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Kommentierte Bibliografie

 
       
   

Die Entwicklung der Geburtenzahlen in Deutschland

 
       
   

Eine Bibliografie der Debatte um die Geburtenentwicklung (Teil 8)

 
       
     
       
   
     
 

Vorbemerkung

Die mediale Berichterstattung zur Geburtenentwicklung richtet sich nicht nach der Faktenlage, sondern nach politischen Interessen. Um diese deutlich zu machen werden in dieser Bibliografie ab heute (02.07.2012) nach und nach ausgewählte Medienberichte und Literatur zum Thema chronologisch dokumentiert. Die Kommentare entsprechen jeweils dem Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, falls nichts anderes vermerkt ist.

Kommentierte Bibliografie (Teil 8: 2011)

2011

TUTT, Cordula (2011): Wohlstandskinder.
Geburten: Paare in Deutschland schieben ihren Kinderwunsch nicht länger auf. Eine Trendwende kommt langsam in Sicht,
in: Wirtschaftswoche Nr.1/2 v. 10.01.

Cordula TUTT stilisiert die Dresdnerinnen zu Pionierinnen des deutschen Babybooms. Mit Hans BERTRAM und Michaela KREYENFELD hat sie zudem zwei Experten gefunden, die im Gegensatz zum bundesrepublikanischen Mainstream dem Elterngeld eine langfristig geburtenfördernde Wirkung zuschreiben.

DORBRITZ, Jürgen (2011): Kinderzahlen bei Frauen mit und ohne Migrationshintergrund im Kontext von Lebensformen und Bildung,
in: Bevölkerungsforschung aktuell v. 26.01.

Der Bevölkerungswissenschaftler Jürgen DORBRITZ hat den Zusammenhang zwischen Kinderzahl, Lebensform, Bildungsabschluss bei Frauen mit/ohne Migrationshintergrund anhand des Mikrozensus 2008 untersucht. Ärgerlich ist dabei, dass nicht die Geburtsjahrgänge 1960 - 1964 im Mittelpunkt standen, bei denen auch die Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen das 44. Lebensjahr erreicht haben. Stattdessen werden die Generation Golf-Geburtsjahrgänge 1965 - 1969 betrachtet, die insbesondere wenn sie eine Hochschule besucht haben, immer noch Kinder bekommen können. Dies gilt insbesondere für die 1968 und 1969 Geborenen

CHRISTMANN Karin (2011): Alles Hedonistinnen.
Kinderlosigkeit: Eine neue Front im Demografiekonflikt verläuft mitten durchs heimische Doppelbett: Männer wünschen sich häufiger Kinder als Frauen. Als Verbündeter bleibt der kinderlosen Frau nur einer - ihr Chef,
in:
Tagesspiegel v. 15.02.

Karin CHRISTMANN macht mittels einer FORSA-Umfrage im Auftrag von zwei Eltern-Zeitschriften Stimmung gegen angeblich "unwillige" kinderlose Frauen:

"70 Prozent der kinderlosen Männer zwischen 25 und 45 wünschen sich demnach Nachwuchs – aber nur 61 Prozent der Frauen. Neun Prozentpunkte verschenkten Kinderwunsches, was ließe sich daraus an Rentenbeiträgen generieren. Wenn nur die Frauen willig wären.
            Dabei lief die Diskussion doch eigentlich andersherum. Von einem Zeugungsstreik sprach im Jahr 2005 die Autorin Meike Dinklage und eröffnete damit eine neue Runde im Schwarze-Peter-Spiel rund um die Geburtenrate in Deutschland.
"

Wie sehen aber die Ergebnisse zum Kinderwunsch der Kinderlosen tatsächlich aus?

Wie kommt CHRISTMANN auf die Differenz von 9 Prozent mehr unwillige Frauen als Männer?

Nimmt man die Nein-Antworten (eher nicht/auf keinen Fall) als Beleg, dann wünschen sich 19 % der Männer und 24 % der Frauen kein Kind (Differenz 5 %).

Auf die Differenz von 9 % kommt man auch nicht, wenn man die 4 % Männer und 10 % Frauen, die aus medizinischen Gründen keine Kinder haben können (34 % Frauen und 23 % Männer - Differenz 11 %) hinzu zählen würde. Dann kommt man weder auf die Zahl 61 % Kinderwunsch der Frauen (sondern 66 %), und auch nicht auf die 70 % Männer, sondern auf 77 %. Wenn man hinzu nimmt, dass Männer sich seltener als Frauen Gedanken über Zeugungs- bzw. Gebärfähigkeit machen, also die Dunkelziffer der Zeugungsunfähigkeit bei Männern größer ist, dann würden sich die Zahlen verschieben. Wobei es natürlich unredlich wäre, die medizinisch bedingte Kinderlosigkeit als Beleg für die Zeugungsstreikthese zu werten.

Wie sieht es aus, wenn man die Antwort weiß nicht als Nein wertet? Dann käme man auf einen Männeranteil von 24 % gegenüber 27 % Frauen. Passt also ebenfalls nicht. Also kommen doch wieder die unfreiwillig Kinderlosen (medizinische Gründe) hinzu, dann käme man auf 28 % Männer und  37 % Frauen. Dann wäre man also bei der 9 % Differenz aber es fehlen sowohl 2 % bei den Frauen als auch bei den Männern. Das sind jene Kinderlosen, bei denen das Kind bereits unterwegs sind.

