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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Entwicklung der Lebenserwartung in Deutschland

 
       
   

Die Debatte um den Anstieg der Lebenserwartung, die Gesundheit Älterer, die Unterschiede der Sterblichkeit und ihre Bedeutung für die Sozialsysteme (Teil 4)

 
       
   

Die Chronologie der Debatte

 
       
   
     
 

Vorbemerkung

Die Entwicklung der Lebenserwartung gilt Demografen und Ökonomen neben der Entwicklung der Geburten in Deutschland als das gesellschaftliche Hauptproblem des demografischen Wandels. Insbesondere die Rentenversicherung und die Krankenversicherung sowie die Pflegeversicherung (Stichworte: Pflegebedarf bzw. Pflegenotstand) erscheint in einer Gesellschaft der Langlebigen als bedroht. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre wird das Rentensystem aufgrund der steigenden Altenlast immer wieder vor dem Kollaps gesehen. Leistungseinschnitte oder Privatisierungen gelten Neoliberalen bzw. Nationalkonservativen als einzige Möglichkeit, um die Sozialversicherungssysteme zu retten. Dabei bleiben die zentralen Fragen außen vor: Was bedeutet der Anstieg der Lebenserwartung überhaupt für unsere Gesellschaft? Nicht demografische Aspekte, sondern nicht-demografische Aspekte wie der medizinische und technologische Fortschritt, die Gesundheit jüngerer und älterer Menschen, infrastrukturelle und arbeitsmarktstrukturelle Veränderungen sind in der hier vertretenen Sicht bedeutender. Die Zukunft Deutschlands könnte also ganz anders aussehen als dies die üblichen Prognosen behaupten. Diese Bibliografie widmet sich deshalb in erster Linie jenen Fragen, die gewöhnlich eher vernachlässigt werden, weil sie nicht von mächtigen Interessensgruppen vorangetrieben werden.

Kommentierte Bibliografie (Teil 4: 2015)

2015

BECKER, Kim Björn (2015): "Für die Pflegenden ein täglicher Kraftakt".
Fast drei Viertel der Menschen, die ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen können, werden zu Hause betreut - meist von Angehörigen Um den drohenden Notstand von Personal in den Heimen zu bewältigen, fordern Experten eine schnelle Aufwertung des Sozialberufs,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 13.03.

RÖTZER, Florian (2015): Die reichsten Engländer können 19 Jahre länger gesund leben als die ärmsten.
Nach Zahlen des Statistikamts gleichen manche Gegenden Englands diesbezüglich der Lebenserwartung von Entwicklungsländern,
in: T
elepolis v. 27.03.

DESTATIS (2015): Lebenserwartung für Jungen knapp 78 Jahre, für Mädchen rund 83 Jahre,
in: Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes v. 22.04.

Aufgrund des Zensus 2011 musste die Lebenserwartung nach unten korrigiert werden, sodass die Lebenserwartung im Vergleich zur letzten Sterbetafel bei Männern gleich und bei Frauen lediglich um einen Monat gestiegen ist.

REINHÄCKEL, Heide (2015): Gemeinsam alt sein.
taz-Spezial Altern: Alten-WG: Mehrgenerationenhäuser sind die konkrete Utopie der alternden Gesellschaft. Wie man solche Konzepte verwirklichen kann, zeigt das "Leipziger Modell". Zwei Architektinnen, die das Projekt initiieren, setzten sich dabei auch mit dem Thema Armut auseinander,
in: TAZ v. 09.05.

STUTTGARTER ZEITUNG-Tagesthema: Der Wandel wird sichtbar.
Bevölkerungsentwicklung: Eine neue Studie zeigt, dass die Deutschen immer älter werden. Bis 2030 verdoppelt sich die Zahl der über 80-Jährigen. Das hat Konsequenzen

KÄFER, Armin (2015): Der Südwesten wächst und wird älter.
Der demografische Wandel ist in vollem Gang. Die Kluft zwischen Stadt und Land wird größer, die Vergreisung wächst rasant - das zeigt eine Studie zur Bevölkerungsentwicklung. Die Herausforderungen an die Politik sind enorm,
in: Stuttgarter Zeitung v. 09.07.

Armin KÄFER kann offenbar nicht einmal richtig abschreiben! In der Pressemeldung der privaten, neoliberalen Bertelsmann-Stiftung heißt es:

"In den kommenden 15 Jahren steigt die Zahl der Hochbetagten über 80 Jahre bundesweit um 47,2 Prozent auf über 6,3 Millionen."

