zu Zeiten
der Gutsherren, dann unter dem DDR-Regime. (...).
Seit Ende August 1994 gibt es das Internat. Nach der Wende stand
das Schloß zunächst leer, mehrere Investoren hatten sich bei der
Treuhand um die am Torgelower See gelegene Immobilie beworben.
Ein Altenheim für Seeleute sollte entstehen oder eine Klinik für
alkoholkranke Manager. Das Rennen machte aber das Edel-Internat
für Kinder aus gutbetuchtem Elternhaus. (...).
Fast alle Schüler auf Schloß Torgelow sind Kinder von
Unternehmern, Ärzten oder Immobilienmaklern. Ost oder West
spielt keine Rolle, gut die Hälfte der Schüler kommt aus den
neuen Ländern."
1999
BOTT, Hermann (1999): Kreative Lösung.
Immobilien: In Rostock steht ein Wohnblock auf Stelzen - kein
Schmuckstück der Baukunst, aber als Steuersparmodell ein wahres
Meisterwerk,
in: Spiegel Nr. 2 v. 11.01.
REPKE, Irina (1999): Im Osten etwas Neues.
Arbeitsmarkt: In Westpolen entstehen blühende
Industrielandschaften. Auch deutsche Firmen investieren hier -
und häufig folgen ihnen die eigenen Fachkräfte,
in: Spiegel Nr. 3 v. 18.01.
Irina REPKE
berichtet über die Probleme der Bewohner in Vorpommern mit dem
Jobboom in Polen:
"Der Boom in
Polen, da ist sich Bernd Rietscher, Chef des Bildungswerkes im
Unternehmensverband Neubrandenburg, ganz sicher, bedeutet auch
Hoffnung für den trostlosen Arbeitsmarkt in Deutschlands
östlichstem Osten. Dort hält sich die Arbeitslosenquote knapp
unter 20 Prozent, über drei Viertel davon sind Hoch- und
Fachschulabsolventen oder Facharbeiter. (...).
Zu den Wirtschaftswunderregionen Polens gehört auch die
Hafenstadt Szczecin. Mehr als 1800 Firmen mit ausländischem
Kapital siedelten sich dort an, über 1000 allein aus
Deutschland. Die Arbeitslosenquote liegt hier bei 3,5 Prozent.
Fünfmal höher ist der ostdeutsche Schnitt nur 50 Kilometer
westwärts. Auf der Werft, dem größten Arbeitgeber Szczecins,
waren 1997 bereits 10,7 Prozent der mehr als 10 500
Beschäftigten Ausländer.
Hier wäre auch Platz für deutsche Monteure, Schweißer oder
Elektriker - Facharbeiter, die bei den Arbeitsämtern im
benachbarten Mecklenburg-Vorpommern Schlange stehen. Doch für
knapp 1.000 Mark monatlich fährt kaum einer täglich durchs
polnische Land. Zum Jobben mal eben rüber nach Polen - das
dauert noch."
Natürlich
darf bei solch einem Bericht auch die Sicht des
westliche
Humanexports nicht fehlen:
"Dietrich
Lehmann, Chef der Torgelower ME-LE Holding, hält den raschen
Ausbau der "multikulturellen Weiterbildung" im Osten für ein Muß.
Seine Firma, die mit 1200 Beschäftigten im Anlagenbau und
Dienstleistungsbereich über 260 Millionen Mark Jahresumsatz
macht, würde sofort fünf deutsche Zweisprachler fürs
Polengeschäft einstellen - wenn es denn welche gäbe."
REPKE, Irina (1999): "Irgendwas falsch gemacht".
Landflucht: Auch zehn Jahre nach der Wende leidet der Osten an
dramatischem Bevölkerungsschwund. Vor allem junge Frauen laufen
den Jobs hinterher - gen Westen,
in: Spiegel Nr. 14 v. 05.04.
