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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Deutschlands Zukunft im Spiegel der Öffentlichkeit

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Bevölkerungsentwicklung in wiedervereinigten Deutschland (1990 - heute)

 
       
     
   
     
     
 

Einführung

Ein Blick in die Vergangenheit der Zukunft Deutschlands bietet die Möglichkeit die Grenzen von Bevölkerungsvorausberechnungen zu erkennen. Welche Zukünfte wurden uns Deutschen prophezeit und was ist davon überhaupt eingetreten? Diese Bibliografie ermöglicht einen Vergleich zwischen zeithistorischen Befürchtungen bezüglich des demografischen Wandels und der tatsächlichen Entwicklung in Deutschland.

Kommentierte Bibliografie (Teil 5: 2014)

2014

NIENHAUS, Lisa (2014): Wenn die Babyboomer in Rente gehen.
Der Jahrgang 1964 geht 2031 in Rente. Dann müssen wenige Junge auf einmal sehr viele Alte durchbringen. Schaffen die das? Oder droht Verarmung? Ein Ausflug in die Zukunft,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 05.01.

THEILE, Charlotte (2014): Zurück in die Fünfziger!
Wie werden die Deutschen im Jahr 2030 leben? Die meisten glauben an eine Krise ohne Ende und den Untergang der Mittelschicht. Deshalb suchen sie, wie eine Studie zeigt, Zuflucht in traditionellen Werten: Liebe, Familie, Ehrlichkeit, Verlässlichkeit,
in: Süddeutsche Zeitung v. 17.01.

Ein britischer Tabakkonzern sagt uns die Zukunft im Jahr 2030 voraus. Dazu hat er zwei Zukunftsforscher à la HORX beauftragt. Zurück in die Fünfziger, dieses Motto gilt nur für die Einstellung zu Liebe und Familie - ansonsten gilt: Rushhour des Lebens? Ein Horrorbild der Familiensoziologen im Regierungsauftrag, aber kein Schreckensszenario für die Deutschen:

"Und obwohl nur ein Viertel der Befragten findet, dass man hierzulande Beruf und Familie gut miteinander vereinbaren kann, ist die sogenannte Rushhour des Lebens nicht gefürchtet, im Gegenteil. Die Zeit, in der man Job, Kinder, Haus und alles andere auf die Reihe kriegen soll, ist so beliebt wie keine andere: Die meisten Deutschen finden, die Zeit zwischen 25 und 49 Jahren sei die Schönste des Lebens."

Zu deutsch: 2030 ist identisch mit unserer Gegenwart. Die Zukunft wird anders!

GOETTLE, Gabriele (2014):Demografische Desinformation.
Statistikprofessor Gerd Bosbach erklärt die Tricks,
in: TAZ v. 27.01.

BERTRAM, Hans (2008): Die Mehrkinderfamilie in Deutschland. Zur demographischen Bedeutung der Familie mit drei und mehr Kindern und zu ihrer ökonomischen Situation. Expertise für das Kompetenzzentrum für familienbezogene Leistungen im BMFSFJ, Februar

Der Soziologe Hans BERTRAM sieht nicht in der Kinderlosigkeit, sondern im Verschwinden der Mehrkinderfamilie das Hauptproblem des Geburtenrückgangs in Deutschland:

"Schon 1995 hat Franz-Xaver Kaufmann darauf hingewiesen, dass die demographische Entwicklung in Deutschland zu einer Polarisierung der Lebensformen zwischen Kinderlosen und Erwachsenen mit Kindern führen wird (...) (Kaufmann, 1995).

