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Einführung
Das Buch Die Stadt der
Zukunft ist bereits Ende 2018 erschienen. Die Autoren
arbeiten beim
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung
(BBSR).
Robert KALTENBRUNNER leitet die Abteilung II (Bau -und
Wohnungswesen). Sein Co-Autor Peter JAKUBOWSKI ist Mitarbeiter
der Abteilung I (Raumordnung und Städtebau) und leitet dort das
Referat "Digitale Stadt, Risikovorsorge und Verkehr". Diese
Tätigkeiten färben ab auf die Darstellung der Stadtproblematik. Zielgruppe
des Buches sind die urbanen Kosmopoliten, weswegen es hier gegen
den Strich gelesen wird. Das Buch knüpft
an den Feuilletondebatten in der Mainstreampresse an,
was über 300 Seiten hinweg ziemlich ermüdend ist und eher
Small-Talk-Partygesprächen dient, aber kaum anregend ist für
jene, die sich für aktuelle und zukünftige Entwicklungen der
Stadtentwicklung interessieren. Es gilt also sich auf das
Wesentliche zu konzentrieren.
In dem Buch finden sich
zahlreiche Hinweise auf die Denkweise unserer urbanen,
kosmopolitischen Elite und ihre Vorstellungen zur zukünftigen
Stadtentwicklung. Es sind jedoch gerade die
Widersprüchlichkeiten des Buches, das zwischen romantischem
Idealismus und neoliberaler Realität mäandert, die
aufschlussreich sind. Diese Widersprüchlichkeiten stehen deshalb
im Mittelpunkt dieses Beitrags. Es geht dabei um die große Kluft
zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Stadtentwicklung in
Zeiten des umkämpften Neoliberalismus.
Der Titel ist für die
Ausführungen der Autoren etwas großspurig, denn es geht hier
nicht um Zukunftsforschung, sondern eher um die gegenwärtigen
Denkweisen, die nach Meinung der Autoren auch unsere Stadtzukunft bestimmen
werden. Das wird uns nicht in der Einleitung mitgeteilt, sondern
erst auf Seite 316:
Die Stadt der Zukunft
"(L)etztlich gibt es kaum Anknüpfungspunkte,
an denen sich seriöse Vorhersagen festmachen lassen. Wir
haben hier Facetten und Strömungen, Eigenlogiken und
dominante Interessen aufgeblättert, die das Urbane
ausmachen. Und wir gehen davon aus, dass eben dieses
Kräfte- und Ideennetzwerk auch für die Zukunft prägend
sein wird." (2019, S.316) |
Von diesen Sätzen her,
erschließt sich weitgehend der Inhalt des Buches. Einzig zur
smarten Stadt wird uns auf den Seiten 304ff. eine Vision aus dem
Jahr 2030 präsentiert.
Der
starke Stadt als Dompteur des Neoliberalismus?
Die Zeiten, in denen
Neoliberalismus alternativlos als Deregulierung und
Privatisierung begriffen wurde, sind mittlerweile - zumindest
rhetorisch - vorbei. Die Autoren setzen auf einen starken Staat,
der dem Gemeinwohl zum Durchbruch verhelfen soll. Problematisch
ist jedoch, dass dieser starke Staat weiterhin als schlanker
Staat gedacht wird. Effizienz ist das Zauberwort, das neben
Bürgerengagement die Kosten für den Staat niedrig halten soll.
Der grassierende Ökonomismus wird oftmals unkritisch
wiedergekäut, statt auf die Problematik hinzuweisen. So werden
wirtschaftliche Interessen gerne durch stadtplanerische
Grundsätze übertüncht. Etwa wenn es heißt:
Die Stadt der Zukunft
"Mobil gemacht werden soll das gesamte
Stadtgebiet für dessen Bewohner: nicht durch ein
Verkehrsnetz möglichst gleichmäßiger Schnellanbindungen,
sondern durch abgestufte Erschließung, die dem Raum seine
Topographie und seine entlegenen Stellen lässt."
(2019, S.16) |
Dieser
Stadtplanungsgrundsatz ist jedoch letztlich dem Ökonomismus
geschuldet, wie er dann fast 40 Seiten später beschrieben wird:
Die Stadt der Zukunft
"Je mächtiger (...) eine Infrastruktur (...,)
desto stärker unter dem ökonomischen Imperativ der Zwang,
sie vor allem dort anzulegen, wo die Nutzer nicht nur
zahlreich, sondern auch möglichst zahlungskräftig sind.
Die Profitlogik verstärkt die Dichte, der die
Infrastrukturen unterliegen, wobei Dichte eben nicht
allein Dichte der Bevölkerung, sondern des Einkommens und
Vermögens bedeutet."
(2019, S.53) |
Der Leser des Buches wird
immer wieder mit solcher stadtplanerischen Schönfärberei des
Ökonomiedenkens konfrontiert. Nicht verschwiegen werden soll
dabei jedoch, dass gerade das historisch gewachsene Verkehrsnetz
die weitere Erschließung determiniert. Insbesondere beim
Schienenverkehr führt dies dazu, dass absurde Umwege gefahren
werden müssen, um von A nach B zu kommen. Will jemand z.B.
von der Großstadt Heidelberg nach
Hockenheim reisen, einer Mittelstadt mit einer weltweit bekannten
Motorsport-Rennstrecke ("Hockenheimring"), die rund 21.000
Einwohner zählt, dann kann er diese mit dem Auto in ca. 20 Minuten
erreichen. Die Fahrtstrecke ist rund 20 Kilometer lang. Mit der
Bahn ist dagegen ein Umweg über Mannheim notwendig. Weil die
Fahrstrecke mehr als doppelt so weit ist, dauert die Fahrzeit
rund eine Stunde und erfordert einen Umstieg. Die Alternative
Bus ist ebenfalls nicht schneller, nur die Fahrstrecke ist etwas
kürzer. Dieses Beispiel stammt nicht
aus einer "abgehängten Region", sondern aus der
Metropolregion Rhein-Neckar, zu der beide Städte gehören.
Davon ist jedoch in Sachen öffentlicher Nahverkehr nichts zu
spüren.
Dieses Beispiel
verdeutlicht zugleich, dass es zu einer echten "Verkehrswende", die zur
Zeit überall - und auch im Buch - beschworen wird, mehr als nur
Preissenkungen bedarf!
Die
Rechtfertigung des Neoliberalismus der 1990er Jahre und der
Investorenstädtebau als Ideal
Die Autoren sehen für die
1990er Jahre eine Notwendigkeit von Privatisierung und
Deregulierung als gegeben und behaupten nun, dass die Städte aus
den Fehlern gelernt hätten, sodass nun der Investorenstädtebau - unter
bestimmten Bedingungen - durchaus sinnvoll sei:
Die Stadt der Zukunft
"Durchaus kompliziert
war die Konstellation in Deutschland in den 1990er Jahren
in Hinblick auf die Tatkraft des Staates. Weil ihre
Haushaltssituation extrem angespannt, mitunter sogar
prekär war, büßten viele Städte einen Großteil ihrer
Gestaltungskraft ein. (...) Privatisierung und
Liberalisierung schienen im damaligen politischen
Mainstream das Gebot der Stunde. (...). Es galt, die
Kräfte des privaten Kapitals und den Wettbewerb in den
Dienst des Urbanen zu stellen. Und wie so oft: Erst (...)
ex post (...) erkennen wir die Fehler: Die ausgleichenden
Gemeinwohlziele für die Stadt lassen sich eben nicht ohne
Staat erreichen. Sind die Kräfte des privaten Kapitals
erst entfesselt, bedarf es in der Regel mehr Staat (...).
So müssen öffentlich-private Verträge äußerst
kenntnisreich aufgesetzt und aufwendig kontrolliert
werden, damit auch der öffentliche Partner seine
Vertragsziele erreicht sieht. Ausschreibungen, Wettbewerbe
und Vergaben dürfen nur dem Gemeinwohl verpflichtet sein
und nicht der Tatsache, dass jeglichem Privatkapital der
Weg zum Investment zu ebenen sei. Und dann setzte sich die
Einsicht durch, dass diejenige Stadt deutlich besser fährt
(...), die eine ebenso klare wie starke und selbstbewusste
urbane Entwicklungsstrategie verfolgt. (...). (D)as
Kräfte-Parallelogramm dieses öffentlich-privaten Ringes
ist so konstruiert, dass regelmäßig die auch ökonomisch
lukrative Stadt eine starke Verhandlungsposition besitzt
und ihre Konzepte entweder durchsetzen oder dem Ansinnen
eines Investors, aus der Position der Stärke heraus, eine
Absage erteilen kann. Was wiederum oft genug (...)(g)ute
und innovative, städtebaulich ausgewogene Projekte
(zeitigt), von privater Hand umgesetzt und finanziert.
(...). Schwierig bis dysfunktional wird das Spiel, wenn
die Stadt - weil sie unter multiplen Gebrechen leidet -
den schwächeren Part innehat und sich den Investoren
ausliefert."
(2019, S.254f.) |
Das klingt gut, zumindest
für die "ökonomisch starken" Städte, beschreibt aber nicht die
Realität der meisten Städte, sondern das neue Ideal eines starken, aber schlanken
Staates, dessen Schattenseiten weiter unten beleuchtet werden.
Urbaner
Kosmopolitismus als Ideologie
Die Stadt gilt urbanen
Kosmopoliten als die gesellschaftliche Avantgarde. Stadt ist
dort, wo die Moderne ist. Oder wie es bei den Autoren heißt:
Die Stadt der Zukunft
"Heute deutet vieles darauf hin, dass die
ganze Welt Stadt werden wird. Mehr als die Hälfte der
Weltbevölkerung lebt nun in Städten, in weniger als zehn
Jahren wird diese Zahl auf zwei Drittel angestiegen sein.
Damit wird deutlich, dass sich die entscheidenden
Herausforderungen der Weltgesellschaft tatsächlich am
Städtischen festmachen werden. Dazu gehören ökologische
Fragen ebenso solche der Versorgung, logistische
Herausforderungen und schließlich auch die soziale Frage."
(2019, S.15) |
Das Problem besteht jedoch
darin, dass der Begriff "Stadt" umkämpft ist:
Die Stadt der Zukunft
"Stadt kann (...) nicht mehr als Synonym für
eine klar definierte, baulich gefasste und kommunal
administrierte Einheit gelten. Folgerichtig gibt es in der
Fachwelt keinen rechten Konsens darüber, was Stadt heute
ist. Bei den einen schwingt, wenn sie von Stadt sprechen,
die Assoziation von der geschlossenen, kompakten Form mit,
das Bild der »Europäischen Stadt« als regionales Zentrum.