Irina REPKE
berichtet über den Bevölkerungsrückgang und Ungleichgewichte bei
den Geschlechterproportionen, die durch die Abwanderung in den
strukturschwachen ländlichen Gebieten wie in
Mecklenburg-Vorpommern entstanden sind:
"Auch im
neunten Jahr nach der Wende gingen noch immer mehr Deutsche von
Ost nach West als umgekehrt. Der Trend hält an: Knapp 19
Millionen Bürger gab es bei Gründung der DDR, gut 17 Millionen
beim Bau der Mauer, gut 16 Millionen Neubundesbürger am Tag der
Wiedervereinigung. Seitdem wurden es wieder rund 800 000
weniger.
In den alten Bundesländern stieg dagegen die Bevölkerungszahl
seit März 1989 um etwa acht Prozent. Die Prognose des
Statistischen Bundesamts geht davon aus, daß die fünf neuen
Bundesländer bis zum Jahr 2010 wiederum eine viertel Million
Einwohner verlieren - ein Kahlschlag mit verheerenden
Konsequenzen.
Es gehen nicht nur viele, sondern vor allem die Besten -
diejenigen, die sich auf dem Arbeitsmarkt West Chancen
ausrechnen. Deshalb seien in den neuen Bundesländern viele
Folgen »auf lange Sicht irreparabel«, prophezeit Siegfried
Grundmann, Soziologe an der Berliner Humboldt-Universität.
Zurück bleibt, wer schon im Osten über Monate keinen Job fand.
(...).
Die Frauen, sagt Rosemarie Köllmann vom Arbeitslosenverband
Demmin, seien geradezu »gezwungen wegzugehen«. Sie finden in der
Nähe der Heimatorte noch seltener einen Job als Männer: Im Juni
1998 war in den neuen Ländern die Arbeitslosigkeit unter Frauen
doppelt so hoch wie im Westen. Da aus der DDR-Tradition heraus
die Mehrheit der Frauen arbeiten wolle und für die Familien das
zweite Einkommen kein Luxus sei, so Köllmann, liefen die Frauen
eher als Männer den Jobs hinterher. So entstand seit dem
Nachwendejahr bis Anfang 1998 ein Wanderungsverlust von mehr als
430.000 Frauen im Neubundesgebiet. (...).
Jene zu DDR-Zeiten vernachlässigten, dünn besiedelten und
regional unterentwickelten Gebiete im Norden und Nordosten
trifft der Bevölkerungsschwund besonders hart. Eine neue Studie
des Bundesamts für Bauwesen und Raumordnung stellt fest, daß
derartig »strukturschwache ländliche Räume ohne nennenswerte
Entwicklungspotentiale« wie in Mecklenburg-Vorpommern und
Nordbrandenburg im Bundesgebiet einmalig sind. Trostlose Leere
lähmt schon jetzt manche Gemeinde."
Der Begriff
"Wüstungen" ist ein funktionales Äquivalent zum Begriff
"Aussterben". Ersterer bezieht sich auf kleinräumige Gebiete,
letzterer auf Deutschland. Beide Begriffe haben Konjunktur, um
den demografischen Wandel zu dramatisieren. Upost gehört seit
2003 zur Gemeinde Warrenzin. Bis 2011 gehörte Upost zum
Landkreis Demmin, der dann aufgeteilt wurde. Upost gehört
seitdem zum Großkreis Mecklenburgische Seenplatte. REPKE
schreibt zu Upost und dem Landkreis Demmin:
"Für viele
Siedlungen, prophezeit Soziologe Grundmann, »läuten schon bald
die Sterbeglocken«. Dort sei auf längere Sicht mit einer
»größeren Zahl von Wüstungen« zu rechnen.
In einer dieser Gegenden liegt Upost - abseits der Haupstraße
nach Demmin, am Peene-Oberlauf. Mit 102 Bürgern ist es die
kleinste Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern. Fast ein Drittel
der Einwohner sind älter als 55. Taufen werden in Upost nur
selten gefeiert. Zwei Kinder kamen vergangenes Jahr zur Welt,
sieben in neun Jahren Nachwendezeit. Viel häufiger sah man sich
bei Beerdigungen.