Manche Autoren sehen in der steigenden Kinderlosigkeit in Deutschland mit angeblich 36 Prozent eine der Hauptursachen für die geringen Geburtenraten in Deutschland (Adema OECD 2007). So überzeugend solche Thesen zunächst auch zu sein scheinen, so halten sie empirischen Überprüfungen nicht stand. Vergleicht man ausgewählte europäische Länder mit unterschiedlichen Geburtenraten, so zeigt sich, dass die Geburtenentwicklung in Deutschland im Wesentlichen durch das Verschwinden der Mehrkinderfamilie geprägt ist." (2008, S.5)

"Die entscheidende Abweichung von der europäischen Entwicklung liegt in Deutschland bei der Familie mit drei Kindern. Waren es bei den 1935 geborenen Frauen noch 20 auf 100 Frauen, die drei Kinder hatten, sind es heute noch etwa 12 Prozent. Dagegen haben in Frankreich, Finnland und den Niederlanden auch heute noch zwischen 22 Prozent (Frankreich) und 18 Prozent (Niederlande) der 1960 geborenen Frauen drei Kinder. Lebten also bei 100 in 1935 geborenen Frauen noch 60 Kinder mit zwei Geschwistern, sind es heute nur noch etwa 36 Kinder. Die Konsequenzen für die Geburtenraten in den einzelnen Ländern sind klar nachzuvollziehen. Um zu einer Geburtenrate von etwa 210 Kindern pro 100 Frauen zu kommen, fehlen jene 50 Kinder, die in der Generation der heutigen Mütter mit zwei, drei oder mehr Geschwistern aufwuchsen; zudem fehlen die etwa 17 bis 20 Kinder aufgrund der gestiegenen Kinderlosigkeit." (2008, S.7)

HAIMANN, Richard (2014): Senioren lösen neue Wanderungsbewegung aus.
Die ältere Generation zieht in kleine Städte in reizender Landschaft und reichem Kulturangebot. Schrumpfende Orte haben nun wieder eine Zukunft; denn durch die Senioren entstehen neue Arbeitsplätze,
in:
Welt Online v. 08.03.

KOSCHNIK, Wolfgang J. (2014): In Deutschland sterben die Leut‘ aus....
..und die Volksvertreter schlafen vor sich hin. Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr,
in:
Telepolis v. 12.05.

Der Artikel repräsentiert typisches rechtspopulistisches Denken im Sinne einer Demografisierung gesellschaftlicher Probleme. Typisch dafür ist die Vermengung von Fakten und Fiktion, indem Entwicklungen der Vergangenheit linear in die Zukunft fortgeschrieben werden. Das Ergebnis sind Horrorszenarien jenseits jeglicher Wahrscheinlichkeit. Es wird so getan, als ob die demografische Situation der Jahre 2030 oder gar des Jahres 2050 vorgezeichnet wäre.

Fragt man dagegen, was in der Vergangenheit über den demografischen Wandel geschrieben wurde und was davon tatsächlich Realität wurde, dann stellt sich die Sachlage ganz anders dar. Innerhalb kürzester Zeiträume können Bevölkerungsvorausberechnungen gravierend daneben liegen. Weder hatten die Bevölkerungswissenschaftler den Babyboom der 1960er Jahre auf ihrem Radar, noch den Fall der Mauer oder die Finanzkrise. Jedes dieser Ereignisse hatte dramatische Konsequenzen für die Bevölkerungsentwicklung.

Die letzte Bevölkerungsvorausberechnung aus dem Jahr 2009 ist gerade einmal 5 Jahre alt und bereits von der Realität überrollt.

Hinzu kommt, dass suggeriert wird, dass politische Maßnahmen, die in den letzten Jahren im Sinne einer Demografiepolitik eingeleitet wurden (Ausbau der Kinderbetreuung, Einführung des Elterngeldes, höhere Beiträge für Kinderlose in der Pflegeversicherung, Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, um nur ein paar zu nennen) keinerlei Auswirkungen hatten. Politische Maßnahmen wirken jedoch meist nicht kurzfristig, sondern entfalten ihre Wirkung nur langfristig und in ihrem Zusammenwirken. So hat die Einführung des Elterngeldes durchaus Veränderungen bewirkt. Durch gegenteilige Effekte in  verschiedenen Milieus und die (noch) geringe gesamtgesellschaftliche Relevanz der Akademikerinnenkinderzahlen für die Geburtenrate, sind die Auswirkungen nur durch tiefer gehende Analysen sichtbar. Solche Analysen sind aber nicht Sache von Apokalyptikern wie KOSCHNIK. Sie hauen lieber auf die Pauke. Als Elefant im Porzellanladen richtet man jedoch mehr Schaden an.