Für die anderen hat sich dieses traditionelle Image längst
verflüchtigt. Für sie macht sich ein neuer Typus von Stadt
breit, die Stadt ohne Eigenschaften, die Netzwerkstadt,
die Zwischenstadt, die Regionalstadt - es kursieren eine
Reihe von Begriffen, die meisten so unscharf wie
missverständlich."
(2019, S.13) |
Das Problem bei diesen
Stadtbeschreibungen ist, dass sich empirische und normative
Aspekte vermischen. Die Ausführungen der Autoren sind für ein
besseres Verständnis kaum hilfreich, sondern fördern eher das
Wirrwarr. Die Autoren sehen in der europäischen Stadt eine
"kulturhistorisch und emotional" wichtige Brücke zwischen
Zukunft und Vergangenheit (vgl. 2019, S.323). Dies bildet
zugleich den romantisch-idealistischen Pol der Betrachtung.
Im urbanen Kosmopolitismus überwiegen die normativen
Aspekte des Stadtbegriffs, sodass die Analysen entsprechend
einseitig sind, obwohl sie das Gegenteil vorgaukeln. Allein der
Textaufbau, der von These, Antithese und anschließender Synthese
geprägt ist, kaschiert den Konformismus des dahinter stehenden
linksliberalen Weltbildes. Der Untertitel des Buches lautet
Wie wir leben wollen. Dieses Wir aber wird nicht als
Ideologie kenntlich gemacht, sondern bestimmt unter der Hand das
Buchanliegen. Der normative Aspekt des zeitgenössischen
Urbanismus, womit die Grundsätze der Stadtentwicklung gemeint
sind, werden mit Verdichtung, Durchmischung, Mobilität und neue
Landschaftsbildung beschrieben (vgl. S.16). Darauf wird später
zurückzukommen sein. Zunächst geht es um die Rolle des Staates
in der Stadtentwicklung.
Der starke, aber schlanke Staat als Problemfall
Der Staat soll Hüter des
Gemeinwohls sein und die Marktkräfte in diesem Sinne im Zaum
halten. Die Autoren sehen zwar den Neoliberalismus der 1990er Jahre
als erforderlich an. Doch die Deregulierung und Privatisierung
sei inzwischen über das Ziel hinausgeschossen und das Gemeinwohl
sei unter die Räder der Marktkräfte gekommen. Der starke Staat
soll es deshalb richten. Der Begriff "Gemeinwohl" wird aber
nirgends definiert und entsprechend schwammig kommt dieses
Gemeinwohl daher. Das Gemeinwohl wird eher durch sein Gegenteil
bestimmt: die Partikularinteressen derjenigen, die Ansprüche an
die Stadtentwicklung stellen, ob das nun Unternehmen, Investoren
oder Bürger sind. Im Prinzip sind also die Autoren diejenigen,
die das Gemeinwohl verteidigen - was immer das ist. Dann
wiederum erscheint Stadtentwicklung als ein
romantisch-idealistisches Projekt der "Kooperation":
Die Stadt der Zukunft
"Abstrakt gesehen stellt
Stadtentwicklung ein kooperatives kollektives Unternehmen dar,
dessen Ziel (hoffentlich) ein systematischer Gewinn, eine
Verbesserung im Sinne des Gemeinwohls ist."
(2019, S.327) |
In dieser Beschreibung
verwischen sich wieder normative (als Hoffnung kaschierte
Aspekte) mit einer am Gemeinwohl ausgerichteten Kooperation.
Diese Sicht übertüncht die Tatsache, dass Stadtentwicklung ein
konfliktreiches Projekt ist. Dann wieder werden wir mit dem
Einbruch der Realität in diese heile Welt konfrontiert:
Die Stadt der Zukunft
"Heute muss man konstatieren, dass eine
Vielzahl verschiedener Akteure unterschiedliche Ansprüche an den
Raum formuliert, und zwar so selbstbezogen wie synchron. Sie
äußern sich beispielsweise in unternehmerischen
Standortentscheidungen, Logistikkonzepten von Großverteilern,
bodenrechtlichen Spezifikationen, verkehrsinfrastrukturellen
Vorhaben, regionalplanerischen Leitbildern, wohnsoziologischen
Präferenzen, Arbeitsmarktentwicklungen etc. Diese Aufzählung
wäre unschwer zu verlängern. Eine gemeinsame Wirkung lässt sich
aber wieder abschätzen noch unter Kontrolle bringen.
Nicht zuletzt deshalb ist der sinnliche Eindruck, den unsere
heutigen Städte vermitteln, nicht besonders befriedigend.
Allzuoft sind wir mit einem unbändigen Konglomerat maßstäblich
nicht korrespondierender Bauten konfrontiert: am Bahnhof
gähnende Ödnis (...). Nach wie vor herrscht eine auf die
Optimierung einzelner Funktionen ausgerichtete räumliche
Organisation. (...). Kriterien (...:) Minimierung der Kosten und
Maximierung der Nutzbarkeit (...). Anmutungsqualität und
Identitätsbildung schmilzt hinweg."
(2019, S.234) |
Bereits diese drei
Passagen vermitteln einen Eindruck von der Widersprüchlichkeit
der Aussagen, mit denen der Leser konfrontiert wird. Die Autoren
sprechen lieber von Kaleidoskop.
Der neoliberale
Politikstil der 1990er Jahre zeitigt inzwischen
Kollateralschäden, die folgendermaßen beschrieben werden:
Die Stadt der Zukunft
"Heute gibt es niemanden mehr, so wird
vielerorts geklagt, der die Stadt gestalten könne. (...).
Nicht einmal der Anspruch werde noch erhoben. Stattdessen
gilt entweder Verwaltung des Status quo, oder, im besseren
Fall, die politische und administrative Begleitung eines
Veränderungsprozesses. (...). Viele Städte stehen,
bildlich gesprochen, mit dem Rücken zur Wand.
Finanzknappheit, Wohnungsnot, soziale Polarisierung sind
einschlägige Stichworte. An sich sind Städte und Kommunen
zuständig für die Bereitstellung wesentlicher Teile der
sozialen Infrastruktur (...). Dieser Aufgabe kommen sie
vielerorts immer weniger nach, weil ihnen Geld, Personal
und Kompetenzen fehlen. Den so in die Enge Getriebenen
geht dann zunehmend der Optimismus aus, Stadt positiv
gestalten zu können.
Die Rahmenbedingungen städtischer Politik sind angesichts
der vielfach nicht zu Ende gedachten Deregulierungs- und
Privatisierungspolitik der 1990er Jahre und der damit
verbunden - wohl übertriebenen - Ökonomisierung allzu
vieler Lebensbereiche deutlich unklarer geworden."
(2019, S.262) |
Mittlerweile - unter dem
Druck der AfD-Wahlerfolge - haben auch die einstigen Euphoriker
von Deregulierung und Privatisierung in der Mainstreampresse das
Thema entdeckt. So widmete die Süddeutsche Zeitung in ihrer
ersten Wochenendausgabe im neuen Jahr eine 3 Seiten lange
Reportage mit dem Titel Komm zurück. Im Untertitel heißt
es: Der Staat erfüllt viele seiner Aufgaben nicht mehr. Mit
Bädern, Bahnhöfen und Schulen bröckelt auch das
Selbstverständnis vom Vorzeigeland. Und für manche Bürger geht
eine Welt verloren. Stefan BRAUN schreibt dort:
Komm zurück
"Die volkswirtschaftlichen Rahmenbedingungen
scheinen das alte Bild noch zu bekräftigen. (...).
Auf der anderen Seite ist ein Land zu sehen, das von der
Substanz lebt. Verfallene Bahnhöfe, kaputte Schulklos,
löchrige Straßen. Krankenhäuser müssen Stationen
schließen. Lange Wartezeiten in Gerichten bringen Prozesse
in Gefahr. Es ist kaum mehr zu übersehen, dass der Staat
seine Grundaufgaben oftmals nicht mehr erfüllen kann.
Dieser Rückzug des Staates wirkt sich verheerend auf sein
Ansehen aus. (...) Es bröckeln (...) nicht nur Wände,
sondern auch das soziale Fundament der Demokratie.
(...).
Und jetzt? Jetzt versucht die Politik umzusteuern. (...).
Leicht geht das nicht, und schnell sowieso nicht. Denn der
Staat hat sich selbst so geschwächt, dass er kaum noch
gestalten kann. Es fehlen sogar die Strukturen, um wieder
etwas aufzubauen."
(Süddeutsche Zeitung 04.01.2020) |
Stefan BRAUN sieht im
Neoliberalismus der 1990er Jahre das Problem. Aber das wäre zu
einfach, denn die Blütezeit dieser Politik waren die Nuller
Jahre. Und selbst die Finanzkrise brachte keine grundlegende
Revision. Erst die AfD-Wahlerfolge nach 2015 ließen das Weltbild
bröckeln. Oder wie es BRAUN umschreibt: Es bröckelt das "soziale
Fundament der Demokratie". Im Gegensatz zu KALTENBRUNNER &
JAKUBOWSKI sieht BRAUN eine Selbstschwächung des Staates. Das
trifft es eher als die Schönfärberei, die im Buch betrieben
wird. Entsprechend haben die Ausführungen der Autoren auch eher
appellativen Charakter, der Hilflosigkeit ausstrahlt und den
Idealismus Lügen straft:
Die Stadt der Zukunft
"Die öffentliche Hand muss es wieder schaffen,
auf Augenhöhe mit den heute noch stärkeren Partnern zu
verhandeln. (...). Um das zu erreichen, bedarf es so
mancher Voraussetzung - ohne eine auskömmliche
Finanzausstattung der Städte und Gemeinden, zu der auch
ein wettbewerbsfähiges öffentliches Dienst- und
Besoldungsrecht zählt, wird allerdings alles nichts sein."
(2019, S.264) |
Man sollte in diesem
Zusammenhang daran erinnern, dass Personalausgaben im
Neoliberalismus als konsumtive Ausgaben gebrandmarkt wurden, die der
Kostensenkungspolitik zu allererst zum Opfer fielen.
Investitionen galten zwar prinzipiell als sinnvoll, doch blieben
sie meist aus, weil Schulden verteufelt wurden. 25 Jahre
Spardiktat lassen sich nicht ungeschehen machen und die
Rechtfertigungsversuche sind ein Scheinargument. Alle
Bevölkerungsvorausberechnungen wurden bis vor kurzem als
Freifahrtschein für marktradikale Politik betrachtet.
Wachstumsschmerzen werden nun stattdessen diagnostiziert. Die
Demografisierung
gesellschaftlicher Probleme, wie sie durch den
Neoliberalismus salonfähig gemacht wurde, hat zur
Selbstschwächung des Staates geführt. Zu einer angemessenen
Umsteuerung ist dieser Staat deshalb kaum mehr fähig.
