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Vorbemerkung
Die Rente steht seit Jahrzehnten vor dem Kollaps.
Immer ist es die Altenlast, die zum Bankrott führen soll. Aber
stimmt das überhaupt? Die folgende Bibliografie soll zeigen,
dass der ewig währende Zusammenbruch des Rentensystems viele
Ursachen hat, der demografische Wandel ist bislang kein Faktor
gewesen. Der Zusammenbruch wurde bereits auf das Jahr 2000, auf
2010, auf 2020 und nicht zuletzt auf das Jahr 2030 datiert. Das
Rentensystem hat sich tatsächlich verändert, aber war das eine
Notwendigkeit der demografischen Entwicklung? Man darf das
bezweifeln, wenn man die Debatte über die Jahrzehnte verfolgt
und mit den Fakten vergleicht. Das soll diese Dokumentation
ermöglichen. Die Kommentare spiegeln den Wissensstand des Jahres
2014 wieder.
Kommentierte Bibliografie (Teil 5 - Die
Jahre 2006 - 2009)
2006
BODE, Ingo (2006): Die Rente auf dem Markt.
Zur Organisation und Kultivierung der privaten Altersvorsorge,
in:
Sozialer Sinn,
Heft 1, S.107-130
Ingo BODE befasst sich mit
den Folgen der Teilprivatisierung der Altersvorsorge und der
Konsequenzen für die Haushalte:
"Die Überzeugung von der
»schlichten Notwendigkeit« der privaten Altersvorsorge (Marschallek
2004) ist im politischen System fest etabliert und findet ihre
Entsprechung in Medienkommunikationen, die auf verschiedene
Weise (qua Ratgeberliteratur, Produktanalysen oder
Expertendiskurse) signalisieren, dass die Sicherstellung einer
ausreichenden Altersversorgung heute als eine persönliche
Angelegenheit und Gegenstand strategischen Markthandelns zu
begreifen ist."
BODEs Gegenstand ist die
Dienstleistungsbeziehung zwischen individuellem Anleger und
Finanzproduktanbietern. Dabei steht die Riester-Rente im Fokus,
da der Autor davon ausgeht, dass die betriebliche Altersvorsorge
zukünftig weiter an Bedeutung verlieren wird. Dabei ist
bedeutsam, dass der Trend weg von garantierten Rentenzusagen ("defined
benefits") hin zu einem vereinbarten Beiträgen ("defined
contributions"). Dies bedeutet eine Risikoverlagerung auf den
individuellen Anleger. Gemäß BODE spielt bei solchen
individuellen Vereinbarungen der Zufall eine große Rolle:
"Der (Individual-)Modus der
Organisation privater Altersvorsorge impliziert zufallsbedingt
uneinheitliche Marktzugänge."
Zu deutsch: Der Ertrag der
privaten Altersvorsorge, den ein individueller Anleger erzielt,
kann stark schwanken. Dabei spielt das individuelle
Verhandlungsgeschick, die Auswahl an Finanzdienstleistern vor
Ort usw. eine wichtige Rolle. BODE geht deshalb davon aus, dass
es durch die Zufälligkeiten im Bereich der privaten
Altersvorsorge zu sozialen Ungleichheiten quer zu "klassischen
Schichtunterschieden" kommt.
STAIGER, Martin (2006):
Potemkins Rente,
in:
Blätter für deutsche und internationale Politik,
Heft 2, Februar, S.203-212
STAIGER beschreibt die Folgen
der Zunahme atypisch Beschäftigter:
"Obwohl die Zahl der
Beschäftigten steigt, nimmt die Zahl der
sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse rapide
ab. So ist innerhalb eines Jahres, zwischen August 2004 und
August 2005, die Zahl der Erwerbstätigen mit Arbeitsort in der
Bundesrepublik um rund 113000 gestiegen. Die Zahl der
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten dagegen sank im
gleichen Zeitrum um rund 615000 auf etwa 26 Millionen Personen.
So hat die Politik der Förderung atypischer
Beschäftigungsverhältnisse dazu geführt, dass die Chance, ein
ganzes Berufsleben lang sozialversichert beschäftigt zu sein,
über die letzten Jahre kontinuierlich gesunken ist.
Damit schrumpft für eine wachsende Zahl von Menschen einerseits
die Anwartschaft auf eine gesetzliche Rente und zum anderen die
Möglichkeit nennenswert privat vorzusorgen."
Alternativen zur
gegenwärtigen Situation im Rentensystem sieht STAIGER in der
Steuerfinanzierung, Bürgerversicherung oder in der
Wertschöpfungsabgabe.
NIEJAHR, Elisabeth (2006): Die Entdeckung des Alters.
Das Gute an der Rentendebatte: Die Deutschen merken, worauf es
künftig ankommt,
in: Die ZEIT Nr.8 v. 16.02.
Elisabeth NIEJAHR verkündet, dass
die Verlierer der vergangenen Rentenreformen -
die Post-68er - die Reformen
widerstandslos abnickten:
"Schon die vergangenen Rentenreformen
gingen den Babyboomern nie schnell und weit genug: Erst kämpften sie
dafür, dass Helmut Kohl als Kanzler den demografischen Faktor in
seine Rentenreform aufnahm. Später forderten sie Gerhard Schröder
auf, das Rentenniveau möglichst weit abzusenken. All das schadete
nicht den Rentnern von heute, sondern denen von morgen. Insgesamt,
so die Berechnungen des Rentenexperten Bert Rürup, haben die Reformen von Kohl und Schröder zur
Verringerung der Rentenansprüche um dreißig Prozent geführt.
Verkehrte Welt: Die Verlierer nicken – und die anderen klagen."
KIRSCH, Guy & Klaus
MACKSCHEIDT (2006): Arbeiten bis 90.
Warum
eigentlich nicht? Einige Bemerkungen zu einem nach oben hin
offenen Renteneintrittsalter,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.05.
KIRSCH & MACKSCHEIDT denken
über die Möglichkeiten der Steigerung der Arbeitsfähigkeit und
-willigkeit von älteren Arbeitnehmern nach. Ihr Ansatz ist das
"Auseinanderklaffen von Leistungs- und Lohnkurve" in Zeiten des
Hire und Fire, denn wenn Loyalität nichts mehr zählt und
dauerhafte Arbeitsverhältnisse abnehmen (sollen), muss nach
Ansicht der Autoren die Kluft zwischen Leistungs- und Lohnkurve
geschlossen werden, d.h. sowohl jüngere als auch ältere
Arbeitnehmer sollen weniger Lohn erhalten als Arbeitnehmer im
mittleren Lebensalter. Arbeitslosigkeit von Jugendlichen,
Älteren und Minderqualifizierten ist nach dieser Ansicht
lediglich das Problem zu hoher Löhne.