"Denn die demografische Entwicklung führt dazu, dass künftige Erwerbsgenerationen »nicht nur mehr in die Rentenkassen einzahlen und länger arbeiten müssen, sie werden sich auch mit bescheideneren Renten abfinden müssen«",

heißt es z.B. in der Spiegel-Titelgeschichte der vergangenen Woche. Setzt man für den Begriff "demografische Entwicklung" dagegen den Begriff "politische Entscheidung" ein, dann wird deutlich, was Demografisierung gesellschaftlicher Probleme meint: die Verschleierung der Tatsache, dass der demografische Wandel kein Sachzwang ist, sondern eine Frage politischer Zielsetzungen.

KLOEPFER, Inge (2014): Glanz und Elend.
Eichstätt in Oberbayern boomt, Gelsenkirchen im Ruhrgebiet schrumpft. Kann es sein, dass das mit zwei sehr unterschiedlichen Einstellungen zum Leben zu tun hat?
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 01.06.

STALA BADEN-WÜRTTEMBERG (2014): Neue Bevölkerungsvorausrechnung: Der Alterungsprozess der Gesellschaft wird sich unvermindert fortsetzen.
Die Zahl der Hochbetagten in Baden-Württemberg könnte sich bis 2060 verdreifachen,
in:
Pressemitteilung Statistisches Landesamt Baden-Württemberg v. 04.06.

Pressemitteilungen der Statistikämter suggerieren gerne Botschaften, indem sie verhindern, dass man sich selber ein Bild von ihren Vorausberechnungen machen kann. So wird verschwiegen wie sich die aktuelle Bevölkerungsentwicklung zu den letzten Bevölkerungsvorausberechnungen (BV) verändert hat. Deshalb werden hier die Vorausberechnungen aus dem Jahr 2002 (Basisjahr 31.12.2000)  und dem Jahr 2007 (Basisjahr 31.12.2005; Hauptvariante) mit der aktuellen BV (Basisjahr 31.12.2012, Hauptvariante) verglichen:

Vergleich der tatsächlichen Bevölkerungsentwicklung in Baden-Württemberg
mit verschiedenen Bevölkerungsvorausberechnungen

Jahr

Bevölkerungs-
stand (Millionen)
BV 2002

BV 2007

BV 2014

2000 10,524      
2005 10,736 10,533    
2010 10,754 10,515    

2015

  10,443

10,755

2020

  10,338

10,710

10,850

2025

   

10,632

2030

  9,996

10,511

10,801

2040

  9,464

10,167

10,656

2050

  8,804

9,692

10,314

2060

   

9,925

Quelle: Bevölkerungsstand (DESTATIS 2013 Bevölkerung und Erwerbstätigkeit;
Vorläufige Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung auf Grundlage des
Zensus 2011; BV 2002: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 3/2002,
S.132; BV 2007: Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 2/2007,S.6;
BV 2014: Pressemitteilung 199 v. 4. Juni 2014

Während im Jahr 2007 erst für 2012 ein sich immer weiter fortsetzender Bevölkerungsrückgang in Baden-Württemberg angenommen wurde (2002 wurde er erst ab 2013/2015 erwartet), trat ein unerwarteter, vorübergehender Rückgang bereits 2008 und 2009 ein, während seit 2010 die Bevölkerung entgegen der Prognose aus dem Jahr 2007 wächst. Nach der neuen Bevölkerungsvorausberechnung geht die Bevölkerung erst 9 Jahre später - also 2021 - zurück.

Was ist von solchen Berechnungen über fast 5 Jahrzehnte zu halten? Der Statistiker Gerd BOSBACH hält sie zu Recht für Kaffeesatzleserei, weshalb hier für ein Verbot solcher Bevölkerungsvorausberechnungen plädiert wird. Meist sind solche Prognosen bereits nach 5 Jahren überholt, weil die zugrunde liegenden Annahmen falsch waren. Deshalb wäre alternativ die Gegenüberstellung von alter und neuer Bevölkerungsvorausberechnung zu fordern. Damit jeder Bürger sich selber ein Bild machen kann, statt dem Gutdünken der Statistikbehörde mit ihren kryptischen Pressemitteilungen ausgeliefert zu sein.