Die
Industrie 4.0 als Hoffnungsschimmer am Stadtentwicklungshorizont
KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI
haben wenig positive Stadtentwicklungsszenarien zu bieten. Die
Industrie 4.0 gehört dazu. Die Utopie: Gibt es derzeit einen
Interessenkonflikt zwischen Markt und Stadt, so löst sich dieser
durch die Industrie 4.0 in Wohlgefallen ("Win-win-Situation")
auf:
Die Stadt der Zukunft
"Stehen wir gar an der
Schwelle zu einer modernen Industrie, die nicht nur
stadtverträglich, sondern stadtaffin ist?
Denkbar und gar nicht unwahrscheinlich ist diese
stadtaffine Ökonomie durchaus. Insbesondere zwei Aspekte
locken die Produktion wieder näher an die Stadt: Smarte
Technologien der Industrie 4.0 werden umfeldverträglicher
und vermutlich weniger raumgreifend als bisher. (...). Die
Produktion der Zukunft ist viel stärker mit Kreativität
und Know-how verknüpft als in der Vergangenheit: Spannende
und lukrative Produktionsstandorte müssen künftig weit
stärker als bisher dort angesiedelt werden, wo das
passende Personal leben möchte. (...). Wenn neue
Gebäudekomplexe der Industrie 4.0 in die Stadt einziehen
wollen, träte die industrienahe, Zukunft gestaltende
Baukultur aus dem Schatten der (...) historischen
Industriekultur. Nostalgie verlöre an Bedeutung. (...) In
dieser Argumentation ließen sich gegebenenfalls sogar die
Handlungslogiken der Fabrikanten mit denen der Stadtplaner
nach langen Jahrzehnten wieder in Einklang bringen: Denn
Urbanität scheint in dieser Denkrichtung eine
Win-win-Konstellation zu sein. Dann wird Wirtschaft
möglicherweise auch wieder ein wohlgelittener Aktivposten
für die Stadtentwicklung."
(2019, S.271ff.) |
In einer Dokumentation des
BBSR wird der Begriff "Industrie 4.0" folgendermaßen
beschrieben:
Neue Räume für die produktive Stadt
"Die unter dem Schlagwort
»Industrie 4.0« zusammengefassten Transformationstendenzen
der Industrieproduktion wie urbane Manufakturen, vernetzte
Produktion, FabLabs oder Kleinfabriken der
Recyclingbranche könnten eine Rückkehr neuer städtischer
Industrien in kleinteilig gemischte Quartiere ermöglichen.
(Katharina Hackenberg & Andrea Jonas 11.12.2019, S.13)
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Die geplante Gigafactory,
ein Batteriezellenwerk von Tesla für E-Autos, die in der
brandenburgischen Kleinstadt
Grünheide errichtet werden soll, ist wie das
geplante chinesische Batteriezellenwerk im thüringischen
Arnstadt das Gegenteil dessen, was den Autoren vorschwebt.
Das Beispiel Tesla und CATL deutet eher an, dass Standortpolitik
noch stärker umkämpft sein wird als gegenwärtig! Ansiedlungen,
wo das passende Personal leben möchten, sehen anders aus, und
kleinräumig sind diese flächenfressenden Fabriken auch nicht.
Im Gegensatz zum Buch, das
dieses wichtige Thema nur streift, befasst sich die Dokumentation
Neue Räume für die produktive Stadt ausführlicher mit
der Problematik.
Die
smarte Stadt - ein Schauermärchen
Ein ganzes Kapitel widmet
sich der Smart City als vermeintlicher Heilsbringer.
Hier schlägt uns insbesondere die Abwehrhaltung der
Feuilletondebatten in den Printmedien, und hier insbesondere im SCHIRRMACHER-Feuilleton ("Payback") entgegen, die sich von der
Digitalisierung bedroht sehen, obwohl ihre Probleme in ganz
anderen Aspekten zu suchen wären. Der Digitalisierung werden
oftmals Zauberkräfte zugeschrieben. Zu Big Data wird
Carlo RATTI zitiert:
Die Stadt der Zukunft
"»Big Data ist das, was man in großem aber
nicht in kleinem Maßstab tun kann, um neue Erkenntnisse zu
gewinnen oder neue Werte zu schaffen, so dass sich Märkte,
Organisationen, die Beziehungen zwischen Bürger und Staat
und vieles mehr verändern. Aber das ist nur der Anfang.
Die Ära von Big Data wird sich auch auf unsere Lebensweise
und unsere Weltsicht auswirken. Vor allem muss die
Gesellschaft sich gewohnter Vorstellungen von Kausalität
entledigen und stattdessen vermehrt auf Korrelationen
verlassen. Man wird oft nicht mehr wissen warum, sondern
nur noch was. Das ist das Ende jahrhundertelang
eingeführter Prozesse und verändert tiefgreifend die Art,
wie wir Entscheidungen treffen und die Wirklichkeit
verstehen.«"
(2019, S.288) |
Offenbar hat der Autor,
ein Architekt, nicht mitbekommen, dass das Kausalitätsdenken
höchstens noch in Teilen der Wissenschaft hochgehalten wird -
was nichts mit Big Data zu tun hat. Die
meisten empirischen Studien sind bereits jetzt
Korrelationsstudien, weil Forschungsdesigns, die Kausalitäten
erforschbar machen könnten, entweder zu teuer oder aufgrund der
Datenlage unmöglich sind. Die Wissenschaft hat sich faktisch
also längst von Kausalitäten verabschiedet, auch wenn manche
Wissenschaftler suggerieren, sie könnten Kausalitäten
nachweisen. In anderen Wissenschaftsbereichen wird gar nicht von
Kausalität, sondern von Wechselwirkungen gesprochen.
Uns werden
die aus den Feuilletons bekannten Dystopien von George ORWELL,
Aldous HUXLEY und Jewgenij SAMJATIN ("Wir") präsentiert, wobei
nur bei Letzterem überhaupt ein engerer Zusammenhang mit der
Digitalisierung besteht. Diesen Rundumschlag hätten sich die
Autoren sparen können und sich lieber ausführlicher auf die
Smarte Stadt beschränkt. Diese wird folgendermaßen definiert:
Die Stadt der Zukunft
"Als Smart City kann man eine Stadt
bezeichnen, in der neue Technologien in den Bereichen
Infrastruktur, Gebäude, Mobilität etc. intelligent und
systemübergreifend vernetzt werden, um Ressourcen wie zum
Beispiel Energie oder Wasser hocheffizient zu nutzen und
ihren Verbrauch zu reduzieren."
(2019, S.295) |
Effizienz ist zuerst
einmal nur ein Marketingversprechen, welche Ergebnisse solche
"smarten Technologien" tatsächlich zeitigen, das wäre eine
empirische Frage, aber dazu gibt es wenig zu lesen, sondern die
Autoren beschreiben vor allem die Versprechen der Hersteller, um
dann z.B. zu erläutern:
Die Stadt der Zukunft
"Das Versprechen zurückgewinnnender Flächen
durch eine Verkehrswende in der Smart City klingt ja
durchaus verheißungsvoll. Wie realistisch es freilich ist,
bleibt abzuwarten."
(2019, S.296) |
Statt empirischer Studien
zu neuen Technologien werden uns also Meinungen präsentiert. Die
Autoren hätten sich besser auf bereits eingeführte Projekte
beschränkt. Beispielhaft wird das im Bereich von Melde-Apps
gemacht, mit denen Bürger der Stadtverwaltung zu beseitigende
Mängel melden können. Es zeigt sich jedoch, dass dies aufgrund
der kommunalen Situation oft ins Leere geht:
Die Stadt der Zukunft
"Oft genug ist zur Behebung (...) deutlich
mehr zu tun, als das Problem vor Ort mit zwei bis drei
fachkundigen Handgriffen aus dem Weg zu schaffen. Und
selbst das kann unmöglich werden, wenn die
Personalausstattung der Stadt nicht ausreicht, alle
erkannten Probleme tagtäglich aus dem Weg zu schaffen. Der
Umstand klammer kommunaler Kassen hat dazu geführt, dass
in vielen Mängelmeldern etwa das Anzeigen von
Schlaglöchern nicht zum Programm gehört und gleichsam
außer Konkurrenz läuft."
(2019, S.297) |
Melde-Systeme gibt es
nicht nur in Behörden, sondern auch in Unternehmen. Auch dort
zeigen sich die gleichen Probleme. Smarte Technologien führen
nur dort zu Verbesserungen, wo auch die Voraussetzungen zur
Behebung gegeben sind, bzw. die Verbesserung überhaupt erwünscht
ist. Den Anspruch an eine Smart City formulieren die Autoren
folgendermaßen:
Die Stadt der Zukunft
"Wirklich smart wäre eine Lösung, die
(den)(...) Akt in der Administration automatisiert und
keinen zusätzlichen Verwaltungsaufwand erzeugt, sondern
vielleicht sogar Personal einspart. Mit dem Geld könnten
dann Menschen bezahlt werden, die sich vor Ort um
Problemlösungen verdient machen."
(2019, S.298) |
Die Autoren wünschen sich
sozusagen einen modernen Geldesel. Überzogene Effizienzansprüche und unrealistische Erwartungen
prägen die Sicht auf
neue Technologien. Die Hersteller wissen das und werben deshalb
mit Effizienz und Kosteneinsparungen. Es ist wenig hilfreich,
wenn uns solche Versprechungen präsentiert werden, statt
Verbesserungsmöglichkeiten zu nennen. Die Autoren präsentieren
jedoch selten Fakten aus empirischen Studien, sondern ermüden
uns mit Meinungen.
Im Zusammenhang mit der
Smart City fällt dann der Begriff der "Responsive City". Hier
begegnet uns dann der wahre Geldesel:
Die Stadt der Zukunft
"Smarte Systeme zeichnen sich durch eine
engmaschige Echtzeitüberwachung von Zustands- und
Leistungsvariablen aus, die - mit entsprechenden
Reaktionsmustern gekoppelt - dazu führen, dass bei Über-
oder Unterschreiten vorher definierter kritischer
Kennwerte automatisch Anpassungsreaktionen erfolgen. Mit
dem breiten Einsatz digitaler Technologien in den
städtischen Infrastruktursystemen werden Monitoring,
Reporting und Entscheidungen über die Durchführung
vielfältiger Maßnahmen effizient: Das kann sogar so weit
gehen, dass Maßnahmen gemäß den Vorgaben der für die
Gesamtsystemsteuerung Verantwortlichen rational und
automatisiert umgesetzt werden. (...).
Die Vernetzung von Infrastrukturen durch Informations- und
Kommunikationstechnologien verbessert grundsätzlich die
Steuerbarkeit städtischer Systeme. Zugleich eröffnen sich
Möglichkeiten für zeit- und preisorientierte Anpassungen
vielfältigster Angebote an die individuellen Bedürfnisse
der Menschen in der Stadt.