Und wie erhöht man die
Arbeitswilligkeit? Ganz einfach:
"Vielmehr könnte und sollte
ein Teil der erworbenen Rentenansprüche des Betroffenen dazu
verwendet werden, den Lohn so weit zu erhöhen, daß es sich für
ihn lohnt, im Arbeitsverhältnis zu bleiben."
Diese Subvention der
Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer verkaufen die Autoren
als Win-Win-Situation. Die "Entstaatlichung des Lebens" wird zur
Freiheit stilisiert, obwohl sie nichts anderes als Abhängigkeit
vom Markt bedeutet.
FASSHAUER, Stephan (2006):
Besteht ein Zusammenhang
zwischen Alterssicherungssystem und Geburtenrate?
Anmerkungen aus theoretischer und empirischer Sicht,
in:
Deutsche Rentenversicherung,
Heft 6, Juni, S.305-324
Stephan FASSHAUER geht
der Frage nach, ob - wie z.B. von Sozialpopulisten wie
Jürgen BORCHERT, Hans-Werner SINN oder Martin WERDING
behauptet, die Ausgestaltung des Alterssicherungssystem
einen Einfluss auf die Geburtenrate hat. Verfechter einer
Rente nach Kinderzahl behaupten in der Regel, dass das
Rentensystem kein 3-Generationenvertrag sei, sondern
lediglich 2 Generationen berücksichtige. Die Beweisführung
wurde gemäß FASSHAUER bislang jedoch nur formal, aber nicht
empirisch erbracht:
"Den Überlegungen von
Schreiber und Nell-Breuning fehlte eine entsprechende
formale und/oder empirische Begründung. Die
modelltheoretische Begründung folgte erst mehrere
Jahrzehnte später beispielsweise durch Klanberg oder
Werding. Bei ihren Darstellungen stehen Auswirkungen eines
2- und alternativ hierzu eines 3-Generationenvertrages auf
das Geburtenverhalten im Mittelpunkt.
Die theoretische, formale »Beweisführung« dafür, dass ein
2-Genertionenvertrag zu einer geringeren Geburtenrate
führt als ein Generationenvertrag, der alle Lebensphasen
berücksichtigt, ist gegenüber einem empirischen Beleg
deutlich einfacher."
FASSHAUER kritisiert
insbesondere zwei Aspekte einer solchen Sichtweise: zum
einen das Fehlen einer optimalen Geburtenrate und zum
anderen die Nicht-Quantifizierbarkeit der abgeleiteten
Ergebnisse:
"Das Fehlen einer -
wissenschaftlich fundierten - optimalen Geburtenrate im
Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt ist für
die gesamte Familienpolitik, aber auch in besonderem Maße
für alle humankapitaltheoretischen Ansätze mit dem
Anspruch, konkrete Politikmaßnahmen draus ableiten zu
wollen, ein wesentliches Manko. Bisher ist eine solche
Bestimmung nicht gelungen. Die Diskussionen in
Wissenschaft und Politik greifen deshalb meist auf das
sog. Ersatzniveau von 2,1 Geburten pro Frau zurück. Diese
Größe muss aber keinesfalls die gesamtwirtschaftlich
optimale Geburtenrate sein. Die gesamtwirtschaftlich
optimale Geburtenrate kann durchaus bei 1,4 oder auch bei
2,8 liegen - sie hängt eben nicht nur vom
Altersicherungssystem, sondern noch von einer großen
Anzahl weiterer Einflussgrößen (Arbeitsmarktbedingungen,
Bildungspolitik, Kinderbetreuung, Wanderungsbewegungen,
...) ab. Damit wird zugleich deutlich, weshalb bisher eine
gesamtgesellschaftlich optimale Geburtenrate nicht
beziffert werden kann - es sind zu viele Einflussfaktoren
zu beachten, die in einer modelltheoretischen Analyse
nicht mehr handhabbar sind.
(...).
Hinzu kommt, dass die modelltheoretisch abgeleiteten
Ergebnisse nicht quantifiziert werden können. (...)
Anhaltspunkte dafür, welche Bedeutung das
Alterssicherungssystem für den Kinderwunsch hat, lassen
sich deshalb nicht aus der ökonomischen Theorie, sondern,
wenn überhaupt, aus empirischen Untersuchungen ableiten.
Bei diesen Studien wird explizit hinterfragt, warum die
Menschen sich für Kinder entscheiden. Dabei wird deutlich,
dass die Ausgestaltung des Alterssicherungssystems keinen
oder höchstens nur einen sehr geringen Einfluss auf die
Fertilitätsrate haben kann."
Aufgrund dieser
Schwierigkeiten geht FASSHAUER einen anderen Weg. In
Anlehnung an Jochen PIMPERTZ sollen "externe Effekte" von
Kindern im Sozialversicherungssystem "internalisiert"
werden. Weil jedoch die Berechnung realer externer Effekte
nicht möglich ist, weshalb lediglich konstruierte, sog.
"pekuniäre Effekte" berechnet werden. Es zeigt sich jedoch,
dass auch hier das Problem einer optimalen Geburtenrate im
Hinblick auf die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt besteht.
Aufgrund der Mängel aller
dieser Herangehensweise flüchtet FASSHAUER in die Empirie
und nimmt die Entwicklung der Geburtenrate zum Ausgangspunkt
seiner Untersuchung. Das ist wenigstens politisch korrekt,
denn:
"Ausgangspunkt der
Überlegungen zur Förderung von Familien in der
Rentenversicherung ist nicht die Umsetzung eines
»vollständigen Generationenvertrages« oder die
Verwirklichung theoretischer Modelle, sondern (...) die
Abnahme der Geburtenrate."
Einen Beleg dafür, dass
das Alterssicherungssystem dafür verantwortlich ist, kann
FASSHAUER nicht liefern. Stattdessen kritisiert er, dass die
Berücksichtigung von familienpolitischen Leistungen im
Rentensystem bei den Verfechtern einer Rente nach Kinderzahl
unberücksichtigt bleiben. So gibt es Kindererziehungszeiten,
Aufwertungen von Beitragszeiten bis zum 10. Lebensjahr von
Kindern, Kinderberücksichtigungszeiten und Kinderzuschläge
in der Witwen-/Witwerrente. Diese familienpolitischen
Leistungen wurden in den letzten Jahrzehnten und Jahren
sukzessive ausgebaut. Sein Fazit lautet deshalb:
"In Bezug auf die
empirischen Untersuchungen zeigt sich, dass die Leistungen
der gesetzlichen Rentenversicherung für Erziehung von
Kindern bereits erheblich sind, aber häufig unbeachtet
bleiben. Auch die in zunehmendem Maße familienpolitischen
Begünstigungen im Bereich der staatlich geförderten
Zusatzvorsorge werden nicht adäquat berücksichtigt. Diese
Kenntnisse sind wichtig, wenn konkrete Vorschläge für eine
verstärkte Förderung von Kindern im Rentensystem
diskutiert werden."