Die jetzige Vorausberechnung geht weiterhin von einer Geburtenrate TFR = 1,4 aus. Es wird lediglich ein weiterer Anstieg des durchschnittlichen Gebäralters berücksichtigt. Inwiefern dies angesichts höherer Geburtenraten der Anfang der 1970er Jahre geborenen Frauen realistisch ist, muss deshalb gefragt werden.

Angesichts der Tatsache, dass die letzten 3 Bevölkerungsvorausberechnungen innerhalb von nur 12 Jahren den Bevölkerungsstand von 8,8 Millionen auf 10,3 Millionen für das Jahr 2050 nach oben korrigiert haben, ist die Fragwürdigkeit langfristiger Bevölkerungsvorausberechnungen offensichtlich.

STATISTIK BAYERN (2014): Regionalisierte Bevölkerungsvorausberechnung für Bayern bis zum Jahr 2032 veröffentlicht.
Oberbayern gewinnt, Nordostbayern verliert Einwohner – Durchschnittsalter steigt um 3,2 Jahre,
in:
Pressemitteilung Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung v. 17.06.

MPIDR (2014): Entscheidend ist die Bildung.
Ein Absinken hoher Geburtenraten setzt alleine noch kein Wirtschaftswachstum in Gang,
in:
Demografische Forschung aus erster Hand, Nr.2, Juli

In den Beitrag geht es um die "demografische Dividende", einen bevölkerungspolitischen Mythos, der z.B. beim neoliberalen Demographismus eine zentrale Rolle spielt. Was das jedoch ist, das ist durchaus umstritten. CUARESMA/LUTZ/SANDERSON beschreiben den Mythos folgendermaßen:

"Dieser Begriff steht für den Effekt, dass in ehemals kinderreichen Ländern in Folge des Rückgangs der Geburtenraten oftmals ein wirtschaftlicher Aufschwung zu beobachten ist. Dem Modell zufolge kommt es durch die sinkende Kinderzahl zu einem temporären Anstieg des Anteils der erwerbstätigen Bevölkerung. Dieser produktive Teil der Gesellschaft hat in den folgenden Jahrzehnten weniger Kinder und alte Menschen zu versorgen, was wiederum in der Regel dazu führt, dass in dem Land mehr konsumiert und investiert wird. Das wiederum kurbelt die Wirtschaft an. Der Effekt der Demografischen Dividende hatte zur Folge, dass viele Regierungen, vor allem die der ärmeren Länder, Programme zur Geburtenkontrolle lancierten"

Diesem "naturalisierenden Modell" (Christian RADEMACHER) stellen die Autoren ein Modell gegenüber, bei dem nicht der Geburtenrückgang per se, sondern Bildungsinvestitionen ausschlaggebend für das Wirtschaftswachstum sind.

"Naturalisierende Modelle" sind gegenwärtig z.B. im Zusammenhang mit "schrumpfenden Gemeinden und Städten" in Mode, bei denen das "Denken in Abwärtsspiralen" vorherrscht. Die "demografische Dividende" ist sozusagen der Gegenpol dazu. Naturalisierende Modelle schreiben der Bevölkerungsentwicklung eine geradezu schicksalhafte Bedeutung zu, obgleich ganz andere Faktoren für gesellschaftliche Entwicklungen entscheidend sind.

MÜNCHRATH, Jens & Axel SCHRINNER (2014): Deutschland stehen "Goldene Zwanzigerjahre" bevor.
Das Forschungsinstitut Prognos erwartet ab 2020 ein goldenes Jahrzehnt für die deutsche Wirtschaft - doch bis zum Absturz ist es nicht weit,
in:
Handelsblatt v. 09.07.