In den besten Jahren der DDR waren sie noch 177 im Ort. Den
»Konsum« gab es bis kurz nach der Wende, sogar mal einen Gasthof
fürs Feierabendbier - und Arbeit für alle, meist in den
Genossenschaften ringsum. Schon früher zog es die Jugend fort
aus dieser vorpommerschen Beschaulichkeit. Doch nun gehen auch
viele, die gern in der Landwirtschaft blieben, wäre da irgendwo
die Chance auf einen Job.
Der Landkreis Demmin, dem Upost angehört, hält mit 26,6 Prozent
Arbeitslosigkeit den Landesrekord, die Kaufkraft liegt ein
Drittel unter dem Bundesdurchschnitt. Die Einwohnerzahl (derzeit
97.000) schrumpfte allein in den letzten zwei Jahren um mehr als
1.000, bis zum Jahr 2010 wird ein weiteres Minus von 4.000
Bürgern vorhergesagt. Schon jetzt gibt es bei den 18- bis
40jährigen rund 2.200 weniger Frauen als Männer."
Klocksin, das ab 2011 ebenfalls zum Großkreis
Mecklenburgische Seenplatte gehören wird, kämpft gemäß REPKE
gegen das Verschwinden an:
"Rolf
Janecke, 51, Bürgermeister der 473-Seelen-Gemeinde Klocksin im
Müritz-Kreis kämpft seit vier Jahren darum, daß sein Dorf »nicht
zu einem Gespensterort verkommt«. Gelinge die Trendwende nicht,
werde es »dramatisch mit den Gemeindefinanzen«. (...).
Minuszahlen und Prognosen haben zwar Landesregierungen,
Bürgermeister und Gemeinderäte im Osten aufgeschreckt - doch
neue Konzepte für den dringend nötigen Strukturwandel gibt es
kaum."
Die
Landesregierung übt sich derweil im Optimismus. Bis 2020 will
man Westniveau erreicht haben - ein Traum, der zum Platzen
verurteilt ist:
»Bei solch
drastischer Entwicklung gibt es kein Allheilmittel«, sagt Angela
Krenz aus dem Sozialministerium in Mecklenburg-Vorpommern, da
bleibe wohl nur die Hoffnung auf mehr Kinder. Weil die Zahl der
Geburten im Land von 1989 bis 1994 um fast 70 Prozent sank,
verloren hier mehr als 7.600 Erzieher ihren Job - im
Neubundesgebiet insgesamt waren es 60.000.
Erst für das Jahr 2020 sagt Hermann Brinkmann aus dem Schweriner
Ministerium für Raumordnung »"eine Angleichung an die Strukturen
der westlichen Bundesländer« voraus. Neue Förder-Richtlinien
sollen den Prozeß beschleunigen. Wird künftig ein Betrieb
verlagert, erweitert oder rationalisiert, müssen mindestens 15
Prozent zusätzliche Dauerarbeitsplätze entstehen - sonst
entfällt der Höchstsatz.
Das gilt auch für die Urlaubsgebiete an der Ostsee, wo
mancherorts der Einwohnerschwund bedrohlich wird. Hier sollen
jetzt mehr saisonunabhängige Arbeitsplätze geschaffen werden -
um vielleicht ein paar junge Leute von ihrer Westwanderung an
die Ostküsten zurückzulocken."
DAHLKAMP, Jürgen u.a. (1999): "Um Studenten kämpfen".
Zehn Jahre nach der Wende bringt das erste gesamtdeutsche
Uni-Ranking des SPIEGEL eine herbe Enttäuschung für die
Traditionshochschulen im Westen: Das größte Ansehen bei den
Studenten genießen die kleinen Ost-Unis und die Neugründungen
der vergangenen drei Jahrzehnte. Allein die Professoren glauben
noch an die Qualität der Massenuniversitäten,
in: Spiegel Nr. 15 v. 12.04.