LOOSE, Brigitte L. (2006): Haben Kinderlose mehr Geld im Alter?
Alterseinkommen von Eltern und Kinderlosen im Vergleich,
in:
Deutsche Rentenversicherung,
Heft 6, Juni, S.347-364
Aufgrund von Forderungen nach
einer Rente nach Kinderzahl befasst sich Brigitte L. LOOSE mit
der Einkommenssituation von Eltern und Kinderlosen.
"Datengrundlage für die
folgende Analyse ist die für den aktuellen
Alterssicherungsbericht der Bundesregierung (ASB) vorgenommene
Sonderauswertung der Erhebung »Alterssicherung in Deutschland
2003« (ASID)."
Mit der Untersuchung werden
also nur vor 1939 geborene Frauen erfasst, deren Lebensformen,
Erwerbstätigkeiten und Kinderzahlen deutlich von denen jüngerer
Frauenjahrgänge abweichen. LOOSE kommt für diese
Frauengeneration zum Schluss, dass sich Eltern und Kinderlose
kaum in ihrer sozioökonomischen Lage unterscheiden. Ihr Fazit:
"Die verkürzte These, dass
Kinder generell ein Risiko für die Alterssicherung der Eltern
darstellen, ist ebenso wenig durchgängig belegbar, wie die
These, dass Kinderlose über eine bessere Absicherung im Alter
verfügen.
Bei der kontrovers geführten öffentlichen Auseinandersetzung um
Verteilungsfragen zwischen Familien und Kinderlosen geht es
nicht um die Entdeckung einer neuen Kategorie sozialer
Ungleichheit, sondern vielmehr um eine Wertedebatte. Diese läuft
allerdings Gefahr, alt bekannte Kategorien sozialer Ungleichheit
zu überdecken, die sich u.a. infolge geschlechtsspezifischer
Arbeitsteilung und daraus resultierender Strukturen der
Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt ergeben und damit
hinter den bereits erreichten Stand geschlechtersensibler
Analyse zurückfallen."
Die Autorin weist zudem
daraufhin, dass die Einkommensdifferenzen zwischen Ost- und
Westdeutschen in jeder Hinsicht größer sind als jene zwischen
Eltern und Kinderlosen.
2007
RITTER, Gerhard A. (2007): Sozialpolitik in der deutschen
Wiedervereinigung,
in:
Zeitschrift für Sozialreform,
Heft 1, S.57-70
"Die Krise des deutschen wie
auch des europäischen Sozialstaates hatte ihre tieferen Ursachen
besonders in der Alterung der Bevölkerung, der Veränderung der
Arbeitswelt durch den Übergang von der Industrie- zur
Dienstleistungsgesellschaft, der Verschärfung des Wettbewerbs
durch die Globalisierung und in Finanzierungsproblemen der
Sozialpolitik. Sie wurde durch die Wiedervereinigung nicht
hervorgerufen, aber doch entscheidend verschärft" (2007, S.58),
meint der Historiker
Gerhard A. RITTER. Dies ist insofern falsch, weil der
demografische Wandel zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung
keinerlei Rolle spielt, sondern im Gegenteil - historisch
gesehen - der Altenquotient extrem niedrig war. Welche
Lasten den Arbeitnehmern dagegen durch die Übertragung des
westdeutschen Rentensystems auf Ostdeutschland aufgebürdet
wurden, das zeigen die Fakten recht deutlich:
"Zum Schutz des Besitzstandes
der DDR-Rentner wurden sogenannte »Auffüllbeiträge« gezahlt, die
zum 1. Juli 1992 91 Prozent der über 2 Millionen Rentnerinnen in
einer Durchschnittshöhe von etwa einem Drittel des
Nettozahlbetrages erhielten. Bei Männern waren die Zahl der
Empfänger von Auffüllbeiträgen und deren durchschnittlicher
Anteil an den Renten allerdings erheblich niedriger. Die
Auffüllbeträge wurden nicht dynamisiert und ab 1996 in fünf
Stufen bei Rentenanpassungen abgeschmolzen.
(...).
Die Masse der Rentner zählte zu den klaren Gewinnern der
deutschen Einheit. Die durchschnittlichen Renten stiegen von
monatlich 475 Ostmark im Juni 1990 im Zeitraum von vier Jahren
um mehr als das Zweieinhalbfache auf 1.214 D-Mark an (BMAS 1998:
311).
(...).
Neben der Masse der Rentner zählten die Kriegsopfer, deren
Versorgung in der DDR im Rahmen der allgemeinen
Sozialversicherung auf einem sehr niedrigen Niveau geregelt
worden war, zu den klaren Gewinnern der Einheit." (2007, S.63f.)
JÄGER, Manfred (2007): Rentenlücken in Deutschland,
in:
IW-Trends,
Nr. 1, S.65-76
JÄGER geht ganz
selbstverständlich von der falschen Annahme aus, dass die
Haushalte aufgrund der "demografischen Entwicklung" die
Altersvorsorge zunehmend selbst in die Hand nehmen müssen. Wie
Christian MARSCHALLEK jedoch aufzeigte, gibt es keinen solchen
Sachzwang, sondern die Teilprivatisierung der Altersvorsorge ist
ein politischer Akt, der einer gesellschaftlichen Konstruktion
der Wirklichkeit entspricht, die durch die politische
Gesetzgebung einen strukturellen Zwang ausübt. Gewinner sind die
Finanzdienstleister. In diesem Zusammenhang muss der Beitrag von
JÄGER betrachtet werden. Er interpretiert Vermögenslücken als
Rentenlücken, wobei er die 1960-1972 Geborenen betrachtet.
Grundlage ist die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2003.
Die Methode von JÄGER ist
mehr als fragwürdig, denn sie beruht auf Annahmen über die
weitere Entwicklung von Wirtschaft und Rentensystem über bis zu
3 Jahrzehnten. Ein Rückblick über die Gesetzesänderungen im
Bereich der Rente der vergangenen 3 Jahrzehnten könnte davor
bewahren, solche Rentenlücken-Prognosen allzu ernst zu nehmen.
Sie dienen in erster Linie der Generierung von Profit im Bereich
der Finanzdienstleistung durch Verängstigung der Bevölkerung und
dem gleichzeitigen Verspechen die Lösung des Problems anbieten
zu können.