Prognosen haben einen typischen Verlauf: sie streben einem Höhepunkt entgegen, danach geht es bergab - egal wann diese Prognosen innerhalb der letzten Jahrzehnte erstellt wurden. Höhepunkt und Niedergang werden von den Annahmen bestimmt. Sagt uns das etwas über die Zukunft? Nein! Aber es sagt viel über die Vergangenheit aus, denn diese wird in Szenarien einfach in die Zukunft fortgeschrieben. Daraus folgt aber auch: Die Halbwertzeit von Prognosen reicht nur bis zum nächsten Trendbruch. Das kann eine Konjunkturschwankung genauso sein wie demografische Trends. Nichts ist beständiger als die Fehlprognose.

Die goldenen 20er sind im übrigen lediglich eine Variation des Wahlkampf-Buches Die fetten Jahre des Handelsblatt-Autors Dirk Heilmann und des Präsidenten des Handelsblatt Research Institute Bert RÜRUP aus dem Jahr 2012. 

BECKER, Wiebke (2014): Deutschland wächst und schrumpft.
Jahrelang hieß es, die Bevölkerung schrumpfe. Jetzt stimmt das nicht mehr - aber viele Wissenschaftler glauben immer noch daran,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 20.07.

Wiebke BECKER erzählt nochmals die Geschichte, wie mit der 10. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung die Agenda 2010 gerechtfertigt wurde, verschweigt aber, dass der nationalkonservative Bevölkerungswissenschaftler Herwig BIRG insbesondere von Frank SCHIRRMACHER in der FAZ hofiert wurde, in der er in 10 Lektionen die FAZ-Leser belehrte und diese Belehrung als Die ausgefallene Generation auch als Buch veröffentlichte. BIRG gehört immer noch zu den Uneinsichtigen, die ihre Zahlen aus dem Jahr 1997, wonach im Jahr 2050 (Gerd BOSBACH bezeichnet das zu Recht als Kaffeesatzleserei) in Deutschland 68 Millionen Menschen leben werden, weiterhin - gegen jegliche Realität - verteidigen.

BECKER kritisiert nun, dass die Bevölkerungswissenschaftler die Entwicklung weiterhin als unausweichlich ausgeben, obwohl Wanderungen nicht vorhersehbar seien. Das kann man höchstens als schlechten Witz bezeichnen. Tatsächlich sind alle Faktoren unvorhersehbar. Auch die Geburtenentwicklung kann sich ändern genauso wie die Entwicklung der Lebenserwartung. Es verwundert deshalb kaum, dass Bevölkerungswissenschaftler immer nur jenen Faktor als unvorhersehbar betrachten, der ihnen gerade einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Nachdem der Babyboom in den 1960er Jahren für alle Bevölkerungswissenschaftler völlig überraschend kam - wurde auf einmal die Geburtenentwicklung als unvorhersehbar eingeordnet. Zu deutsch: Von Bevölkerungswissenschaftlern wird immer nur das zugeben, was überhaupt nicht mehr zu leugnen ist. Ansonsten gilt ihr schlichtes Motto: Die Zukunft wird sein wie die Vergangenheit.

Ende des Jahres will das Statistische Bundesamt eine erneute Bevölkerungsvorausberechnung veröffentlichen. Dagegen hat das Statistische Landesamt Baden-Württemberg bereits im Juni eine neue Bevölkerungsvorausberechnung auf Basis des Zensus 2011 vorgelegt, die zeigt, wohin die Entwicklung geht: Innerhalb von nur 12 Jahren hat das Statistische Landesamt seine Bevölkerungsvorausberechnung für 2050 von 8,8 Millionen Baden-Württemberger auf 10,3 Millionen erhöht, d.h. um 1,5 Millionen Menschen bzw. 17 Prozent.

WEBER zitiert Axel BÖRSCH-SUPAN, der statt von BIRGs 68 Millionen von 78 Millionen Menschen ausgeht, die 2050 in Deutschland leben werden:

"Axel Börsch-Supan (...) meint, die hohe Zuwanderung verschiebe das Schrumpfen Deutschlands um etwa 10 Jahre in die Zukunft und schwäche es weiter ab."