GLESS, Florian u.a. (1999): Lizenz zum Gelddrucken.
Umwelt: Findige Kaufleute haben die Entsorgung alter Reifen als
lohnendes Geschäft entdeckt. Der Trick: Sie drehen den Müll
unbedarften Ostlern an,
in: Spiegel Nr. 40 v. 14.10.
Der
Spiegel berichtet über illegale Altreifen-Deponien, u.a. in
Lübz und
Brenz. Das Geschäft dagegen ist in Rostock ansässig.
WENSIERSKI, Peter (1999): "Geht doch wieder rüber".
Einheit: Findige Kaufleute haben die Entsorgung alter Reifen als
lohnendes Geschäft entdeckt. Der Trick: Sie drehen den Müll
unbedarften Ostlern an,
in: Spiegel Nr. 43 v. 25.10.
Peter
WENSIERSKI berichtet über "Wessis", die von den "Ossis"
enttäuscht sind:
"»Ich hatte
einen Riesen-Enthusiasmus, als ich 1998 nach Greifswald kam«,
erinnert sich Professor Lutz Gürtler, 57, Mikrobiologe und
HIV-Forscher. Nach nur einem Jahr geht er mit zwei Kollegen der
medizinischen Fakultät der Universität zurück in den Westen: »Da
ich jahrelang in Afrika unter besonderen Umständen gearbeitet
hatte, glaubte ich damals, dass es nicht so schwierig werden
würde. Aber man hat uns zu viele Knüppel in den Weg geworfen.«
Mit ihrem progressiv ausgerichteten Engagement und effizientem
Handeln - so sein Eindruck - seien sie bei der Seilschaft der
alten Verwaltung und deren Nostalgie-Netzwerk immer wieder
aufgelaufen. Gürtler: »Die alten Chefs sind weg, die zweite und
dritte Reihe hat überlebt. Sie machen so weiter wie früher. Ehe
man durchblickt, wer da wo mit wem verbunden ist, ist man auch
schon gestolpert.«
Die Stadt erlebte der Mediziner nicht viel anders. »Greifswald
ist ohne Seele. Zwar wurde alles renoviert, aber es gibt kaum
öffentliches, gesellschaftliches Leben, wenig Flair.« Die
Ostalgie hemme jede Entwicklung, »das Beharren auf rückwärts
gewandte Besonderheit blockiert die Menschen, die Wirtschaft,
die Forschung«."
2000
BAYER, Wolfgang & Andreas WASSERMANN (2000): Pleite mit der
Platte.
Immobilien: Newcomer der Immobilienbranche, darunter
CDU-Prominente, witterten das große Geschäft mit Plattenbauten
im Osten. Doch daraus wurde nichts. Die DDR-Relikte erweisen
sich als unverkäuflich,
in: Spiegel Nr. 11 v. 13.03.
"1994 wurde
mit dem Altschuldenhilfe-Gesetz der rechtliche Rahmen gezogen.
Privatunternehmen konnten jetzt blockweise Plattenbauten zu
Schnäppchenpreisen (ab 300 Mark pro Quadratmeter) erwerben. Für
die Sanierung der einst als »Arbeiterschließfächer« verspotteten
Einheitskästen gab's Steuervergünstigungen und satte Förderungen
vom Staat. Die »Zwischenerwerber« mussten sich lediglich
verpflichten, nach der Sanierung mindestens 40 Prozent der
Wohnungen den Mietern zum Kauf anzubieten.