Wie wir heute wissen, hat die
Finanzkrise, die in dem Beitrag noch gar nicht berücksichtigt
werden konnte, die Renditeaussichten stark verringert. Aus
diesem Grunde sind die reinen Zahlenwerte obsolet. Ergiebiger
ist bei solchen Rentenlückenberechnungen die Vorgehensweise und
die Annahmen. Dabei stellt sich die zentrale Frage wie
realistisch diese sind und ob es dabei Ausblendungen gibt. So
ergibt sich z.B. aus dem Übergang zur nachgelagerten Besteuerung
von Renten ein Problem, das in solchen simplen Modellen wie von
Jäger nicht adäquat erfasst werden kann. Der Autor ist sich der
Anfälligkeit seiner Berechnung bewusst, wenn er schreibt:
"Die Höhe der berechneten
Rentenlücken hängt von zahlreichen Annahmen ab. Vor allem die
Zielersatzquote, die Sparquote, die reale Rendite und das Alter
beim Eintritt in die Rente beeinflussen das Ergebnis."
DYK, Silke (2007):
Kompetent, aktiv, produktiv?
Die
Entdeckung der Alten in der Aktivgesellschaft,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 27.05.
Silke van DYK kritisiert den
allzu vereinfachenden Wandel des Altersbildes, den sie der
Gerontologie anlastet:
"Statt kritischer Reflexion
der Implikationen und Ambivalenzen einer Aktivierung des Alters
liefert die deutschsprachige wissenschaftliche Diskussion die
Stichworte für eine entproblematisierende Weichzeichnung des
aktiven Alters. Verhaftet im altenpolitischen Lobbyismus der
gerontologischen Forschung und bemüht um eine
Abgrenzung gegen
Defizitvorstellungen des Alters wird die alltagspolitische
Plausibilität des aktiven, erfolgreichen und produktiven Alters
als erstrebenswerte Zielperspektive reproduziert und die in der
Normalisierung der mittleren Lebensphase angelegte (...)
Altersfeindlichkeit ausgeblendet."
Van DYK fordert entgegen
dieser homogenisierenden Sicht die Kenntnisnahme der
Heterogenität des Alters:
"Chancen und Risiken,
Freiheiten und Einschränkungen sind (...) je nach sozialer
Schicht, Geschlecht oder ethnischer Zugehörigkeit - sehr
unterschiedlich verteilt. Ein homogenisierender Blick auf das
Alter wird der Facettenvielfalt des Alters, die nicht nur durch
eine Pluralisierung der Lebensstile, sondern eben auch durch
soziale Ungleichheit bedingt ist, nicht gerecht. (...). Eine
kritische wissenschaftliche Rezeption der politischen Entdeckung
des erfolgreichen und produktiven Alters sollte (...) an diesen
Ungleichheiten ansetzen und zur Debatte stellen, inwiefern das
propagierte Bild des produktiven Alter(n)s am Alltag einer
kleinen, privilegierten Minderheit orientiert ist, deren (neue)
Freiheiten zu (disziplinierenden) Normierungen für andere
werden."
KAUFMANN, Franz-Xaver (2007): Bevölkerungsrückgang als
Problemgenerator für alternde Gesellschaften,
in: WSI-Mitteilungen,
Heft 3, März, S.107-114
"Deutschland
(erscheint) heute als demografisches »Pionierland«, und zwar
hinsichtlich der Lowest Fertility, wie Demografen das
Absinken der Fertilität unter einen Wert von 1,5 bezeichnen. Ab
dieser Größenordnung wird es aufgrund eines demografischen
Verstärkereffektes zunehmend schwieriger, den regressiven Trend
umzukehren. (...). In dieselbe Richtung wirken auch (...) in
Deutschland bereits empirisch beobachtbare
Einstellungsänderungen (...). Und überdies scheint
Kinderlosigkeit mit ihrer faktischen Verbreitung zunehmend auch
normativ »salonfähig« zu werden. Dorbritz (2005) spricht
sogar von einer entstehenden »Kultur der Kinderlosigkeit«. Etwa
ab dem Geburtsjahrgang 1950 polarisiert sich die Bevölkerung in
Deutschland in Familien und Kinderlose",
behauptet der
Sozialstaatsforscher Franz-Xaver KAUFMANN eine Abwärtsspirale,
die
Ende der 1970er Jahre in noch rigiderer Fassung der Astronom
SCHMIDT-KALER in Umlauf gebracht hat.
"Schon seit 1972 reichen die
Geburten nicht mehr aus, um die Sterbefälle zu kompensieren, und
ab ca. 2010 wird sich auch der kompensierende Effekt der
Zuwanderung im bisherigen Umfang erschöpfen und die Bevölkerung
aller Voraussicht nach zunächst geringfügig, aber allmählich
immer stärker zurückgehen. Demografische Wachstums- und
Schrumpfungsprozesse entfalten unter gleichbleibenden Annahmen
eine zunehmende Wucht",
prophezeit KAUFMANN. Es waren
jedoch die "gleichbleibenden Annahmen", die sich derzeit als
falsch erwiesen haben. KAUFMANN prognostiziert die Alterslast
sogar bis zum Jahr 2090, wobei er zwischen 60-80Jährigen und 80
Jahre und älteren Personen differenziert. Eine solche
Fortschreibung muss zurecht als Kaffeesatzleserei bezeichnet
werden.
BRÜNNING, N./MORITZ, H.-J./ÖTTL,
S./THEWES, F./TUTT, C.
(2007): Trickreiche Umverteilung.
Weil der Nachwuchs ausbliebt, wollen die Politiker den Jungen
mehr geben, ohne den Älteren etwas zu nehmen,
in:
Focus,
Nr.19 v. 07.05.
Ein Schaubild zeigt die
Anzahl Lebendgeborener von 1970 bis 2004. Ein Text erläutert,
dass im Vergleich zu 1970 32,6 % Kinder zur Welt kamen. Ein
anderer Text erklärt dann:
"Bei einer Geburtenrate von
1,3 Kindern je Paar ist jede Generation um ein Drittel kleiner
als die vorherige."
Ein weiteres Schaubild zeigt
die Veränderung der Jungen zu den Alten in den Jahren 2003 bis
2005. Danach sind die unter 6-Jährigen um 4 % zurückgegangen,
die 6-15-Jährigen ebenfalls, während die 65 Jahre und Älteren um
7 % zugenommen haben. Der Rückgang der Kinderzahlen wird als
"Demographie-Dividende" bezeichnet, die zur Umverteilung für den
Ausbau der Ganztagskinderbetreuung genutzt werden könne.