Viel besser wäre es, solche Langfristvorausberechnungen ganz zu verbieten oder als Alternative die Pflicht einzuführen, die Differenz zu den vorangegangenen Vorausberechnungen detailliert aufzuzeigen. Man würde damit der politischen Willkür einen Riegel vorschieben. Solange die Devise lautet Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern? werden wir weiter mit unrealistischen Horrorszenarien traktiert, die lediglich ein Ziel haben: Politik als unausweichlich zu rechtfertigen.

Welche fatalen Folgen es hat, dass Deutschland auf Schrumpfung fixiert ist, das wird hier und hier thematisiert.

PENNEKAMP, Johannes (2014): Die neue deutsche Wachstumsbescheidenheit.
Deutschland muss sich auf Jahrzehnte mit Mini-Wachstum gefasst machen, sagen Forscher. Das liegt vor allem an der demographischen Entwicklung. Sind die fetten Jahren tatsächlich bald vorbei?
in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 31.07.

Anlässlich eines Kongresses der "Degrowth"-Bewegung, die eine Wachstumswende propagiert, hinterfragt Johannes PENNEKAMP die Grundannahmen dieses Demographismus:

"Die erweiterte Freizügigkeit in der EU und die Krise in mehreren europäischen Ländern des Euroraums haben einen »temporären Zuwanderungsboom« gebracht, fassen die Ökonomen der Deutschen Bank zusammen. Man bräuchte eine Nettowanderung von 500000 Menschen jedes Jahr in den kommenden beiden Jahrzehnten, um das Schrumpfen zu verhindern. »Das ist unrealistisch«, sagt der Ökonom Weidensteiner."

Bedroht aber eine schrumpfende Bevölkerung tatsächlich den gesellschaftlichen Wohlstand? PENNEKAMP wirft ein, dass das individuelle Pro-Kopf-Einkommen trotz Schrumpfung wachsen kann.

"Unsicherheiten über künftige Innovationen und damit einhergehende Produktivitätssprünge (sind) die große Unbekannte in allen Berechnungen",

meint PENNEKAMP. Mit Verweis auf das Buch The Second Machine Age von Erik BRYNJOLFSSON & Andrew McAFEE sieht PENNEKAMP neue Innovationen kommen, die die negativen Auswirkungen des Bevölkerungsrückgangs auffangen können.

RÉTHY, Laura & Regina KÖHLER (2014): Pflege in Not – Berlins größte Herausforderung.
Im Jahr 2030 müssen 170.000 Berliner gepflegt werden – ein Anstieg um mehr als 50 Prozent. Es ist eine der größten Herausforderungen der Zukunft. Ist Berlin ihr gewachsen? Ein Report,
in:
Berliner Morgenpost v. 24.08.

"In Berlin werden heute 110.000 Menschen gepflegt. 2030 werden es 170.000 sein, ein Anstieg um mehr als die Hälfte. Die Zahl der über 80-Jährigen wird bis dahin um mehr als 80 Prozent zunehmen. Wie all diese Menschen adäquat versorgt werden sollen, ist nicht klar. Die Bertelsmann Stiftung hat errechnet, dass 2030 allein in Berlin 20.000 Pflegekräfte fehlen werden. Experten gehen davon aus, dass bald schon jeder dritte Schulabsolvent in Deutschland einen Beruf in der Pflege ergreifen müsste, um den Bedarf zu decken",

rechnen Laura RÉTHY & Regina KÖHLER vor. Die Datenbasis des Pflegereport 2030 der Bertelsmann Stiftung stammt aus dem Jahr 2009 und ist aufgrund des Zensus 2011 und des - gegen jegliche Prognose - stattfindende Bevölkerungswachstums vor allem in den Großstädten völlig veraltet.