Doch die winkten meistens ab. Denn dank des steuerbegünstigten
Neubau-Booms und der subventionierten Sanierung der maroden
Altbauten entstand im Osten binnen kurzer Zeit ein gigantisches
Überangebot an Wohnraum. Zwischen Anklam und Zittau stehen nach
Berechnungen des Berliner Bauministeriums knapp eine Million
Wohnungen leer - die meisten in Plattenbaugebieten",
berichten
BAYER & WASSERMANN über die Rahmenbedingungen, die zu der
heutigen Immobilienmarktsituation in Ostdeutschland führten: Dem
Niedergang der Plattenhaussiedlungen und dem rasanten Neubau von
Einfamilienhaussiedlungen am Rande der Großstädte.
MARTENS, Heiko u.a. (2000): Profit auf der Nebenstrecke.
Bahn und Länder suchen nach neuen Modellen für den Verkehr in
der Region,
in: Spiegel Nr. 13 v. 27.03.
Der
Spiegel berichtet über lukrative Nebenstrecken, die
privatisiert werden sollen:
"Schwerins
Wirtschaftsminister Rolf Eggert (betrachtet) die Pläne der Bahn
mit Skepsis. Seit 1996 hätten in Mecklenburg-Vorpommern 35
Prozent mehr Menschen den Schienennahverkehr genutzt. »Deshalb
überraschen uns Überlegungen«, so Eggert, »über Streckennetze zu
sprechen, die entweder schon saniert worden sind oder in die
gerade investiert wird.«
Als Beispiel nennt Eggert die Strecke Wismar- Rostock-Tessin.
Auf dem sanierten Teilstück zwischen Rostock und Tessin, das von
der Bahntochter DB Regio betrieben wird, sei sogar ein
zusätzlicher Zug eingesetzt worden, weil die Strecke im
Berufsverkehr stark genutzt werde.
Das Land habe sich kürzlich mit der Bahn geeinigt, so Eggert,
dass nur 20 Prozent der Strecken für neue Betreiber
ausgeschrieben werden. Der Minister befürchtet, dass die DB
Regio aus dem Geschäft gedrängt werden könnte - sie ist einer
der größten Arbeitgeber in Mecklenburg-Vorpommern."
BORNHÖFT, Petra (2000): "Nüscht als Bruchbuden".
Wohnungsbau: In Ostdeutschland stehen eine Million Wohnungen
leer. Plattenbauviertel verkommen zu Ghettos, Vandalen zerstören
verwaiste Altbauten. Jetzt wollen Kommunale Gesellschaften
zehntausende Wohnungen abreißen,
in: Spiegel Nr. 18 v. 01.05.
Der
Spiegel hat inzwischen den Trend raus aus den Plattenbauten,
hin zu Neubauvierteln entdeckt:
"Der Trend
ins Grüne hat den Osten ergriffen. Während in den Zentren ganze
Viertel verrotten, wuchern die Städte über ihre Ränder hinaus.
Aus Leipzig sind 50.000 Einwohner ins Umland abgewandert.
Ähnlich ist es im Norden: Seit der Wende verlor Rostock 30.000
seiner 909.000 Einwohner. Die amtlichen Planer können gegen
diese Stadtflucht wenig tun.
»Wir konnten gar nicht so schnell gucken, wie die Nachfrage nach
neuen Wohnungen sich entwickelte«, resigniert der langjährige
Leipziger Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube (SPD).
Die Bundesregierung hat mehrere Jahre Fördermittel in den Neubau
gesteckt. Bis 1998 hat die Sonderabschreibung Ost gewirkt - das
sei wie eine »staatliche Abwanderungsprämie« aus der Stadt an
den Stadtrand gewesen, meint der Leipziger Dezernent für Planung
und Bau, Engelbert Lütke Daldrup. Die Abschreibung Ost ist oft
unkontrolliert gewährt worden, die Wohnungsgesellschaften
stecken jetzt auch deswegen in Kalamitäten."
PLÖTZL, Norbert F.
(2000): Dinge unter der Decke.
Tourismus: Rechtsradikale demolieren das Image von
Mecklenburg-Vorpommern. Nun fürchten Politiker, dass der
Fremdenverkehr, der einzige bedeutsame Wirtschaftsfaktor des
Landes, Schaden nimmt,
in: Spiegel Nr. 24 v. 12.06.