(2019, S.309) |
Dass solche Systeme per se
die Transparenz auch in der Stadtentwicklung erhöhen, dürfte
eher ins Bereich der Märchen gehören. Dass Kosten, Auswirkungen
oder Akteursbetroffenheiten von Projekten transparent für Politik, Verwaltung
sowie Bürger aufbereitet werden können, dazu bedarf es keiner
smarten Technologien, sondern eher den Willen zur Transparenz.
Bei der Darstellung von Projekten geht es schließlich nicht um
Transparenz, sondern um die reibungslose Durchsetzung der
Planung. Auch die Auflösung "asymmetrischer Information", um die
Machtverhältnisse zu verändern, ist eher Märchenstunde. So
funktioniert die Realität nicht.
Fazit: Wenn die Sprache
auf die Digitalisierung kommt, dann ist das Buch hochgradig
spekulativ, wenig erfahrungsgesättigt und verfällt dem
Feuilleton-Pessimismus. Der Digitalisierung werden andererseits
Zauberkräfte zugeschrieben, während die Akteursinteressen
dahinter verschwinden.
Schrumpfende Städte in Zeiten des neoliberalen Wettbewerbsstaats
Die Kluft zwischen
wachsenden und schrumpfenden Städten ist für die Autoren eher
nebensächlich. Sie werden gewissermaßen abgeschrieben:
Die Stadt der Zukunft
"Viele Städte in Deutschland schrumpfen
weiterhin. Und jeder Wegzug, jeder neue Leerstand lässt
eher die Sorgen um die Stabilität urbaner Strukturen
wachsen, als beseelte Utopien entstehen. Wenn alles in
schnellen Wellen über uns kommt, wird die Zeit für
pfiffige und tragfähige Anpassungen knapp. Gerade dort, wo
es schrumpft, braucht es Kreativität für beinahe kein
Geld, denn an diesen Orten lässt sich nicht groß
verdienen. Hier fällt die Stadtentwicklung wieder auf
seine Basics zurück."
(2019, S.322) |
Der Neoliberalismus ist
den Autoren in Fleisch und Blut über gegangen. Der
Wettbewerbsstaat und sein Motto die Starken stärken kennzeichnet
diese Sicht. Dazu wird uns zudem vorgegaukelt, dass wir von den
Entwicklungen überrollt worden wären. Modische Etiketten wie die
"beschleunigte Gesellschaft" sollen das suggerieren. Die Autoren
nennen nur Hartmut ROSA, der den Begriff "Beschleunigung" ins
Zentrum seiner Zeitdiagnose gestellt hat, aber ideologisch ist
ihnen das zuerst 1999 erschienene Buch
Die
beschleunigte Gesellschaft von Peter Glotz näher. Wird
die Stadtentwicklung von den Entwicklungen überrollt? Oder sitzt
die Stadtentwicklung nicht eher unkritisch Moden auf? Während
vor 10 Jahren noch die demografische Entwicklung als
Hauptproblem gesehen wurde, ist es nun der Klimawandel.
Angeblich stehen wir wie so oft in den letzten Jahrzehnten vor
einem Kollaps! Die Beschwörung des permanenten Ausnahmezustandes
ist kaum geeignet, um sinnvollen Fortschritt zu fördern. Und wem
zu schrumpfenden Städten nicht viel mehr einfällt als die
zitierten Sätze, der sollte über die Stadt der Zukunft
schweigen!
Die
Zunahme der Wohnfläche als Problem?
Die Autoren beschreiben
die Zunahme der Wohnfläche als Problem der Nachhaltigkeit und
diffamieren die Entwicklung im Bereich der Mietwohnungen als "Luxuswohnen":
Die Stadt der Zukunft
"Obgleich rund 47 Prozent der Deutschen
zur Miete wohnen (...), sind sie ein Volk von
»Luxuswohnern«. (...).
1998 wohnten - bei rund 39 Quadratmeter Wohnfläche pro Person -
statistisch 2,2 Personen in einer Wohnung. Noch 1965 betrug die
verfügbare Wohnfläche in der Bundesrepublik 22 Quadratmeter je
Person, sie hat sich also in etwas mehr als 30 Jahren
verdoppelt. Tendenz nach wie vor steigend."
(2019, S.70)
"Wir reden von nachhaltig und
gleichzeitig (ver)brauchen wir immer mehr Fläche. Statistisch
waren es 2017 in Deutschland pro Kopf bereits mehr als 46
Quadratmeter Wohnfläche. Während die durchschnittliche
Wohnfläche je Haushalt 92 Quadratmeter betrug, wies die der
Ein-Personenhaushalte sogar überproportionale 68 Quadratmeter
auf. Bemerkenswert ist, dass die Wohnflächen pro Kopf mit
zunehmendem Alter deutlich ansteigen. Dies ist nun kein Indiz
für eine aktive Mehrnachfrage nach Wohnquadratmetern, es ist
vielfach eine rechnerische Entwicklung, die dann greift, wenn in
Familien die jüngere Generation flügge wird und die Eltern im angestammten Familiendomizil wohnen bleiben. Was dem
Nachhaltigkeitsstreben vielleicht entgegensteht, ist stark durch
psychologische Bindungen an Wohnungen und Häuser geknüpft.
(...).
Neben dem weitverbreiteten Bedürfnis
»wohnen zu bleiben«, ist der Wohnflächenzuwachs andererseits
auch ein Zeichen von Anspruch auf mehr Lebensqualität."
(2019, S.84f.)
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Problematisch ist, dass
der Begriff "Nachhaltigkeit" nicht definiert wird, sondern mit
moralischem Unterton daher kommt. Impliziert wird, dass eine
sinkende Wohnfläche nachhaltiger sei. Die Einpersonenhaushalte
gelten dabei als die Problemhaushalte. Seit den 1980er Jahren
sind die "Singles" das Feindbild und die
Single-Gesellschaft
wird als Schreckgespenst gezeichnet.
Faktisch zeigt sich
jedoch, dass alleinlebende Witwen in der Familienwohnung die
Hauptverursacher der steigenden Wohnflächen sind. Menschen im
Eigentum leben auf größeren Wohnflächen als Mieter, die als "Luxuswohner"
diffamiert werden. Das Statistische Bundesamt bietet
differenzierte Daten nur für das Jahr 2014 an.
Einpersonenhaushalte im selbstgenutzten Wohneigentum hatten mit
97,5 qm über 40 qm mehr zur Verfügung als Mieter (54,7 qm). Wenn
überhaupt, dann ist die Umwandlung von Miet- in
Eigentumswohnungen bzw. der Hausbau von Einfamilienhäusern das
größte Nachhaltigkeitsproblem, wenn man sich die Sicht der
Autoren zu eigen machen möchte.
Wenn die Autoren Virgina WOOLF
zitieren, dann bezieht sich das keineswegs auf die
Einpersonenhaushalte, sondern der Wunsch nach einem eigenen
Zimmer gilt auch für jedes einzelne Familienmitglied.
Individualisierung gilt urbanen Kosmopoliten als Megatrend, doch
mit den Nationalkonservativen der 1990er Jahre und erst Recht
mit der Alternative für Deutschland (AfD) ist eine Gegenbewegung
entstanden, die die Errungenschaften der Emanzipation
zurückdrehen möchte. Die Autoren dagegen setzen ihre Hoffnungen
auf einen Leitbildwandel bei den Kosmopoliten:
Die Stadt der Zukunft
"Ohnehin scheint ja nach wie vor die
Auffassung dominant, dass sich die Individualisierung und
Pluralisierung von Wohnbedürfnissen weniger gut im verdichteten
innerstädtischen Zusammenhang und in massierter Bauweise
realisieren lässt, sondern eher im Bau von Eigenheimen. So stößt
man bei dieser Frage sehr schnell auf politische und kulturelle
Grundwerte unserer Gesellschaft (...). Virginia Woolf hat ihrem
Buch zur Frauenfrage nicht zufällig den Titel gegeben: Ein
Zimmer für sich allein. Jeder Versuch, die Trends zu immer
kleineren Haushalten und immer größeren Wohnflächen zu stoppen,
die Inanspruchnahme von Siedlungsflächen zu bremsen, kämpft
daher nicht nur gegen die Wünsche und Sehnsüchte der Menschen,
sondern auch gegen die historische Errungenschaft individueller
Unabhängigkeit an. (...). Nur wenn es gelingt, ein neues,
identitätsstiftendes Bild vom Wohnen in einer breiten Gültigkeit
zu formulieren, in dem das Streben nach einem angenehmen Leben
mit den Grenzen seiner natürlichen Grundlage versöhnt ist, kann
das ökologisch Notwendige auch politisch machbar, mehrheitsfähig
werden."
(2019, S.86)
|
Wenn von der
"Pluralisierung der Wohnbedürfnisse" gesprochen wird, dann
gehört das Loft-Living als Wohnform der zahlungskräftigen Kosmopoliten dazu:
Die Stadt der Zukunft
"Beim Projekt »Carloft«
im Berliner Stadtteil Kreuzberg können Pkws mit einem Lift auf
die Ebene der Apartments befördert werden. Jede der elf
Wohnungen hat eine Carloggia und eine üppige Wohnfläche von
mindestens 224 Quadratmetern. "
(2019, S.203)
|
Gemäß dem
Bundesumweltministerium ist die Wohnfläche von 2011 bis 2018
gerade einmal um 0,6 qm gestiegen (46,7 statt 46,1 qm). Die
Zeiten rasanter Steigerungen der Wohnfläche sind also -
zumindest derzeit - vorbei!
Das Quartier als
alte, neuentdeckte Grundeinheit der Stadtentwicklung
Das Quartier gilt den
Autoren als Grundeinheit der Stadtentwicklung. Das hängt mit dem
Bedeutungszuwachs von Nachbarschaft zusammen. Bereits die
sozialökologische Chicagoer Schule hatte nach dem ersten
Weltkrieg große Erwartungen in die Verhaltenssteuerung durch
eine
"menschengerechte" Bauweise gesetzt. Die damaligen Hoffnungen
zeigten sich zwar alsbald als überzogen, doch im Zeichen des
Neoliberalismus und dessen Kosteneinsparungsimperativ wird
Nachbarschaft unter ökonomischen bzw. Herrschafts- und weniger unter sozialen
Gesichtspunkten betrachtet. Quartiersmanagement in sozialen
Brennpunkten und gated Communities können als die Pole der
verschiedenen Varianten solcher homogener Quartiere betrachtet
werden. Mit dem Aufstieg des Investorenstädtebaus werden nun für
zahlungskräftige Milieus die entsprechenden Nachbarschaften
erschaffen. Oder wie es die Autoren formulieren:
Die Stadt der Zukunft
"Obgleich - oder gerade weil - das
Quartier eine eher informelle Gebietstypisierung ist, die zwar
nicht präzise räumlich abgegrenzt werden kann, in der aber ein
starker Bezug zur Lebenswelt der Bürger und Bewohner zum
Ausdruck kommt, stellt es für die meisten Städte längst die
wichtigste Interventionsebene dar. (...). Nicht mehr nur
Einzelobjekte oder das eigene Portfolio werden ins
unternehmerische Visier genommen, sondern das ganze Quartier,
welches eine Art Matrix zwischen den Gebäuden darstellt und
manchmal die eigentliche unique selling proposition des
Wohnungsangebots ausmacht."