Wäre dies eine Verdopplung, dann dürften heute nur 3,15 Millionen über 80-Jährige in Deutschland leben. Das Statistische Bundesamt meldete jedoch zur Veröffentlichung der 13. Bevölkerungsvorausberechnung am 28. April diesen Jahres:

"Im Jahr 2013 lebten 4,4 Millionen 80-Jährige und Ältere in Deutschland. Ihre Anzahl wird 2060 mit insgesamt 9 Millionen etwa doppelt so hoch sein wie heute."

Eine Verdopplung der über 80-Jährigen steht uns erst in 45 und nicht bereits in 15 Jahren bevor - vorausgesetzt die jetzige Entwicklung würde 45 Jahre anhalten, was jedoch an moderne Kaffeesatzleserei grenzt.

Unsere Presse leidet eindeutig am Vergreisungssyndrom, denn wer sich Deutschland ständig als Greisenstaat vorstellen muss, der fantasiert sich die Zahlen auch entsprechend zurecht.

KOSTRZEWA, Anne (2015): Nur die Alten bleiben.
Bis 2030 wird die Landbevölkerung in Deutschland stark schrumpfen. Berlin wird voll sein - und München jung,
in: Süddeutsche Zeitung v. 09.07.

Auch die SZ, die gerne eine "Qualitätszeitung" wäre, meldet fälschlicherweise eine Verdoppelung der 80-Jährigen bis 2030.

DESTATIS-Broschüre: Die Generation 65+ in Deutschland

STATISTISCHES BUNDESAMT (2015): Die Generation 65+ in Deutschland. Begleitmaterial zur Pressekonferenz v. 29.07.

In der Broschüre beschreibt das Statistische Bundesamt die Aussichten der "Generation 65 +" folgendermaßen:

"Mit 57 % gab es Ende 2013 mehr ältere Frauen als Männer (43 %). Die Hauptursache liegt in der höheren Lebenserwartung von Frauen. Nach der allgemeinen Sterbetafel 2010/2012 für Deutschland haben 65-jährige Männer eine noch verbleibende Lebenserwartung von 17 Jahren und 6 Monaten. 65-jährige Frauen können statistisch gesehen mit weiteren 20 Jahren und 9 Monaten rechnen." (2016, S.5)

Zur Entwicklung der Pflegebedürftigkeit heißt es:

"Ende 2013 waren 2,2 Millionen Menschen ab 65 Jahre pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (Sozialgesetzbuch XI). Die Mehrheit davon waren Frauen (69 %). 1,4 Millionen Pflegebedürftige (66 %) waren 80 Jahre und älter.
Von 1999 bis 2013 wuchs die Zahl der Pflegebedürftigen ab 65 Jahre von 1,6 Millionen auf 2,2 Millionen. Der Grund für die Zunahme war die gestiegene Zahl älterer Menschen: 1999 hatte es in Deutschland 2,9 Millionen Menschen ab 80 Jahre gegeben; 2013 waren es bereits 4,4 Millionen." (2016, S.39)

ZEIT-Titelgeschichte: Der Fluch der frühen Rente.
Ein Leben lang träumen wir vom wohlverdienten Ruhestand. Dann ist er da - und wir müssen lernen, ohne Kollegen, Pflichten und Visitenkarten auszukommen

AHR, Nadine (2015): Herr Vahl hört auf.
Dossier: Nie zuvor gingen so viele Deutsche in Rente wie heute. Manfred Vahl ist einer von ihnen. Er wohnt in Hamburg, war 49 Jahre bei der Bahn und freut sich auf seinen Ruhestand. Doch der ist anders als erwartet,
in: Die ZEIT Nr.31 v. 30.07.

"Einer von über 800.000 Deutschen im vergangenen Jahr. Es sind so viele wie noch nie zuvor, und es werden immer mehr. Großteils haben sie ihr ganzes Berufsleben in einem einzigen Unternehmen verbracht. Bei ihrer Einstellung haben sie nicht über die beste Work-Life- Balance geredet. Sie kannten das Wort gar nicht. Auch Herr Vahl hat immer viel gearbeitet. Um etwas zu schaffen, um voranzukommen und sich etwas leisten zu können. Die Menschen, die jetzt in Rente gehen, stehen finanziell besser da als alle Rentner- Generationen vor ihnen. Herr Vahl ist Beamter, er wird Pensionär. Auch im Ruhestand wird er genug Geld haben . Die Menschen, die jetzt in Rente gehen, sind auch fitter, sie fühlen sich jünger als frühere Rentner-Generationen",

beschreibt Nadine AHR den Hintergrund der Story. Es gibt viele Bücher über den Ruhestand, aber ausgerechnet das Buch In Rente von Wolfgang PROSINGER, einem Journalisten, der den neuen neoliberalen Mainstream in Sachen Ruhestand beschreibt und der angeblich die Wahrheit über den letzten Lebensabschnitt verkündet, wird hervorgehoben.