Einer Politik zu Gunsten der
Jungen stehe jedoch eine wachsende Altenmacht entgegen:
"Eine Politik zu Gunsten der
Jungen scheint zumindest bis etwa 2020 durchsetzbar. Dann
erreichen die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer die
zwischen 1955 und 1965 geboren wurden, nach und nach das
Rentenalter und schaffen so neue Mehrheiten im Wahlvolk. Sie
werden mehr Investitionen für Ältere und in die Pflege
verlangen."
Die Autoren zitieren deshalb
Sachsens CDU-Ministerpräsidenten Georg MILBRADT, der ein
Elternwahlrecht fordert. Das Schlusswort gehört dann dem
Pessimismus des nationalkonservativen
Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG.
2008
FROMMERT, Dina/OHSMANN, Sabine/REHFELD, Uwe G. (2008):
Altersvorsorge in Deutschland 2005 (AVID 2005).
Die neue Studie im Überblick,
in:
Deutsche Rentenversicherung,
Heft 1, Januar, S.11-19
Der Beitrag macht
insbesondere deutlich, dass die Datenlage zur Beurteilung
künftiger Rentenleistungen mehr als unzureichend ist. So werden
z.B. die Auswirkungen des Übergangs zur nachgelagerten
Besteuerung nicht abgebildet. Es zeigt sich zudem, dass die
Einführung der Rente mit 67 weniger zur Verlängerung der
Erwerbsarbeitszeit geführt hat, sondern Zeiten der
Arbeitslosigkeit bzw. Haushaltsführung zugenommen haben (vgl.
MELZ 2008). Dies kommt einer
Rentenkürzung gleich:
"Eine Verlängerung des
Erwerbslebens führt (...) nicht zwangsläufig zu verlängerter
Erwerbstätigkeit, sondern kann beispielsweise auch zu längerer
Arbeitslosigkeit oder Haushaltsführung führen."
Die Studie AVID 2005 erfasst
die Geburtsjahrgänge 1942-1961.
STRENGMANN-KUHN, Wolfang (2008):
Altersarmut in Deutschland - empirische Bestandsaufnahme und
sozialpolitische Perspektiven,
in:
Deutsche Rentenversicherung,
Heft 1, Januar, S.120-133
Der Artikel zeigt, dass mit
der Umstellung der Messung von Armut auch eine Neubewertung von
Familie und Alter verbunden ist. Historische Vergleiche müssen
deshalb berücksichtigen, dass mit dem Übergang von der "alten"
zur "neuen" OECD-Skala, die Altersarmut gegenüber der
Kinderarmut allein aufgrund des Messverfahrens geringer geworden
ist:
"Werden die Armutsgrenzen auf
Basis dieser beiden Äquivalenzskalen miteinander vergleichen, so
liegt die von Alleinstehenden bei Verwendung der modifizierten
OECD-Skala höher, während bei größeren Haushalten die
Armutsgrenze unter Verwendung der ursprünglichen OECD-Skala
höher ist. Das hat zur Konsequenz, dass im ersten Fall
insbesondere Ältere, im zweiten Fall Kinder und Familien ein
höheres Armutsrisiko haben."
Während im ersten Armuts- und
Reichtumsbericht der Bundesregierung noch die alte OECD-Skala
verwendet wurde, wurde im dritten Armuts- und Reichtumsbericht
die neue OECD-Skala verwendet.
Ein weiterer Aspekt ist, dass
Untersuchungen danach beurteilt werden müssen, ob bei ihnen beim
Vermögen Wohneigentum mitberücksichtigt wird:
"Im Unterschied zum SOEP wird
bei den Ergebnissen der Europäischen Union der Mietwert eigenen
Wohnraums (noch) nicht zum Einkommen gezählt. Dies soll erst ab
2007 der Fall sein, weil dieser erst dann in allen Ländern
erhoben wird, was insbesondere für die ältere Bevölkerung, die
häufiger über eigenes Wohneigentum verfügt, zu Verzerrungen
führt."
Auch für STRENGMANN-KUHN ist
der Altenquotient für die Entwicklung des Rentensystems weniger
aussagekräftig als nicht-demografische Faktoren:
"Das double aging
(Verringerung der Geburtenzahlen und gleichzeitig Erhöhung der
Lebenserwartung) führt bekanntermaßen dazu, dass der
Altenquotient in den nächsten Jahrzehnten stark steigen wird.
Der Altenquotient ist allerdings nur ein Einflussfaktor für die
Stabilität der Rentenversicherung. Die Rendite (...) ist die
Lohnsummenwachstumsrate bzw. allgemeiner: der Anstieg der
Einkommenssumme, für die Beiträge gezahlt wird. Es ist also
nicht nur die rein demografische Entwicklung von Bedeutung,
sondern erstens die Entwicklung der Anzahl der
Beitragszahlerinnen und -zahler, weswegen allein durch die
Erhöhung des Renteneintrittsalters eine erhebliche Entlastung
erfolgt. Zweitens spielt die Entwicklung des Einkommens, das
verbeitragt wird, eine ebenso wichtige Rolle."
Nicht die Erhöhung des
Renteneintrittsalter ist von Bedeutung wie STRENGMANN-KUHN
behauptet, sondern die Entwicklung des faktischen
Renteneintrittsalter, denn die Erhöhung des
Renteneintrittsalters könnte genauso gut zu mehr
Arbeitslosigkeit älterer Menschen führen, wobei dazu auch die
sogenannte "verdeckte Arbeitslosigkeit" gezählt werden muss.
Entscheidend ist jedoch, dass
die Veränderung der Rentenformel den Zielkonflikt zwischen
Beitragssatzstabilität (Kapitalinteresse) und
Lebensstandardsicherung (Arbeitnehmerinteresse) zugunsten der
Beitragssatzstabilität auflöst und damit das Rentenniveau an
Faktoren anbindet, deren Entwicklung ungewiss ist:
"Die Politik hat (...)
insbesondere durch die Veränderung der Rentenformel die
Entwicklung der Beitragssätze weitestgehend stabilisiert (...).
Faktisch wurde damit eine Abkehr von einem Defined-benefit-System
eingeleitet, also ein Ȇbergang von einer 'ausgabenorientierten
Einnahmenpolitik' zu einer 'einnahmenorientierten
Ausgabenpolitik'« (Rürup 2005: 31). Die Folge ist allerdings,
dass das zu erwartende Rentenniveau erstens sinken und zweitens
unsicher werden wird".
Zum Schluss zeigt
STRENGMANN-KUHN Alternativen zur gegenwärtigen Ausgestaltung des
Rentensystems auf.