(2019, S.91)
"Die einzige Leitlinie der neuen
Quartiersentwickler ist eine optimierte Kapitalverwertung.
(...). Es geht den neuen Akteuren jedenfalls nicht um
Weltverbesserung, sondern um einen immer höheren Wirkungsgrad
für eingesetztes Kapital. (...). Vermarktet wird nicht nur
Wohnung oder Haus, sondern ein Lifestyle-adäquates Umfeld, de
facto das gesamte Quartier. (...).
Ein (...) Beispiel stellt der (...) »Marthashof«
in Berlin-Mitte dar, der vom Entwickler »Stofanel« unter dem
suggestiven Slogan »urban Village« beworben wird. (...): Das
Projekt ist (...) ausgerichtet auf eine globale Mittel- bis
Oberschicht, die ihre Lebensweise auf Nachhaltigkeit trimmen,
eine salutogenetische Orientierung pflegen, dies mit einem hohen
Wohnkomfort und mit Urbanität verbinden möchte und dafür das
nötige Kleingeld bereitzuhalten in der Lage ist - ein sehr
spezifisches neues »Quartier« für eine sehr spezifische
Zielgruppe und im Übrigen ein voller Erfolg."
(2019, S.93)
|
In diesem Zusammenhang
werden auch Segregations- und Gentrifizierungstendenzen
problematisiert:
Die Stadt der Zukunft
"Segregations- und
Gentrifizierungstendenzen werden durch
Lifestyle-Quartiersentwicklung wohl eher getriggert als gehemmt
(...). Augenscheinlich muss man die Entwicklung unserer
Gesellschaft als Prozess fortschreitender Markterweiterung
lesen, als äußere und innere »Landnahme«
des Marktes gegenüber der sozialen Lebenswelt. (...).
Neu ist, dass selbst auf einer vergleichsweise großmaßstäblichen
Ebene nun Lebensstile zu einem wichtigen Baustein der
Stadtwerdung avancieren: Die Präferenzen zahlungskräftiger
Wohnkunden werden subtil ausgeleuchtet und daraufhin homogene
urbane Quartiere gebaut und oft genug gegen die restliche Stadt
abgeschirmt."
(2019, S.96)
|
Auf dieser Website wurde
bereits im Jahr
2014 die Segregations- und Gentrifizierungsthematik
ausführlich geschildert. Die Autoren haben dazu nichts Neues zu
berichten. Sie behaupten jedoch, dass der Begriff neuerdings zum
Kampfbegriff geworden sei:
Die Stadt der Zukunft
"Es ist bemerkenswert, dass sich das
Kunstwort Gentrifizierung im deutschen Sprachraum durchsetzen
konnte. (...) Die Veredlung von Quartieren auf Kosten der
ärmeren Mieter ist kein neues Phänomen. Neu ist nur die Haltung
dazu: Wer Gentrifizierung sagt, ist dagegen."
(2019, S.210)
|
Wer Gentrifizierung sagt,
ist dagegen? Die
Gentrifizierungsforschung ist bereits in den 1980er Jahren
entstanden und sie beschäftigte sich mit den negativen
Auswirkungen der Aufwertung von Stadtvierteln. Heutzutage
benutzen sowohl Befürworter als auch Gegner den Begriff! Aus
Sicht der Stadtplaner sind Gentrifizierungsproteste natürlich
unerwünscht, denn schließlich gehört die Aufwertung von
heruntergekommenen Stadtvierteln mit attraktiver Bausubstanz
(Gründerzeitaltbauten und ehemalige, zentrumsnahe
Industriebrachen) zu den Zielen gegenwärtiger Stadtplanung.
Der urbane Kosmopolit als ambivalente
Sozialfigur
Mit Gentrifizierung und
Segregation sind zugleich Leitbilder der Stadtplanung im Sinne
von Durchmischung angesprochen. Den Autoren gilt ethnische
Segregation als weniger problematisch als
soziale Segregation, was dem urbanen Kosmopolitismus
entspricht, der auch die Sozialwissenschaften dominiert. Mit der
AfD ist dagegen ein zunehmend mächtiger werdender politischer
Akteur auf den Plan getreten, der ethnische Segregation als
"Parallelwelt" problematisiert. Hier deuten sich also neue
Konfliktlinien an, die im Buch lediglich am Rande thematisiert
wird, z.B. wenn es heißt:
Die Stadt der Zukunft
"Lässt man zu, dass nur noch die
Mittelschicht - nicht unbedingt die heterogenste Gruppe von
Stadtbewohnern - die Urbanität unserer Städte gestaltet, dann
wächst, angesichts zunehmender ökonomischer Unsicherheit und
politischer Machtlosigkeit, die Gefahr, dass diese Schicht den
traditionellen urbanen Kosmopolitismus durch eine eher
eindimensionale und defensive Haltung ersetzt. Und dies könnte
leicht zu unterschiedlichen, gar riskanten Formen von
Ausgrenzung führen."
(2019, S.171)
|
Die AfD wird im ganzen
Buch kein einziges Mal erwähnt, sondern deren Erfolge lassen
sich nur zwischen den Zeilen lesen. Schließlich wurden die
großen
Erfolge der Partei erst nach Drucklegung des Buches auch für
die letzten Ignoranten sichtbar, wenngleich die Gefahr von
urbanen Kosmopoliten immer noch unterschätzt wird. In der AfD
spiegeln sich drei Strömungen: neoliberale, nationalkonservative
und rechte. Der Nationalkonservatismus als Einfallstor in den
Mainstream wird weiterhin negiert, was wohl daran liegt, dass
Neoliberalismus und Nationalkonservatismus keine wirklichen
Gegensätze darstellen (siehe z.B. den populären Ökonomen
Hans-Werner SINN). Das Potenzial der AfD wird deshalb stark
unterschätzt. Der Versuch die AfD auf die rechte Strömungen zu
reduzieren, ist deshalb zum Scheitern verurteilt. Das wird
spätestens 2021 bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg
sichtbar werden.
Aber auch die Kosmopoliten
betrachten die Autoren nicht unbedingt nur mit Wohlwollen:
Die Stadt der Zukunft
"(D)ass Widersprüche das Leben prägen,
es sich viele Menschen aber nicht eingestehen wollen (...).
Menschen also, die mit einem Bein bourgeoise sind,
Stadtbewohner mit partikularen Interessen, mit dem anderen
citoyen, Bürger der Stadt, am Gemeinwohl interessiert. Die
globalisierte Stadt bringt einen neuen Typus dieses citoyen
hervor, der zugleich sein Geschöpf und Widerpart ist."
(2019, S.221)
|
Die Ambivalenz
der urbanen Kosmopoliten als Sozialfigur hat bislang die
Soziologin Cornelia KOPPETSCH am prägnantesten beschrieben.
Deren Bestseller
Die
Gesellschaft des Zorns aus dem Jahr 2019 wurde zwar
inzwischen wegen Plagiaten aus dem Programm genommen und die
Autorin geriet u.a. auch aufgrund ihrer Kritik am
Kosmopolitismus in die Schusslinie (vgl. "In zorniger
Gesellschaft", Spiegel v. 07.12.2019). Nichtsdestotrotz hat
KOPPETSCH auch in früheren Abhandlungen bislang die beste
Beschreibung des urbanen Kosmopolitismus mit seinen speziellen
Ausgrenzungstechniken geliefert. Einschränkend muss jedoch
gesagt werden, dass damit das Segment der oberen Mittelschicht
gemeint ist, das von gutsituierten AkademikerInnen geprägt ist.
In diesem Sinne wird auch vom
progressiven Neoliberalismus gesprochen.
Der urbane
Kosmopolitismus ist jedoch auch in anderen Milieus, die weniger
zahlungskräftig bzw. ressourcenstark sind, beheimatet. Eine
Kritik allzu schlichter Gleichsetzungen findet sich z.B. im
Aufsatz
Wer ist schuld am Rechtspopulismus? von Silke van Dyk &
Stefanie GRAEFE im Heft 4/2019 der Zeitschrift Leviathan.
Antifaschistische Medien (vgl. Tom UHLIG,
"Deutschland steht Koppetsch", Jungle World v. 21.11.2019)
werfen KOPPETSCH gar eine Kooperation mit der AfD vor. Dies
zeigt, dass es in Deutschland mittlerweile zu einer extrem
polarisierenden Lagerbildung gekommen ist, bei der kritische,
differenzierte Auseinandersetzungen mit kosmopolitischen Milieus
unter die Räder kommen könnten.
Die Verkehrswende als
Luftschloss
Die
Verkehrswende ist derzeit in aller Munde. Bei KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI
bildet Jan GEHL den romantisch-idealistischen Pol ab:
Die Stadt der Zukunft
"Jan Gehl (...) ist
wohl einer der aktuell einflussreichsten Stadtplaner weltweit
geworden, weil er nur eine einfache Frage stellt: Wie wollen wir
eigentlich leben? Doch da sie eher rhetorischer Natur ist, (...)
drückt (er potentiellen Auftraggebern) Vorschläge in die Hand
(...): Einschränkung des Autoverkehrs, verbesserte Anreize zum
Fahrradfahren, Förderung des öffentlichen Nahverkehrs und eine
bessere Gestaltung des öffentlichen Raumes, der am
Bewegungsspielraum der Menschen orientiert ist. Und keine
Verkehrsinfrastrukturen, die allein fahrdynamischen Regeln
folgen.
(...).
Die dänische Kapitale gilt heute als Blaupause für den
fundamentalen Wandel von der autogerechten Stadt der
Nachkriegszeit zu einer fußgänger- und radfahrerfreundlichen
Metropole des 21. Jahrhunderts.
(...).
Man geht wohl kaum zu weit, wenn man sagt, dass Jan Gehl seine
Planungsideale mit Jane Jacobs und Ralph Erskine teilt:
Entschleunigung, Klein-Maßstäblichkeit und viel Stadtgrün. Und
das Fernziel: die großen Metropolen in kleine, übersichtliche
Nachbarschaften auflösen.
(...).