Fragwürdig ist die Annahme zur Pflegebedürftigkeit, dass sich zwar die Lebenserwartung erhöht, aber dies keinerlei Auswirkungen auf den Gesundheitszustand hat. Der Statistiker Gerd BOSBACH hat solche Annahmen zu Recht kritisiert. Außerdem ist davon auszugehen, dass der Anteil der Einpersonenhaushalte bei älteren Menschen zurückgeht, weil sich der geschlechtsspezifische Altersunterschied von Paaren sowie die geschlechtsspezifische Lebenserwartung annähert. Inwiefern die zunehmende räumliche Mobilität bzw. politische Entscheidungen hinsichtlich der Pflegeversicherung einen Einfluss haben, das wäre anhand unterschiedlicher Szenarien zu klären.

Aufgrund der Realitätsferne der Annahmen sind Vorausberechnungen lediglich über 5 Jahre zu fordern. Dann kann nämlich überprüft werden, inwiefern die Annahmen überhaupt realistisch waren. Außerdem ist zu fordern, dass die Annahmen der jeweils letzten Vorausberechnung und das Eintreffen bei jeder neuen Vorausberechnung mitzuliefern sind. Weil dies die Glaubwürdigkeit solcher Vorausberechnungen in Frage stellen würde, wird dies unterlassen. Stattdessen werden uns ständig neue Langfristvorausberechnungen vorgelegt, deren Überprüfbarkeit durch die langen Zeiträume verhindert werden.

Fazit: Statt Kaffeesatzleserei ist Transparenz gefordert!

WELT-Sonderausgabe: Welt der Zukunft

SIEMS, Dorothea (2014): Manche Orte bleiben jung.
Deutschland altert rasant. Doch während etliche Regionen absteigen, haben andere Gegenden rosige Zukunftsaussichten,
in:
Welt v. 06.09.

Dorothea SIEMS wirft drei Schlaglichter auf den demografischen Wandel in Deutschland: Auf der einen Seite die Zunahme der Höchstbetagten, womit Hundertjährige gemeint sind, auf der anderen Seite eine Akademikerinnenkinderlosigkeit, die vor 10 Jahren noch 10 % höher geschätzt wurde, sowie eine Migration mit angeblich jährlich 400.000 DAUERHAFT bleibenden Migranten. Tatsächlich ist diese Zahl lediglich die Differenz zwischen Zu- und Abwandernden. Über die Dauer des Dableibens sagt das dagegen nichts aus.

Drei Trends machen noch keinen demografischen Wandel, sondern zeigen lediglich wie selektiv die Wahrnehmung ist, denn der demografische Wandel setzt sich aus unzähligen Faktoren zusammen, die sich mehr oder weniger schnell ändern. Vor fünf Jahren z.B. hat niemand einen Wanderungsüberschuss von 400.000 Menschen prognostiziert, stattdessen gingen alle Bevölkerungsvorausberechnungen von 100.000 maximal 200.000 Menschen aus. So schnell können also Prognosen veralten. Entgegen jeglicher Prognose wächst Deutschlands Bevölkerung. Nichts davon liest man in den angeblichen Gewissheiten, die uns SIEMS vorbetet.

Es wird noch nicht einmal darauf hingewiesen, dass der erwähnte Demographic Risk Atlas bereits im Jahr 2009 veröffentlicht wurde. Die Daten sind sogar noch älter und stammen aus dem Jahr 2004, d.h. die schönen bunten Bildchen, die den Artikel von SIEMS bebildern sind 10 Jahre alt! Dafür spricht auch folgende Aussage:

"Trübe sind (...) die Zukunftsaussichten für weite Teile Ostdeutschlands. Für Halle, Magdeburg und vor allem für Dessau, allesamt in Sachsen-Anhalt, sind die Prognosen dabei am schlechtesten."

Halle jedoch schrumpft nicht mehr, sondern wächst - entgegen den Prognosen vor 10 Jahren.

FRIGELJ, Kristian (2014): Rollatoren und Kinderwagen in Bad Sassendorf.
Ein Kurort in NRW zieht Rentner und Familien an,
in:
Welt v. 06.09.

 
     
 
       
   

weiterführender Link

 
       
   

Deutschlands Zukunft im Spiegel der Öffentlichkeit (Teil 6): 2015 - heute

 
       
   
 
   

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webmaster@single-generation.de Erstellt: 28. März 2015
Update: 11. Februar 2019