REIL-HELD, Anette (2008):
Verteilungsaspekte der
Altersgrenzenanhebung,
in:
Deutsche Rentenversicherung,
Heft 1, Januar, S.134-145
"Der deutsche Bundestag hat
im Frühjahr 2007 das RV-Altersanpassungsgesetz verabschiedet,
wodurch die Altersgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung
auf 67 Jahre angehoben wird. Diese Reformmaßnahme ist eine
adäquate Reaktion auf die Alterung der Bevölkerung",
meint
REIL-HELD vom Mannheim Research Institute for Economics of Aging
(MEA), das vom
Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)
gesponsert wird.
"Der Rentnerquotient, der das
Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen beschreibt, wird
neuesten Berechnungen zufolge von etwa 50 Prozent in 2005 auf
rund 70 Prozent in 2040 ansteigen (Börsch-Supan
und Wilke 2007). (...).
Eine Ursache für die Entwicklung ist der deutliche und sehr
erfreuliche Anstieg der Lebenserwartung, der auch weiterhin
anhalten wird. Umstritten ist nur das Ausmaß des künftigen
Anstiegs. Das Statistische Bundesamt geht beispielsweise in
seiner neuesten 11. koordinierten Bevölkerungsprognose bis 2050
bei Männern von einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung von
7,6 Jahren in seiner Basisannahme und von sogar 9,5 Jahren in
der optimistischeren Variante aus. Damit wird die
Lebenserwartung von Männern in 2050 85,4 Jahre und von Frauen
89,8 Jahre betragen. Das Max-Planck-Institut für demografische
Forschung geht von einem noch stärkeren Anstieg der
Lebenserwartung auf deutlich über 90 Jahre aus (Schnabel,
Kistowski und Vaupel 2005). Börsch-Supan und
Wilke (2007) ermitteln durch eine Fortschreibung der nach
dem 2. Weltkrieg beobachtbaren Trends Werte, die mit 85,7 bzw.
91,7 Jahren zwischen den Berechnungen des Statistischen
Bundesamtes und des Max-Planck-Insituts liegen."
Aufgrund der Annahme, dass
eine steigende Lebenserwartung auch mit einer besseren
Gesundheit einhergeht, sieht
REIL-HELD eine "dynamische Sichtweise" angebracht, die auch als
"New Age Thinking" bezeichnet wird. Demnach werden flexible
Altersquotienten angenommen, die dem Anstieg der Lebenserwartung
angepasst werden:
"Die Abgrenzung der
Bevölkerung im Rentenalter verschiebt sich hierdurch
beispielsweise von heute 60 Jahren auf 66 Jahre in 2050, die
Altersgrenze der Hochbetagten von 85 auf 93 Jahre in 2050. Bei
dieser »lebenserwartungsgemäßen« Betrachtung sieht die Alterung
der Bevölkerung weit weniger dramatisch aus als bei der
statischen Sichtweise. Der Altersquotient steigt in deutlich
geringerem Ausmaß. (...). Dies verdeutlicht zum einen, dass die
gelegentlich dramatisierend »Vergreisung« genannte Entwicklung
der Bevölkerungsstruktur nicht nur eine Frage der Zahlen,
sondern vor allem der Sichtweise ist."
REIL-HELD kritisiert die Ausnahmeregelungen von der Rente mit
67, da damit versicherungsfremde Leistungen verbunden seien, die
nicht dem Beitragsäquivalenzprinzip entsprechen.
Dass die Lebenserwartung
stark mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängt, d.h.
Geringverdiener früher sterben, ist für
REIL-HELD kein Problem:
"Die Problematik wird dadurch
gemindert, dass bei Versicherten mit niedrigem Einkommen die
Wahrscheinlichkeit größer ist, frühzeitig erwerbsgemindert zu
werden. (...). Die »Wegtypisierung«, d.h. die
Nicht-Berücksichtigung des individuellen Risikos ist ein
zentrales Merkmal der Sozialversicherung. Deshalb werden
beispielsweise auch Frauen nicht anders behandelt als Männer
(...) und Berufsgruppen mit hohem Erwerbsminderungsrisiko mit
einem Beitragszuschlag belegt."
MELZ, Jörg (2008): Der neue Zwang zur Altersarbeit,
in:
Blätter für deutsche und internationale Politik,
Heft 2, Februar, S.8-12
MELZ befasst sich u.a. mit
den Nicht-Erwerbstätigen innerhalb der erwerbsfähigen
Bevölkerung, die bei der Betrachtung der Altenlast
unberücksichtigt bleiben, aber zur Finanznot der
Rentenversicherung - neben der Zunahme prekärer
Beschäftigungsverhältnisse - wesentlich beitragen:
"Die beiden Hauptformen zur
Entlastung des Arbeitsmarktes sind die Frühverrentung und der
»erleichterte Leistungsbezug« von Arbeitslosengeld für Personen
ab 58 Jahre. Beide Formen haben sich in den letzten Jahren
gegenläufig entwickelt. Während die Frühverrentung rapide
zurückgedrängt wurde, nahm seit 1999 der »erleichterte
Leistungsbezug« für Personen ab 58 Jahre zu. Dabei handelt es
sich um nichts anderes als um verdeckte Arbeitslosigkeit.
Aktuell beziehen 435000 ältere Personen Arbeitslosengeld I und
rund 150000 Personen Arbeitslosengeld II. Diese Personengruppe
steht dabei dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung und wird
auch nicht als arbeitslos in der Statistik geführt. Andernfalls
würde die Arbeitslosenzahl der Älteren bei 1,5 Millionen liegen
und wäre allein dadurch doppelt so hoch wie die
Arbeitslosenquote der unter 50jährigen. Zählt man die 1,5
Millionen Frührentner noch hinzu, entlasten beide Formen der
verdeckten Erwerbslosigkeit den Arbeitsmarkt um rund drei
Millionen Personen."
Der Soziologe Christian
MARSCHALLEK hält deshalb die Betrachtung des
Nicht-Erwerbstätigen-Quotienten (NEQ) als aussagekräftiger
als den Altenquotienten, der üblicherweise zur Begründung der
Notwendigkeit privater Altersvorsorge herangezogen wird.