Als Leitsatz für die Stadtplanung verweist Gehl auf die Formel
»8/80«: Eine Stadt sollte so gebaut sein, dass sich darin
Achtjährige und über 80-Jährige ebenso sicher wie der Rest der
Bevölkerung bewegen können."
(2019, S.36ff.)
|
Kinder und Alte
als Maßstab für eine Verkehrswende? Davon ist - selbst im
Zeichen der Klimadebatte - und im Buch an anderen Stellen kaum etwas zu spüren.
Ausgerichtet ist die städtische Mobilität dagegen auf den
Berufspendler, der mit dem Auto unterwegs ist. Daran ändern
E-Autos genauso wenig wie Flugtaxis, selbstfahrende Autos oder
Car-Sharing-Projekte. Die autogerechte Stadt, die von den
Autoren rhetorisch für obsolet erklärt wird, ist lebendiger als
das Buch behauptet.
Der öffentliche
Nahverkehr (ÖPNV) in Form der Erweiterung von U-Bahn-,
Straßenbahn- und S-Bahnnetzen ist den Autoren zufolge
unbezahlbar. Entsprechend werden über 80-Jährige und Kinder
lediglich als Fußgänger im Mobilitätsangebot gedacht, aber nicht
als Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs. Diese Sicht steht im
Gegensatz zu gegenwärtigen betriebswirtschaftlichen (!)
Lehrbüchern zum ÖPNV, der dort für Menschen gedacht ist, die
sich ein Auto noch nicht bzw. nicht mehr leisten können (vgl.
Monique DORSCH,
"Öffentlicher Personennahverkehr", 2019). Die autogerechte
Stadt ist also mehr als lebendig. Volkswirtschaftliche Analysen
sind auf diesem Gebiet eine Fehlanzeige. In der Süddeutschen
Zeitung berichtet Markus BALZER über die Folgen der
Bahnprivatisierung:
Komm zurück
"Zahlen der Bundesregierung und der
Bahn machen das ganze Ausmaß der Streckenstilllegungen seit der
Bahnreform vor 25 Jahren klar. Mehr als 5.400 Kilometer ihres
Streckennetzes fielen weg. Damit hat der Konzern etwa 16 Prozent
seines gesamten Netzes aufgegeben.
Proteste gegen den Rückzug der Bahn aus der Fläche und die
Konzentration auf die gewinnträchtigen Hauptstrecken gibt es
schon lange. Doch erst der Klimawandel und das immer teurere
Wohnen in den Städten forcieren nun ein Umdenken.
(...).
Die Bahn jedenfalls legt gerade den Schalter um. Bis auf
Weiteres habe der Vorstand alle geplanten Stilllegungen von
Strecken gestoppt, die sich wirtschaftlich nicht rechneten,
heißt es aus dem Konzern. (...). Der Verband der
Verkehrsunternehmen und der Verband Allianz pro Schiene haben
dem Konzern schon mal Vorschläge gemacht und eine Liste möglicher
Projekte (...) erstellt. Gesamtlänge der möglichen
Reaktivierungen: etwa 3.000 Kilometer."
(Süddeutsche Zeitung 04.01.2020)
|
Diese
Reduzierung der Problematik auf Streckenstilllegungen ist
geradezu schmeichelhaft für die Akteure, denn es fehlen die
nicht gebauten S-Bahn-Strecken, die kostspieligen Großprojekten
wie z.B. Stuttgart 21 zum Opfer fielen. Beispielhaft steht dafür
die fallengelassene Planung für eine S-Bahnstrecke Heidelberg -
Plankstadt - Schwetzingen. Stattdessen wurde eine
Straßenbahntrasse ins Auge gefasst, deren Realisierbarkeit von
vorneherein Makulatur war. Hier zeigt sich, dass selbst in
Metropolregionen sinnvolle Erweiterungen von Streckennetzen
unterblieben sind. Von abgehängten Regionen ganz zu schweigen!
Fazit:
Stadtentwicklungsplanung ist gerade im Verkehrsbereich zu
engräumig gedacht. Eine Stadtentwicklung, die nicht in ein
sinnvolles Regionalentwicklungskonzept eingebettet ist, ist
unzulänglich. Dieses Problem bleibt bei den Autoren gänzlich
ausgeblendet. Die "Schwarmstadt" Heidelberg ist zwischen 1990
(136.796) bis 2017 (160.601) um ca. 24.000 Einwohner gewachsen.
Die Großstadt Mannheim ist im Zeitraum 1990 (310.411) bis 2017
(307.997) um fast 3.000 Einwohner geschrumpft. Diesen
Entwicklungen wird jedoch der Verkehrsbereich in keiner Weise
gerecht. Den Autoren zufolge müssten wachsende Städte im
Gegensatz zu schrumpfenden Städten im Vorteil sein. Das jedoch
ist nicht der Fall. Mannheim ist im ÖPNV bedeutend besser
angebunden als Heidelberg, im Fernverkehr erst recht. Die
Autoren machen es sich mit ihrer Gegenüberstellung von
wachsenden und schrumpfenden Städten also zu einfach. Klamme
Kassen sind kein hinreichendes Argument, um die Probleme von
Städten in Deutschland zu erklären. Und fehlendes
Bürgerengagement, das die Autoren gerne beklagen, kann die
Unterschiede ebenfalls nicht erklären. Christian RADEMACHER hat
z.B. in seinem Buch
Deutsche Kommunen im demografischen Wandel auf Defizite der
schlichten Sichtweisen auf die kommunale Vielfalt und ihre
Ursachen hingewiesen. Es sind also multifaktorelle Analysen für
die differentielle Situation von Städten erforderlich. Diese
aber bleiben die Autoren schuldig. Vielmehr werden sie durch
gängige Schlagworte ersetzt, deren Selbstverständlichkeiten
durch jahrzehntelanges Mantra in den Mainstreammedien in den
Köpfen verankert sind. Das aber verstellt den Blick auf die
Realität. Typisch für diese Verschlagwortung ist folgende
Passage:
Die Stadt der Zukunft
"Der Wandel gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen (als Stichworte mögen genügen: fortschreitende
Alterung, kleinere Haushaltsgrößen, Veränderung der Arbeitswelt,
zunehmende Mobilität, steigender Kostendruck, Individualisierung
und Globalisierung, verschärfte Zweiteilung der Gesellschaft
usw.) erzwingt ein Umdenken."
(2019, S.88)
|
Hinter jedem der
genannten Begriffe stehen komplexe Sachverhalte, deren
Auswirkungen keineswegs so klar erscheinen, wie dies von den
Autoren suggeriert wird. Es ist die typische Sachzwang-Rhetorik
des als alternativlos gedachten Neoliberalismus, die hier
mitschwingt - aller Bürgerbeteiligungsrhetorik zum Trotz.
Der Immobilienmarkt als
lukratives Geschäft internationaler Akteure
KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI
beschreiben
den Wandel des Immobilienmarktes durch neue Akteure
folgendermaßen:
Die Stadt der Zukunft
"Während Immobilien naturgemäß
standortgebunden sind, erweist sich das in Immobilien
investierte Kapital als immer flexibler, mithin sogar
flüchtiger. Durch die steigende geographische Ausdehnung der
ökonomischen Verflechtungen werden die territorialen
Immobilienmärkte aufgebrochen und von rein marktlichen
Interessen invadiert. Private Gesellschaften haben seit der
Jahrtausendwende in Deutschland 2.780.000 Wohnungen erworben und
1.990.000 verkauft. Bemerkenswert dabei ist, dass diese Dynamik
vielfach dadurch ausgelöst wurde, dass Bund, Länder und Kommunen
ihre Bestände abgestoßen haben. (...).
(D)ie Handlungslogiken (...) dieser neuen Spieler am
Immobilienmarkt (sind) oft extrem problematisch (...), da nur
die gewinnträchtigen Differenzen zwischen Kaufpreis und
unternehmensinternen Prognosen über die jeweilige regionale
Immobilienpreisentwicklung interessieren. Dieses
Finanzierungsmonopoly verschafft Banken, Versicherungen und
anderen Geldgebern große Immobilienportfolios, da die Immobilie
selbst eben die Kreditabsicherung schlechthin darstellt. Aus
Stadtentwicklungssicht wird hier der Bock zum Gärtner (...).
Anders ausgedrückt: In letzter Zeit ist die Zahl, vor allem aber
die Bedeutung von Immobilieneigentürmern deutlich gestiegen, die
für konkrete Stadtentwicklung, für kollektive
Aufwertungsbemühungen in keiner Weise zugänglich sind. So werden
Immobilien zum Teil (...) allein auf eine mathematische
Renditeformel reduziert. (...).
Indes, statt eine gesellschaftspolitische Strategie des Umgangs
damit zu entwickeln und durchzusetzen, resultiert daraus eher
ein bemerkenswertes Wechselspiel: Auf der einen Seite suchen
Anleger und Developer nach neuen, renditestarken
Investitionszielen; auf der anderen Seite scheuen Städte und
Regionen im internationalen Standortwettbewerb keinen Aufwand,
um Investoren anzulocken."
(2019, S.274f.)
|
Die Autoren
kritisieren den renditegetriebenen Immobilienmarkt, der auf
Stadtentwicklungspläne keine Rücksicht nimmt:
Die Stadt der Zukunft
"Ziel der privaten Wirtschaft sind
hocheffiziente Gebäude, die hohe Mieten erwirtschaften und in
immer kürzeren Zeiträumen umgeschlagen werden können. Es kommt
nicht von ungefähr, dass bei den meisten Bauherrn die Mentalität
eines Bankers aufscheint, der nur die Finanzierung sieht, alle
Risiken ausschalten will und idealtypisch unter Baukultur
lediglich die Einheit von Baugenehmigung, Festpreis, Abnahme und
Vollvermietung versteht.
All diese Aspekte machen vor allem eines deutlich: Längst
befindet sich unser Kulturkreis im Übergang von einer politisch
motivierten, nichtmonetären Stadtentwicklung hin zu einer
privaten, an Gewinn und Rendite orientierten Steuerung. Das kann
Chancen bieten: Wenn internationale Investoren (...) die
baulichen Voraussetzungen für die Ansiedlung neuer Branchen
schaffen, und wenn damit positive Beschäftigungseffekte
ausgelöst werden. Unübersehbar gibt es indes auch die Kehrseite:
nämlich eine weitaus stärkere Abhängigkeit von mobilem, stets
abziehbarem Kapital."
(2019, S.278)
|
Die dahinter
stehenden Ursachen werden jedoch genauso verschwiegen wie die
Mitwirkung insbesondere der kosmopolitischen oberen Mittelschicht an diesem
Renditenspiel. Die weltweit vorangetriebene Privatisierung der
Rentensysteme ist mitverantwortlich für den Aufschwung eines renditegetriebenen Immobilienmarktes.