"Jede
ökonomische Erfolgsmeldung wird im strukturschwachen
Mecklenburg-Vorpommern gleich zum statistischen Superlativ
hochgejubelt: Bei der »Fremdenverkehrsintensität«, der Zahl der
Übernachtungen je 1000 Einwohner, lag der Nordoststaat
vergangenes Jahr »auf Platz 1 unter allen Bundesländern«,
frohlockte der Schweriner Regierungschef Harald Ringstorff
(SPD).
Mit einem Plus von 17,6 Prozent auf 15,6 Millionen
Übernachtungen verzeichnete die Region zwischen Ostsee und
Mecklenburgischer Seenplatte die höchste Zuwachsrate im
Ländervergleich. Jetzt gelte es, mahnte der Ministerpräsident,
die »Spitzenposition zu halten und möglichst den Vorsprung in
diesem Jahr noch auszubauen«.
Gefährdet scheint die hoffnungsvolle Zielvorgabe durch einen
anderen Spitzenplatz, der das Land fortwährend bundesweit in die
Schlagzeilen bringt: Bei Gewalttaten rechter Schläger liegt
Mecklenburg-Vorpommern ebenfalls ganz vorn. Nicht weniger als 53
Übergriffe von Skinheads und Neonazis wurden voriges Jahr in der
dünn besiedelten Provinz (rund 1,8 Millionen Einwohner auf
23.170 Quadratkilometern) registriert. (...).
Um die Urlauber an der Ostseeküste und an den Binnenseen vor
Schlägern und Pöblern zu schützen, stellt Mecklenburg-Vorpommern
seit einigen Jahren jeweils in den Sommermonaten eine 220 Mann
starke »Bäderpolizei« auf: Beamte der Bereitschaftspolizei
unterstützen die Ortspolizisten bei ihren Streifengängen. (...).
Aber die Wachleute können nicht überall sein. Weder Eggesin noch
Lassan gehören zu den besonders gesicherten Urlauberzentren",
berichtet
Norbert F. PLÖTZL. Eine Grafik zeigt einerseits die
touristischen Zentren (Boltenhagen, Kühlungsborn, Heiligendamm,
Graal-Müritz, Ahrenshoop, Prerow, Binz, Göhren, Heringsdorf,
Ahlbeck, Krakower See, Plauer See und Müritz) und andererseits
die Orte jüngster rechtsextremistischer Gewalttaten (Rostock,
Greifswald, Lassan und Eggesin).
SPIEGEL-Titelgeschichte:
Expeditionen in ein unbekanntes Land.
Schröders
Reise durch die neuen Bundesländer |
BRINKBÄUMER, Klaus
(2000): Ort der Täter, Ort der Opfer.
Das pommersche Eggesin steht für rechte Gewalt im Osten,
in: Spiegel Nr. 34 v. 21.08.
"Eggesin ist
eine Stadt der Glatzen seit der Nacht vom 21. zum 22. August
1999, einer Nacht (...) als Skinheads zwei Vietnamesen fast
totschlugen. Seitdem steht der Ort in Vorpommern als Fanal neben
Mölln oder Eberswalde. (...).
Eggesin lebte früher von der NVA und lebt heute von der
Bundeswehr; Soldaten grauste und graust es vor jener Betonwüste
kurz vor der polnischen Grenze, die sie die Stadt der drei Meere
nennen: Sandmeer, Kiefernmeer, gar nichts mehr. (...).
Es gibt die Rechten, Aldi, zwei Tankstellen und sonst nicht mehr
viel in Eggesin. Von ehedem 8.000 Einwohnern sind noch knapp
7.000 da, und 25 Prozent sind arbeitslos. Selbst diese Zahl ist
geschönt, da Umschulungen nicht in die Statistik fallen",
beschreibt Klaus BRINKBÄUMER das Image der Stadt.
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