KONIETZKA, Dirk & Esther GEISLER (2008):
Sozialstruktur
und Demografie,
in:
Soziologische Revue,
Heft 2, April, S.160-169
In ihrer Sammelbesprechung zu
Büchern über den demografischen Wandel kritisieren KONIETZKA &
GEISLER die Demografisierung gesellschaftlicher Probleme. Anhand
verschiedener Bevölkerungsvorausberechnungen zeigen sie Irrtümer
und Fehlschlüsse auf:
"Horstmann/Hage hatten
in ihrer Veröffentlichung im Jahr 1953 das in der Mitte der
1950er-Jahre herannahende »golden age of marriage« und den
einsetzenden Geburtenboom nicht auf dem Bildschirm. Tatsächlich
waren die 50er- und 60er-Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem
Rückgang des Erstheiratsalters, universaler Heiratsneigung und
steigenden Geburtenraten in vielerlei Hinsicht eine
demografische Ausnahmephase (vgl. auch
Ehmer,
51, 118). Das Beispiel zeigt weiterhin, dass selbst in einem
relativ kurzen Prognosezeitraum (sieben Jahre vom Jahr der
Veröffentlichung an gerechnet) massive Fehlprognosen nicht
auszuschließen sind. Das Beispiel von
Schwarz (1963) illustriert ebenfalls das Problem einer
verlässlichen Vorausberechnung von Geburtenzahlen. Nur wenige
Jahre nach der Veröffentlichung seiner Daten setzte ein Umbruch
im Bereich von Fertilität und Familie ein, der bis heute in
weiten Teilen Europas das demografische Verhalten prägt. Es hat
weitere zwanzig Jahre gedauert, bis dieser Wandel als
dauerhaftes Phänomen registriert und als »zweiter demografischer
Übergang« theoretisch auf den Begriff gebracht wurde."
Am Beispiel der
Fehlinterpretation der Geburtenrate (TFR) in Ostdeutschland
und am Beispiel der
Debatte um Kinderlosigkeit zeigen die Autoren weitere
Irrtümer auf. Selbst in Sachen der Altersstruktur sind
Bevölkerungsvorausberechnungen mit Vorsicht zu betrachten, denn
wenn man wie
SANDERSON & SCHERBOV (2007) zwischen retrospektivem und
prospektivem Alter unterscheidet, dann ist nicht mehr klar, ob
die Bevölkerung gealtert oder nicht vielmehr jünger geworden
ist:
"In Westdeutschland ist
Sanderson/Scherbov (44) zu Folge das retrospektive
Medianalter der weiblichen Bevölkerung zwischen 1960 und 2000
von 37,0 auf 41,1 Jahre gestiegen, während das prospektive
Medianalter dagegen im gleichen Zeitraum von 40,1 auf 37,3 Jahre
gesunken ist."
Angesichts des beschriebenen
Umgangs mit demografischen Kennzahlen konstatieren KONIETZKA &
GEISLER:
"Wir registrieren mit einem
gewissen Befremden, wie wenig reflektiert in der aktuellen
Debatte auf demografische Maßzahlen und wie häufig auf
vermeintlich objektive Daten, die keiner genaueren empirischen
Überprüfung standhalten, zurückgegriffen wird."
HOCKERTS, Hans Günter (2008): Neuere deutsche
Alterssicherungspolitik.
Die Epoche der dynamischen Rente währte von 1957 bis 2001. Was
sie einst allein erreichen sollte, dürfte künftig nur noch in
Kombination mit betrieblicher und privater Altersvorsorge
möglich sein: die Sicherung des erarbeiteten Lebensstandards.
Der Rückblick auf die Rentenreformen der deutschen
Nachkriegsgeschichte gerät daher zu einem Nachruf,
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung
v. 18.04.
Der Historiker Hans Günter
HOCKERTS skizziert die Geschichte der zentralen Rentenreformen
von 1957 bis 2001. Er sieht in dem Missbrauch des Rentensystems
im Zuge der Wiedervereinigung (Beitragssatzerhöhung statt
Steuererhöhung aufgrund der Vereinigungsprobleme sowie
Frühverrentungspraxis) ein Hauptproblem der Finanzprobleme des
Rentensystems in den 1990er Jahren. Vor diesem Hintergrund muss
die Teilprivatisierung der Altersvorsorge gemäß HOCKERTS gesehen
werden:
"Insgesamt drangen drei
Faktoren mit Macht auf eine Neuvermessung der Alterssicherung:
das Interesse der Anbieter und Vermittler von
Finanzmarktprodukten, das Streben nach einer Senkung der
Lohnnebenkosten und der »demographische Faktor«. In diesem
Spannungsfeld bildete sich die »neue deutsche Alterssicherung«
heraus, die sich seit 2001 in der langfristigen Senkung des
gesetzlichen Rentenniveaus bemerkbar macht."
DROBINSKI, Matthias (2008): Die Rente und der Neid,
in: Süddeutsche Zeitung v. 22.04.
"Es
ist die Tragik der
in den Baby-Boomer-Jahren zwischen 1960 und 1968 Geborenen, dass
sie nun unter der Abgabenlast stöhnen und in 25 Jahren als
Rentenproblem in die Geschichte eingehen werden. Dann erst
werden die wahren Probleme der Alterssicherung zutage treten, wird
die Rentenfinanzierung an ihre Grenzen geraten, die Altersarmut
zunehmen", meint
Matthias DROBINSKI.
FAIK,
Jürgen (2008):
Sehen die Jungen alt aus?
Generative Aspekte von Wohlstand,
in:
Deutsche Rentenversicherung,
Heft 5, Oktober, S.419-434
Jürgen FAIKs
Anliegen ist die Rechtfertigung der Rente mit 67 als Beitrag zu
mehr
Generationengerechtigkeit. Dabei werden die real
existierenden Generationenbeziehungen jedoch nur sehr
eingeschränkt betrachtet, wie der Autor gleich zu Beginn zugeben
muss:
"Tiefergehende
Untersuchungen zu den Generationenbeziehungen in Deutschland
müssten auch noch den Familienkontext, das Pflegethema,
geschlechterbezogene Aspekte, den Erwerbs- und
Gesundheitsstatus usw. berücksichtigen."
Da dies unterbleibt, sind
seine theoretischen Ausführungen
über Generationengerechtigkeit als Teil sozialer Gerechtigkeit,
zwar erhellend, aber für die empirische Beweisführung
irrelevant. Der Begriff "Generationengerechtigkeit" wird
stattdessen als reiner Kampfbegriff benutzt.
FAIK behauptet, dass
die Generationengerechtigkeit eine Querschnitts- und
Längsschnittperspektive aufweist, d.h. er vermischt
Altersgruppen- und Kohortengruppenanalyse, obgleich
Generationengerechtigkeit nur als Kohortenbegriff Sinn macht,
denn ansonsten wäre sie überflüssig und könnte durch den
traditionellen Begriff der sozialen Gerechtigkeit ersetzt
werden. Erklären lässt sich diese "pragmatische Sicht" lediglich
durch die unzureichende Datenlage, denn während das
sozioökonomische Panel (SOEP) Längsschnittbetrachtungen
ermöglicht (was nicht heißt, dass der Survey auch lediglich als
Querschnitt benutzt werden könnte), basieren die Einkommens- und
Verbrauchsstichproben lediglich auf Querschnittsbetrachtungen.