Der Zwang zum Renditedenken wird mit der Privatisierung des
Rentensystems und der privaten Altersvorsorge institutionell in
den Köpfen immer breiteren Bevölkerungsschichten verankert. Hier
zeigt sich also, dass Ausführungen ohne den entsprechenden
Kontext blutleer bleiben.
Bürger als Störfaktoren und
als Schmiermittel der Stadtentwicklung
Der Bürger ist -
wie weiter oben bereits herausgestrichen - eine ambivalente
Sozialfigur. Er gilt als Störfaktor, wenn er unnötige Kosten
verursacht (Beispiel: Melde-Einrichtungen) oder partikulare
Interessen verfolgt. Zugleich ist er kostensparender Sensor oder
Ersatzpersonal, das die Lücken füllt, die der Neoliberalismus
gerissen hat:
Die Stadt der Zukunft
"Unterhalt- und Pflegeproblematik
(stellen sich) aus kommunaler Sicht heute weitaus schärfer denn
je: Angesichts der städtischen Personalengpässe und
Haushaltsnöte werden zum einen selbst solche Flächen nicht in
öffentliche Obhut übernommen, die beispielsweise im Rahmen
städtebaulicher Projekte von beteiligten Investoren angeboten
werden (...). Zum anderen darben viele öffentlich gewidmeten
Flächen."
(2019, S.140)
|
Da kommt die
ältere Dame gerade wie gerufen:
Die Stadt der Zukunft
"Die einzelnen Gebäude, ihr
Produktionsprozess ebenso wie ihr Zusammenspiel sind auch
künftig Indikatoren für den Lebenswert eines Ortes. Dieser wird
in dreifacher Weise wahrgenommen: funktional im alltäglichen
Gebrauch (als Gebrauchswert), ökonomisch über die Nachfrage als
Wohn- und Arbeitsort (als Tauschwert) und emotional über das
Erscheinungsbild und die Atmosphäre des Ortes (als
Inszenierungswert). Es ist nicht zu vermuten, dass sich das
verliert.
Zumal sich das Bedürfnis nach Identifikation und Bewahrung auch
in unspektakulären Alltagssituationen artikuliert - etwa jener
älteren Dame, die die Baumscheibe vor ihrem Mietshaus
wöchentlich zweimal wässert. Solche Identifikationen eröffnen
die Chance, unser Städte (...) zu revitalisieren."
(2019, S.250)
|
Nachdem die
Auslagerung von städtischen Arbeiten in den Niedriglohnsektor
inzwischen Empörung und Gesetzgeber hervorruft, ist eine andere Auslagerung auf
die Schultern der engagierten Bewohner im Gange, denn das
Hauptproblem unserer Städte ist aus Sicht der Autoren die klamme
Kasse, die zur Suche nach neuen Einnahmequellen zwingt:
Die Stadt der Zukunft
"Klar ist, dass bauliche Qualität ihren
Preis hat, und dieser muss über rentable Nutzungen bezahlt
werden. Insofern muss die Suche nach neuen Formen der Urbanität
(...) auch die Suche nach einer neuen Ökonomie der Urbanität
sein."
(2019, S.200)
|
Mit dem Bürger
steht und fällt die Stadt. Aufgabe der Stadt ist es dann nur,
den Bürger in seinem Engagement nicht zu entmutigen:
Die Stadt der Zukunft
"Stadtmachen ist (...) aufs Engste mit
Macht und Raffinesse derjenigen verbunden, die Stadt nicht nur
als Kulisse ihres Alltagsverstehen, sondern sich im urbanen
Umfeld wirtschaftlich und gesellschaftlich verwirklichen. (...).
Aufgabe der Planung ist und bleibt es, diese Interessen und
Akteure zumindest im Ansatz zu sortieren. Die Stadt erhält ihre
Glanzpunkte durch die proaktive Tat, die neue Idee, das
verwegene Projekt. Die Stadt der Passiven hingegen droht im
Dornröschenschlaf zu versinken (...). Dieses Verwelken kennt
unterschiedliche Stadien und Formen. Ökonomische Einbrüche,
Einwohnerrückgang oder klamme Stadtkassen sind oft genug die
Symptome, die dazu führen, dass die Stadtmacher ermüden oder den
Ort verlassen. Erst lange Zeit später, wenn (...) der Niedergang
selbst (...) Verlockendes ausstrahlt, werden neue oder auch
altbekannte Stadtmacher aktiv. (...). Unabdingbar bleibt, dass
die öffentliche Seite der Stadt - insbesondere Stadtrat und
Stadtverwaltung - sich ihrer Verantwortung nicht entzieht."
(2019, S.253)
|
Das Unheil fällt
quasi von außen über die Städte herein und führt dort zu
ökonomischen Einbrüchen, Einwohnerrückgang oder klamme
Stadtkassen. Das
klassische Bild der Abwärtsspirale, wird jedoch relativiert,
indem der Stadt wie der Phönix aus der Asche neues Leben
eingehaucht wird. Solche Mechanismen werden immer wieder ins
Spiel gebracht, ohne dass deren Komplexität zur Sprache kommt,
sondern es besteht immer wieder die Gefahr, dass die Autoren ins
romantisch-Idealistische abgleiten, statt über die Zusammenhänge
aufzuklären.
Auch wenn es um
neue Formen der Stadtentwicklung geht, sollen die Interessen der
Bürger kanalisiert werden:
Die Stadt der Zukunft
"Das Verhältnis von individueller
Handlungsautonomie und sozialer Ordnung wird auf der städtischen
Bühne gerade neu austariert. Dazu gehört auch die These, dass
die temporäre Nutzung das Gegenteil eines Masterplans sei (...).
Darin artikuliert sich ein alternatives
Stadtplanungsverständnis: Statt die Entwicklung der Verwaltung
und der Ökonomie allein zu überlassen, versuchen die
Zwischennutzer ein Aneignen der Stadt zu erproben. Eine
Do-it-yourself-Mentalität tritt an die Stelle des bloßen
Konsums von Stadtraum.
(...).
Will (die Planung)(...) ihre Rolle als steuernde Instanz
zurückerlangen, muss die Improvisation - die im Kleinen durchaus
Sinn macht - durch ein stabiles Konstrukt gestützt und in eine
ganzheitliche Strategie eingebettet werden. Dabei kommt
insbesondere der Frage, wie bisher vielleicht zu wenig beachtete
soziale und situative Qualitäten freigesetzt und für eine
nachhaltige Konzeption der Stadt fruchtbar gemacht werden
können, eine entscheidende Bedeutung zu."
(2019, S.258f.)
|
Fazit: Der
Bürger hat Rendite für die Stadt abzuwerfen. Die Interessen der
Armen und derjenigen, die auf der Straße leben haben im
Ökonomismus keinen Platz, sondern nur im
romantisch-idealistischen Ideal der Stadtplanung.
Alleinstellungsmerkmale,
Events und Shoppingkultur als städtische Statussymbole im
globalen Wettbewerb
KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI
beschreiben die Bausteine, mit denen Städte ihre
Konkurrenzfähigkeit im Wettbewerbsstaat herzustellen versuchen.
Dazu gehören ikonographische Gebäude:
Die Stadt der Zukunft
"Ökonomische Markenbildung und
Architektur haben in den letzten 20 Jahren eine Beziehung
entwickelt, in der sie sich gegenseitig, doch recht
ausschließlich, befruchten. (...). Längst sprichwörtlich
geworden ist der Bilbao-Effekt, womit die gezielte Aufwertung
von Orten durch iconic buildings bezeichnet wird. Städte
wie Shanghai und Oslo, Seattle und Hamburg haben in den letzten
Jahren die Architektur erfolgreich als Bestandteil einer
umfassenderen Stadtmarketingstrategie eingesetzt. Und die
vielzitierte Festivalisierung der Stadtentwicklung, die
vornehmlich auf Großereignisse fokussiert und Manpower, Fach-
und Entscheidungskompetenz sowie finanzielle Ressourcen in der
Hoffnung bündelt, weithin sichtbare Erfolge zu erzielen, schwebt
permanent in der Gefahr, zu Lasten eines breiter angelegten
Urbanismus zu gehen."
(2019, S.277)
|
Online-Handel,
Filialisierung
und Shopping-Malls führen vielerorts zur Verödung und zum Niedergang der
traditionellen Einkaufsstraßen in Städten. Beispielhaft wird
Schwerin beschrieben:
Die Stadt der Zukunft
"Was passiert mit den angestammten
Einkaufsstraßen, mit den Haupt- und Nebenanlagen im historischen
Stadtgrundriss, aus deren Prosperität sich auch die Erhaltung
und Pflege der dort befindlichen Baudenkmale ergibt? Die
Nebenlagen (...) brechen zuerst weg, es kann auch Hauptlagen
treffen, wie am Beispiel der Stadt Schwerin zu beobachten ist,
deren ehemalige zentrale Einkaufsstraße, die Mecklenburgstraße,
seit der Einrichtung des neuen Centers verödet."
(2019, S.183)
|
Die Autoren
plädieren für Angebotsvielfalt, auch wenn sie mit der
propagierten, romantisch-idealistischen Verkehrswende im
Widerspruch steht:
Die Stadt der Zukunft
"Das Nebeneinander vom »Bäcker
um die Ecke« und dem real-Markt am Stadtrand
sollte nicht als Konkurrenz, sondern als Angebotsvielfalt
begriffen (...) werden. (...). Erst durch die bewusste
Kultivierung der vielfältigen Angebote des Einkaufens wie auch
der unterschiedlichen städtischen Atmosphären können Städtebau
und Einzelhandel der polyzentrischen Entwicklung der
Stadt(region) gerecht werden."
(2019, S.185)
|
Der
autogerechten Stadt wird immer wieder das Wort geredet,
schließlich gilt: Es muss sich rentieren! Das stößt sich dann
bisweilen mit den Stadtplanungsgrundsätzen. So wird Mobilität
folgendermaßen definiert:
Die Stadt der Zukunft
"Mobilität umfasst im Wortsinne die
Beweglichkeit und wird als die Möglichkeit des Einzelnen
definiert, Aktivitäten raumübergreifend wahrnehmen zu können.
Sie hat demnach (...) etwas mit (...) Aktivitäten wie Arbeiten,
Einkaufen, Freizeitgestaltung und Wahlmöglichkeiten zu tun."
(2019, S.101)
|
Wenn
Einkaufsstätten nur mit dem Auto erreichbar sind, dann hat das
nichts mit Wahlmöglichkeiten zu tun, sondern mit dem Gegenteil!
Beispielhaft für solche autogerechte Einkaufsstätten ist z.B.
IKEA in Bielefeld. Die Großstadt wird übrigens gepriesen für
ihre Nachhaltigkeit und vermarktet sich als
"global nachhaltige Kommune"! So viel Tristesse in diesem
Sondergebiet erträgt kein Fußgänger, Fahrradfahrer oder Nutzer
des ÖPNV.