Tatsächlich gibt es diese Menschen, für die der Ruhestand ein Einschnitt ist, weil der Betrieb für sie das Leben ist. Für diejenigen jedoch, die die neue Unternehmenskultur des flexiblen Kapitalismus kennen und die auch jenseits der Erwerbsarbeit sinnvolle Tätigkeiten gefunden haben, ist der Ruhestand kein Einschnitt, dessen Unstrukturiertheit Sorge bereitet, sondern eine Möglichkeit dem Leben bessere Seiten abzugewinnen.

Natürlich darf in solch einem neoliberalen Mainstream-Artikel auch nicht der Frührentner fehlen, der mit 65 stirbt, wo doch im Schlager danach erst das Leben so richtig beginnt...

Und weil der Sozialstaat umgebaut wird, ist zudem mehr ehrenamtliches Engagement erforderlich. Dies wird jedoch als individueller Gewinn vermarktet: wegen der Kontakte und der Gesundheit wird es getan und nicht weil es den Sozialstaat entlastet:

"Er würde auch gerne bei der Armentafel Essen austeilen. »Weil ich dann wieder mehr mit Menschen unterschiedlichen Alters zu tun hätte«, sagt er. Aber auch, weil er wieder eine Aufgabe haben will. Herr Vahl möchte noch etwas schaffen, nicht für Geld, sondern für andere. Und dabei für sich selbst".

Der Soziologe Stephan LESSENICH u.a. beschreiben dieses privilegierte Mittelschicht-Leben im Ruhestand, das AHR im Artikel zeichnet, im Buch Leben im Ruhestand als neues gesellschaftliches Leitbild des produktiven Alters, das an die Stelle des traditionellen Ruhestandes getreten ist.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG-Tagesthema: Deutschlands ruhelose Rentner.
Sie reisen, lesen viel, schreiben sich an Hochschulen ein. Einige gründen sogar Unternehmen. Der Alltag alter Menschen hat sich in den vergangenen Jahren stark gewandelt. Viele können dank guter Gesundheit ihr Leben länger genießen. Ist also alles gut für die Generation 65 plus? Ganz so rosarot sieht es dann doch nicht aus

ÖCHSNER, Thomas (2015): Der Reiz der späten Jahre.
Mit 66 fängt es bei vielen tatsächlich erst richtig an. Wie sich das Leben der Älteren ändert,
in: Süddeutsche Zeitung v. 30.07.

Thomas ÖCHSNER berichtet über die Erhebung des Statistischen Bundesamtes zu den 65-Jährigen und Älteren, wobei der Anstieg der erwerbstätigen Alten - diese Steigerung ist in neoliberaler Hinsicht erwünscht, um die Sozialversicherung zu entlasten - hervorgehoben wird. Das wird in erster Linie als individueller Gewinn vermarktet bzw. als Notwendigkeit, um der Altersarmut zu entgehen. 

KOSTRZEWA, Anne (2015): In alter Frische.
Warum eine Reisekauffrau als Rentnerin eine eigene Firma gegründet hat - und damit auch noch erfolgreich ist,
in: Süddeutsche Zeitung v. 30.07.

SCHMIDT, Christoph M. 2015), Der demografische Wandel als große Herausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft - ein Überblick. In: Franz-Xaver Kaufmann & Walter Krämer (Hg.) Die demografische Zeitbombe. Fakten und Folgen des Geburtendefizits, Paderborn: Ferdinand Schöningh, S.39-77

Christoph M. SCHMIDT propagiert eine Kopplung des Renteneintrittsalters an die fernere Lebenserwartung, wobei es im Grunde um die Rentenbezugsdauer geht, denn:

"Sieht man der Einfachhalber einmal von der Diskrepanz zwischen gesetzlichem und tatsächlichem Renteneintrittsalter ab, entspricht (...) die Steigerung der »ferneren Lebenserwartung«, also der Lebenserwartung, die man erreicht hat, wenn man bereits genau 65 Jahre alt ist, 1-zu-1 der Steigerung der Rentenbezugsdauer. Steigerungen der ferneren Lebenserwartung übersetzen sich also in dem Ausmaß direkt in Steigerungen der erwarteten Rentenbezugsdauer, in dem sie nicht durch Steigerung der Lebensarbeitszeit kompensiert werden.
Wäre es im gesamten Zeitraum von 1960 bis 2060 durchgehend bei dem einmal beschlossenen Renteneintrittsalter von 65 geblieben, dann wären die Lebenszeit nach dem Alter 65 und die Rentenbezugsdauer nach dem Alter 65 für alle Jahrgänge, die jeweils das 65. Lebensjahr vollenden, völlig identisch. Rentner, die im Jahr 1960 in Rente eingetreten sind, sahen typischerweise einem Rentenbezug von etwa 13,5 Jahren entgegen. Fünfzig Jahre später beträgt die erwartete Dauer des Rentenbezugs bereits etwas mehr als 19 Jahre, im Jahr 2060 werden es voraussichtlich fast 24 Jahre sein."
(2015, S.73f.)
"

Aus dieser Momentanbetrachtung, deren empirische Überprüfung aussteht, wird Folgendes geschlossen:

"Die Anregung des SVR (2011), durch eine weitere Steigerung der Lebensarbeitszeit einen Beitrag für die Zeit nach dem Jahr 2030 für die Stabilität des umlagefinanzierten Systems der gesetzlichen Rentenversicherung zu leisten,  (...) sieht (...) vor, die sich nach dem Jahr 2030 ergebenden weiteren Steigerungen der ferneren Lebenserwartung zu einem guten Teil in eine Steigerung der Lebensarbeitszeit umzusetzen. Die hier ausgewiesenen Berechnungen sehen eine Aufteilung der Lebensdauer zwischen dem Alter 20 und dem zu erwartetenden Lebensende nach dem im Jahr 2030 erreichten Stand vor. Demnach würden Lebensarbeitszeit und Rentenbezug im Verhältnis von näherungsweise 7 (Arbeitszeit nach dem Alter 20) zu 3 (Rentenbezug) aufgeteilt.
Im Effekt ergibt sich eine weitere Steigerung der Lebensarbeitszeit nach dem Alter 65 um 4 Jahre - auf ungefähr 69 Jahre im Jahr 2060. Die Rentenbezugsdauer würde aber ebenfalls weiter steigen, auf nahezu 20 Jahre im Jahr 2060. Unter der geltenden Regelung der Einführung der Rente mit 67, die nach dem Jahr 2030 keine Fortsetzung findet, wird die Rentenbezugsdauer der künftigen Rentnergeneration hingegen auf fast 22 Jahre steigen."
(2015, S.74f.)

Inwiefern die Aussagen richtig sind, dazu liegen keine empirischen Überprüfungen vor. Es ist stattdessen davon auszugehen, dass zwischen der Entwicklung der Rentenbezugsdauer und der Entwicklung der ferneren Lebenserwartung kein so enger Zusammenhang besteht wie das hier behauptet wird. Dagegen spricht bereits die Tatsache, dass in der Vergangenheit die Massenarbeitslosigkeit durch Frühverrentung bekämpft wurde. Hinzu kommt, dass das Konstrukt der "ferneren Lebenserwartung" Ergebnis einer Selbstselektion ist, d.h. dass Klassenunterschiede und damit verbundene Polarisierungen bei der durchschnittlichen Lebenserwartung wegdefiniert werden. Im Endeffekt würde hier eine geschlossene Gesellschaft der Besserverdienenden zum Maßstab der Klassengesellschaft gemacht werden, was die soziale Ungleichheit weiter erhöhen würde.

CAN, Devin (2015): Die neuen Alten.
Die heutigen Best-Ager jenseits der Sechzig pflegen ihr ganz eigenes Konsumverhalten,
in: Frankfurter Rundschau v. 22.08.

Devin CAN berichtet über die Ergebnisse des Marktforschungsinstitut GfK zum veränderten Konsumverhalten der Älteren, das mehr und mehr von der Babyboomer-Generation dominiert werde. Insbesondere der Lebensmittelmarkt, die Kosmetik- und die Tourismusbranche stehen im Mittelpunkt des Artikels.

Michael MARMOT The Health Gap The Challenge of an Unequal World, London: Bloomsbury

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE-Thema: Hochbetagt

SPECHT, Jule (2015): Psychologie des hohen Lebensalters.
Der aktuelle Forschungsstand,
in: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr.38-39 v. 14.09.

Jule SPECHT hält sich erst gar nicht mit der Frage auf, ob 80-Jährige im Jahr 2060 überhaupt noch als Hochbetagte anzusehen sind. Wenn die Lebenserwartung bis dahin tatsächlich um 6-7 Jahre steigen würde, dann müsste sich auch die Altersgrenze für Hochbetagte z.B. Richtung 85-Jährige verschieben. Der Statistiker Gerd BOSBACH hat das als Vermischung von statischer und dynamischer Sichtweise kritisiert.