Das Konzept der
Generationengerechtigkeit erfasst FAIK durch das Renditekonzept,
d.h. ein reines Längsschnittsmaß:
"Die Rendite ergibt sich
dabei rechnerisch als derjenige Zinssatz, bei dem der Barwert
der Beiträge aus der Sicht eines Versicherten z.B. zu Beginn
seines Erwerbslebens (oder z.B. zum Verrentungszeitpunkt) dem
Barwert der Renten entspricht. Diesen Zinssatz nennt man
internen Zinssatz."
Das Sinken der Renditen der
gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) ist für FAIK identisch mit
den Folgen der Auswirkungen des demografischen Wandels, d.h.
alle nicht-demografischen Faktoren wie die Funktionsbedingungen
des Wirtschaftssystems bzw. des Arbeitsmarkts werden
ausgeblendet. Die kritische Sozialwissenschaft bezeichnet solch
eine Sichtweise als Demografisierung gesellschaftlicher
Probleme.
Stattdessen zeigt sich, dass
das Renditekonzept eigentlich kein Kollektivkonzept ist, wie es
die Betrachtungsweise "Generationengerechtigkeit" nahe legt,
sondern ein individuelles Risikokonzept. So führt der Autor auf,
dass die Rendite keineswegs per se sinkt, sondern z.B.
geschlechtsspezifische Differenzen aufweist:
"Im geschlechtsbezogenen
Vergleich zeigt sich, dass - unabhängig vom Renteneintritt -
Frauen im Durchschnitt jeweils höhere Renditen im Sinne
höherer interner Zinssätze als ledige Männer aufweisen. Die
vergleichsweise höhere Rendite bei Frauen ergibt sich daraus,
dass die durchschnittliche Lebenserwartung der weiblichen (Standard-)Rentenbezieher
höher als jene der männlichen (Standard-)Rentenbezieher ist."
Man könnte also gleichfalls
Renditen für unterschiedliche sozioökonomische Statusgruppen
oder unterschiedliche Lebensformen errechnen. Oder anders
ausgedrückt: Das Renditekonzept im Sinne von
Generationengerechtigkeit zu interpretieren setzt voraus, dass
sich die Bevölkerungsstruktur (Anteil der Frauen/Männer, Anteil
der Einkommensgruppen usw.) nicht verändert, denn dann würde
sich auch die Rendite verändern. Dies aber wird nicht
berücksichtigt, sondern die Bevölkerungsstruktur wird implizit
fortgeschrieben. Ganz davon abgesehen, dass eine veränderte
Altersstruktur auch eine veränderte sozioökonomische Struktur
impliziert.
FAIK beschreibt die
Vermögens- und Einkommensungleichheit unterschiedlicher
Altersgruppen in der Vergangenheit und schreibt diese
Erkenntnisse in die Zukunft fort. Vor dem Hintergrund von
Brüchen, wie sie z.B. die Finanzmarktkrise darstellt, zeigen
sich die Schwächen einer solchen Sicht: Sie kann veränderte
Rahmenbedingungen wie sie durch die Enttäuschung der
Renditeversprechungen faktisch eingetreten sind, nicht
berücksichtigen, weshalb das Konzept der
Generationengerechtigkeit in den letzten Jahren an Plausibilität
stark eingebüßt hat.
Am Ende des Beitrags räumt
der Autor deshalb ein, dass alles auch ganz anders kommen
könnte.
2009
BERNER, Frank/LEISERING, Lutz/BUHR, Petra (2009):
Innenansichten eines Wohlfahrtsmarktes.
Strukturwandel der privaten Altersvorsorge und die
Ordnungsvorstellungen der Anbieter,
in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
Heft 1, März, S.56-89
BERNER u.a. beschreiben die
Sicht von Neil GILBERT ("enabling state") und Franz-Xaver
KAUFMANN ("Steuerungsstaat") auf den Umbau des Sozialstaats. Die
private Altersvorsorge beschreiben die Autoren als
Wohlfahrtsmarkt, der nicht als Dienstleistungs- Güter- oder
Arbeitsmarkt fungiert, sondern als Finanzmarkt, der wiederum
untergliedert ist in Altersvorsorgemärkte, Beratungsmärkte und
Finanzmärkte im eigentlichen Sinne. Dieser Wohlfahrtsmarkt zielt
auf "Einkommenssicherheit im Alter" ab, die wiederum durch
unterschiedliche Marktsegmente gewährleistet werden soll. BERNER
u.a. unterscheiden 5 Unternehmenstypen im Bereich der
Altersvorsorgemärkte: Lebensversicherungsunternehmen,
Pensionskassen, Pensionsfonds, Banken und
Kapitalanlagegesellschaften. Die Autoren beschreiben wie sich
der Wohlfahrtsmarkt durch die Riester-Reform 2001
ausdifferenziert hat.
MATTHES, Nadja/KOWALSKI, Matthias/HIRZEL, Joachim/OBST,
Anja/SCHÖNSTEIN, Jürgen/SCHWAB, Fritz (2009): Keine Angst um die
Rente - aber gesund bleiben.
Überraschende Erkenntnis: In Deutschland lösen sich viele
Probleme der Sozialsysteme in Zukunft quasi von selbst. Nur in
der Kranken- und Pflegeversicherung scheinen die Kosten auf
Dauer kaum finanzierbar,
in:
Focus,
Nr.25 v. 15.06.
Die Autoren referieren eine
PROGNOS-Studie. Im Jahr 2025 haben sich die Mentalitäten der
Deutschen an die Sachzwänge angepasst und arbeiten frohgemut
länger:
"Die Bevölkerungsentwicklung
ist eindeutig und sehr vorhersehbar: Wer heute nicht geboren
ist, kann 2025 keinen Rentner im Ruhestand ernähren. Der Anteil
der über 65-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung zwischen 15 und
65 Jahren steigt um fast zehn Prozentpunkte auf 40 Prozent an.
Ein schwacher Trost, dass Japaner und Finnen die Alterung ihrer
Gesellschaften mit 49 bzw. 41 Prozent noch härter trifft".
Das Alterseinkünftegesetz von
2005, mit dem die nachgelagerte Rentenbesteuerung eingeführt
wurde, wird gelobt, weil es die Spielräume für die private
Altersvorsorge erhöht. Die Finanzdienstleister wird das
freuen...
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