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IKEA in
Bielefeld, Foto: Bernd Kittlaus 2019 |
Wer in Google
z.B. nach der Route vom Hauptbahnhof zum Möbelhaus sucht und
öffentliche Verkehrsmittel wählt, dem wird mitgeteilt, dass die
Route nicht berechnet werden kann. Wen wundert das?
Die Autoren
erzählen uns, dass Einkaufen obsolet ist und Shopping an dessen
Stelle getreten ist. Gemeint sind hier nicht die Städte, sondern
nur die Altstädte, die von den Einheimischen eher gemieden
werden - außer es kommt Besuch oder man verreist als Tourist.
Wir wollen Erlebnisse konsumieren statt shoppen heißt es:
Die Stadt der Zukunft
"Die alten Stadtzentren werden nicht
mehr allein wie bisher über ihr Warenangebot Attraktivität
entwickeln können, sondern müssen dies über ihre Aufenthalts-,
Kommunikations- und Erlebnisqualität tun. Sie brauchen also ein
Stück weit die Inszenierung. Zugleich wird man akzeptieren
müssen, dass die in den letzten Jahren und Jahrzehnten
entstandenen Handelsstandorte an den Ausfallstraßen und an der
Peripherie schon durch ihre Frequentierung zu
selbstverständlichen Orten (...) geworden sind. (...). Wenn die
Modernisierungsschübe des Handels und das Einkaufsverhalten der
Menschen die alte am Handel klebende Vitalität der Innenstädte
auszuhöhlen drohen, dann umfasst die Aufgabe für Städte und
Gemeinden zweierlei: Erstens, das Shopping für die Stadt - so
weit es geht - zu »kultivieren«!
Und zweitens, sich vom Gängelband von Konsum und Handel zu
emanzipieren!"
(2019, S.190)
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Dieser Zwang zur
Aufrüstung der Städte ist jedoch folgenreich, meinen die
Autoren:
Die Stadt der Zukunft
"Gerade weil die städtische
Identitätspolitik unter den gegenwärtigen Bedingungen einer
verschärften kommunalen Konkurrenz um Wachstum an
Wirtschaftskraft und Einwohnern unterliegt, schwebt sie in
Gefahr, sich nur an ausgesuchten innerstädtischen Orten
stadtgestalterisch zu engagieren. Ebenso unübersehbar wie
bedenklich ist heute der Trend, dass manche Kommunen allein die
Bereichr entwickeln, die sich imagekompatibel vermarkten lassen,
während an Interventionen in Problemstadtteilen nur wenig
Interesse besteht."
(2019, S.247)
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Das dürfte so
wohl kaum stimmen, denn so mancher Problemstadtteil erfährt in
den Medien eine symbolische Gentrifizierung, die der
eigentlichen Gentrifizierung vorauseilt. Städte inszenieren
geradezu ihre Interventionen in Problemstadtteilen. Die mediale
Aufmerksamkeit richtet sich jedoch selten auf Problemstadtteile
mit unbeliebter Bausubstanz, sondern auf solche soziale
Brennpunkte, die sich aufgrund ihrer Bausubstanz ideal für
Aufwertungen eignen. Solche soziale Brennpunkte heißen deshalb
inzwischen auch "Stadtteil mit Entwicklungspotenzial". So manch verruchter Stadtteil wie z.B. der
Mannheimer Jungbusch (vgl.
Spiegel v. 29.05.1995) wird dann als Szeneviertel
gefeiert. Zwölf Jahre später schreibt der Spiegel nicht mehr
über Mafia-Morde, sondern über die beginnende Gentrifizierung im
Jungbusch:
New Yorks
Zwilling am Rhein
"Die Popakademie ist einzigartig
in Deutschland und bietet auf drei Jahre angelegte Studiengänge
in Musikbusiness und Popmusikdesign. Das benachbarte
Existenzgründerzentrum für die Musikbranche ist ebenfalls ein
voller Erfolg. Beide Einrichtungen befinden sich im Stadtteil
Jungbusch. Das Quartier an der Schnittstelle von Innenstadt und
Hafen war einst ein Nobelviertel von Reedern und Kapitänen.
Später wurde es zum sozialen Brennpunkt mit brachliegenden
Industrie- und Wohnbauten. Seit einigen Jahren ist der Jungbusch
jedoch ein Stadtteil im Umbruch. Viele Bauten sind renoviert
worden. In ihnen entstanden Lofts, Ateliers und Gewerbeflächen
sowie erste Szenekneipen."
(Detlef Berg, Spiegel Online v. 15.01.2007)
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Mannheimer Jungbusch,
Foto: Bernd Kittlaus 2019 |
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Die Singles
werden als Pioniere dieser neuen
Erlebnisgesellschaft
beschrieben:
Die Stadt der Zukunft
"Dass es gerade in den Städten ein
starkes Bedürfnis nach einem ritualisierten Spektakel gibt,
darauf hat der Situationist Guy Debord in seinem Buch Die
Gesellschaft des Spektakels bereits 1967 hingewiesen. Daraus hat
sich nun eine Theorie entwickelt, der zufolge insbesondere die
Singles auf der Suche nach inneren und äußeren Erlebnissen die
traditionelle Sesshaftigkeit und die sozial- und realräumliche
Bindung an den Wohnort abgestreift hätten. Wie spätmoderne
Stadtnomaden würden sie die Stadt als Kulisse ihrer eigenen
Darstellung und als Bühne ihrer Selbstinszenierung benutzen. Ihr
Wohnraumbedarf würde dabei die stadtspezifische Teilung der
Lebenswelten in öffentliche und private Sphären sprengen:
Singles beschlagnahmten den Stadtraum und machten ihn zu ihrem
Wohnzimmer, zum Repräsentations-, Spiel- und bei Bedarf auch zum
vernetzten Arbeitsraum."
(2019, S.196f.)
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Natürlich sehen
die Autoren das kritisch. Würde man für Singles den Begriff
"Migrant" einsetzen, dann würden diese Passagen einen völlig
anderen Tenor erhalten. Man würde sich dann an die Kölner
Sylvesternacht erinnern und daran, dass in anderen Kulturen die
nomadische Lebensweise Tradition hat. Es zeigt sich also
hier, dass historische Bezüge durchaus ganz andere Assoziationen
wecken können. Es ist ja auch kein Zufall, dass die Autoren das
südländische Flair von italienischen Piazzas beschreiben.
Wenngleich sie dabei nicht ans touristische Treiben, sondern an
den Verfall der Öffentlichkeit denken. Richard SENNETT ist einer
der Säulenheiligen dieser Sicht.
Fazit: Die
Stadt der Zukunft im Zangengriff von Standortkonkurrenz,
Effizienzdenken und Nachhaltigkeit
Die Autoren
präsentieren uns die Transformation der Infrastrukturen als eine
Herkulesaufgabe:
Die Stadt der Zukunft
"(E)s geht um die ganz große
Transformation der stadttechnischen Systeme - eine Aufgabe wie
gemacht für einen Herakles der Postmoderne. Denn es gilt zum
einen die Augiasställe des urbanen Industriezeitalters
auszumisten: Erstens Energiewende und Verkehrswende mit
infrastrukturellen Implikationen wie zum Beispiel smart grids,
Elektromobilität im Verein mit einer neuen Multimodalität des
Mobilitätsangebotes. Zweitens Modernisierung,
Effizienzsteigerung im Bereich der übrigen Ver- und
Entsorgungssysteme. Drittens, Schaffung hochleistungsfähiger
Grundlagen für die digitale Transformation unserer Städte. All
das wohlgemerkt für gut 12.000 Städte und Gemeinden in
Deutschland, die nach dem im Grundgesetz normierten Prinzip
gleichwertiger Lebensbedingungen cum grano salis in
vergleichbarer Weise infrastrukturell auszustatten sind."
(2019, S.68)
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Die Entdeckung
der Infrastruktur als politischer Zentralbegriff datiert auf das Jahr 2017. Im
April widmete die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte
dem Begriff erstmals ein ganzes
Themenheft
der Infrastruktur. Während der Begriff im Rahmen
der Debatten um den demografischen Wandel nur als Kostenproblem
thematisiert wurde (vgl. die Themenhefte
Kommunalpolitik,
Städtepolitik,
Städtepolitik und
Kommunen im Wandel), so hat der Begriff mit der Gründung und dem
Erfolg der AfD eine neue Bedeutung erlangt: er soll sozusagen
die Demokratie retten. Der Begriff erfährt damit eine hohe emotionale
Aufladung.
KALTENBRUNNER & JAKUBOWSKI knüpfen an diese
emotionale Aufladung des neuen politischen Zentralbegriffs an, akzentuieren jedoch die gerade gehypten
Megatrends. Wenn man bedenkt wie schnell das Megathema
demografischer Wandel vom Megathema Klimaschutz in den
Hintergrund gedrängt wurde, dann zeigt sich, dass
Themenkonjunkturen unterschätzen, dass Zukunft keine lineare
Fortsetzung der Gegenwart ist. Transformationen könnten schnell
ihr Ziel abhanden kommen, während ungeahnte Probleme auf der
Bildfläche andere Prioritäten erfordern. Der Planer weiß, dass
Planungen selten genauso umgesetzt werden, wie sie geplant
worden sind.
Die Ausführungen
der Autoren zur Stadt der Zukunft wechseln zwischen romantisch-idealistischen Idealen
und der Realität neoliberaler Denkmuster. Wie hier gezeigt
wurde, besteht deshalb eine große Kluft zwischen Anspruch und Realität
der Stadtentwicklung. Die Zukunft wird uns zeigen, was in 10, 20
oder gar 30 Jahren übrig bleiben wird von den im Buch gehegten
Hoffnungen und Befürchtungen zur Stadtentwicklung.
Eines scheint
jedoch gewiss: Wenn Standortkonkurrenz, Effizienzdenken und
Nachhaltigkeit Stadtentwicklungsprojekte dominieren, dann wird
es keine echte Verkehrswende geben und der Öffentliche
Personennahverkehr wird weiterhin ein Stiefkind der
Mobilitätsvielfalt bleiben. Wenn zudem Stadtentwicklung - wie im
Buch - als städtisches Einzelkämpferprojekt gedacht wird, dann
bleibt die Gleichwertigkeit von Lebensbedingungen auf der
Strecke. Städte und Gemeinden benötigen neue politische Konzepte
auf regionaler, Landes- und Bundesebene jenseits der
Leuchtturmrhetorik neoliberaler Provenienz. Dies aber ist die
entscheidende Leerstelle bei den Autoren. Die Forderung nach
einem starken Staat bleibt dann nur eine Beschwörungsformel ohne
Substanz.
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