BARTENS, Werner (2015): Die Zeit, die bleibt.
Menschen schätzen verbleibende Lebenserwartung oft falsch ein,
in: Süddeutsche Zeitung v. 20.10.

Werner BARTENS berichtet über die Veröffentlichung Subjective, Objective, and Observed Long-term Survival: A Longitudinal Cohort Study von Rafael D. ROMO u.a.

In der Studie wird nicht die individuell geschätzte mit der tatsächlich verbliebenen Lebenszeit verglichen, sondern lediglich die individuell geschätzte mit einer "objektiven Lebenserwartung". Das mag zwar aussagekräftig im Sinne einer Massenstatistik sein, aber für das einzelne Individuum ist die Studie wertlos. Wer sagt mir denn, ob ich gerade bei jenen bin, die ihre Lebenserwartung unterschätzen und nicht bei jenen, die ihre Lebenserwartung überschätzen? Es ist für den Alltag des Einzelnen unnützes Wissen, das hier in der Rubrik Wissen der SZ verbreitet wird. Relevanz könnte die Studie nur im institutionellen Kontext gewinnen, d.h. Ärzte könnten aus einer Tendenz der Unterschätzung andere Beratungsstrategien ableiten als aus einer Tendenz zur Überschätzung. Doch um z.B. für Ärzte relevant zu sein ist der Artikel wieder zu oberflächlich, denn offenbar müssen neben dem Alter des Patienten auch noch andere Aspekte berücksichtigt werden, auf die im Artikel nicht näher eingegangen wird. Es bleibt am Ende deshalb nur bei Banalitäten:

"Wer seine restliche Lebenserwartung deutlich unterschätzt, wird womöglich einer Therapie oder weiteren Untersuchungen im Krankheitsfall nicht so schnell zustimmen und damit hilfreiche Unterstützung nicht erhalten. Umgekehrt ist es für Patienten äußerst belastend, wenn sie noch einer invasiven und anstrengenden Therapie ausgesetzt werden, obwohl alle Anzeichen darauf hindeuten, dass sie davon nicht profitieren werden, weil sie nicht mehr lange zu leben haben."

Der Wert des Artikels liegt wohl eher im Anstoß für weitere Forschungen:

"Wir müssen lernen zu verstehen, wie es die Behandlungsentscheidung beeinflusst, wenn ältere Menschen ihre Lebenserwartung unter- oder überschätzen",

zitiert BARTENS den Forscher ROMO. Wäre es also nicht sinnvoller für jeden Artikel die Adressaten explizit zu nennen? Der Journalist müsste sich dann nämlich beim Schreiben überlegen für wen sein Artikel eigentlich von Interesse sein soll und welche Informationen vonnöten sind, um dieses Interesse zu befriedigen. Oder will der Artikel möglichst viele Leser erreichen? Aber welchen Gewinn hätten dann die Leser von diesem Artikel?  

FENGLER, Wolfgang (2015): Mythen der Rente.
Die Altersversorgung kann nur dann sicher werden, wenn die künstliche und abrupte Trennung von Arbeit und Ruhestand verschwindet,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 19.12.

Ein Blick aus der oberen Mittelschicht auf das Rentensystem, das nach deren Bedürfnissen umgestaltet werden soll. Die Neugeborenen dieser privilegierten Schicht können sich auf ein Methusalem-Leben freuen. Man findet in diesem Artikel jedoch nichts über die Heterogenität der Lebenserwartung. In einem Lehrbuch der Soziologie heißt es dazu:

"Die altersspezifische Mortalität ist - bedingt auch durch soziale Faktoren - zwischen den Individuen unterschiedlich (heterogen) ausgeprägt, was bedeutet, dass mit zunehmendem Alter in verstärktem Maße diejenigen mit einem geringeren Mortalitätsrisiko übrig bleiben (...). Dieser auch als Heterogenitätsproblem bezeichnete Selektionseffekt führt dazu, dass die altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten - die natürlich immer im Durchschnitt derer berechnet werden, die das jeweilige Alter erreichen - niedriger sind, als es dem Durchschnitt des Geburtsjahrgangs entspricht. Die Lebenserwartung bei Geburt wird daher mit zu geringen altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten berechnet."
(Thomas Klein "Eine Sozialstrukturanalyse", 2005, S.96)

 
     
 
       
     
       
   

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© 2002-2019
Bernd Kittlaus
webmaster@single-generation.de Erstellt: 04. Juni 2017
Update: 11. Februar 2019