Fazit: auf die Zahlen von CHRISTMANN kommt man nur, wenn man zu den Kinderlosen, die keine Kinder wollen nur jene zählt, bei denen erstens noch kein Kind unterwegs ist (je 2 %); zweitens jene, die eher keine wollen (1 % Differenz zugunsten Männer); drittens jene, die auf keinen Fall Kinder wollen (6 % der Frauen sind hier entschiedener); viertens jene, die es nicht wissen (2 % der Männer sind unentschiedener als die Frauen) und man muss fünftens auch noch jene Kinderlosen hinzuzählen, die aus medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können (6 % mehr Frauen als Männer, die davon wissen; kein Beleg im Sinne der Zeugungsstreikthese). Übersichtlich in Tabellenform:

"unwillige" Kinderlose? Männer Frauen Differenz
Kind unterwegs 2 % 2 % 0
wollen eher keine Kinder 14 % 13 % - 1 %
wollen auf keinen Fall Kinder 5 % 11 % + 6 %
wissen es nicht 5 % 3 % - 2 %
medizinische Gründe 4 % 10 % + 6 %
Gesamt 30 % 39 % 9 %

Die Aussagen von CHRISTMANN bezüglich der Unwilligkeit von Frauen können sich nicht redlich auf die FORSA-Umfrage stützen, sondern sind als böswillige Auslegung zu betrachten.

Das größte Manko der Umfrage besteht jedoch darin, dass weder beim Altersgruppenvergleich, noch beim Bildungsabschluss und auch nicht beim Ost-West-Vergleich bei der Kinderwunsch-Befragung nach dem Geschlecht unterschieden wird. Für eine seriöse Studie wäre das die Grundvoraussetzung für eine Beurteilung. Schließlich bezog sich die Zeugungsstreikthese auf den Kinderwunsch von Akademikern, während der Unterschicht (bzw. Transferempfängern) ja zu hohe Fruchtbarkeit unterstellt wird.

LENGERER, Andrea (2011): Partnerlosigkeit in Deutschland: Entwicklung und soziale Unterschiede, VS Verlag für Sozialwissenschaften

ECKHARD, Jan (2011): Partnerschaftswandel und Geburtenrückgang, Berlin: Suhrkamp

LOCKE, Stefan (2011): Kinder, Kinder.
Dresden ist die geburtenstärkste Stadt im Land. Ein Fotograf dokumentiert seit zwei Jahren das kleine Wunder in seiner Heimat,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 20.03.

Ist Dresden tatsächlich die geburtenstärkste Stadt im Land?

"So viele Kinder, Kinderwagen und schwangere Frauen begegnen einem in kaum einer anderen deutschen Stadt; in nackten Zahlen ausgedrückt, waren es 5609 Babys, die hier 2009 das Licht der Welt erblickten. In der Statistik entspricht das 10,9 Kindern je 1000 Einwohner - und hat gereicht, den bisherigen Spitzenreiter München (10,8) zu entthronen",

berichtet Stefan LOCKE. Bei den Zahlen handelt es sich lediglich um rohe Geburtenziffern, d.h. die Zahlen werden durch die unterschiedliche Einwohnerstruktur von Städten verfälscht. Städte mit wenigen jungen Menschen unter 15 Jahren, also gerade jene mit in den vergangenen Jahren geringen Geburtenzahlen haben gegenüber Städten mit in den vergangenen 15 Jahren höheren Geburtenzahlen bessere Chancen zur geburtenstärksten Stadt zu avancieren. In die rohen Geburtenziffern gehen eben nicht nur die gebärfähigen Frauen der 15-45Jährigen ein, sondern auch diejenigen, die keine Kinder gebären können, d.h. zu junge und zu alte Frauen. Dies führt dazu, dass Städte mit einer hohen Einwohnerzahl der 15-45Jährigen ein besseres Verhältnis von Geburten je 1000 Einwohner erreichen können, als Städte, die relativ viele Kinder und alte Menschen aufweisen.

Die Dresdner Neustadt, bundesweit bekannt geworden durch Uwe TELLKAMPs Buch Der Turm soll gemäß LOCKE der geburtenreichste Stadtteil in ganz Europa sein, aber auch hier gilt wie für den Prenzlauer Berg in Berlin, dass solche Aussagen eher unter aufmerksamkeitsökonomischen Aspekten und im Hinblick auf eine "symbolische Gentrifizierung" relevant sind als unter demografischen Gesichtspunkten.

So wie ab den 1990er Jahren die Single-Rhetorik den Familialismus stärken sollte, so wird inzwischen die Familien-Ästhetik zelebriert. Der mediale Baby-Boom soll den tatsächlichen Baby-Boom miterzeugen.

Bereits im Jahr 2005 prognostizierte single-generation.de in einer Kritik des Buches Die Emanzipationsfalle der Journalistin Susanne GASCHKE, dass Studieren mit Kind bald kein Exotenfach mehr sein wird und die Doppelkarriere-Familie die Stadt erobern werden. Beides ist in Dresden und anderen Dienstleistungszentren geschehen.

"Auch die Universität hat auf den Baby-Boom reagiert und zwei Kitas mit 230 Plätzen sowie eine Kurzzeitbetreuung, das »Campusnest«, eingerichtet, in der Studenten ihre Kinder für ein oder zwei Vorlesungen abgeben können. Das kostet maximal sechs Euro, und das Angebot platzt aus allen Nähten, denn 3000 der 40.000 Dresdner Studenten sind Eltern, drei Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt."

Sachsen gehörte bereits in der Weimarer Republik zu den Bundesländern mit dem größten Geburtenrückgang. Wilhelm HARTNACKE erschrieb sich mit seinem Buch Bildungswahn - Volkstod (1932) das Ministeramt für Volkserziehung. Fast 80 Jahre später ist das Thema mit Deutschland schafft sich ab von Thilo SARRAZIN wieder virulent. Die Frage ist: schafft Deutschland diesmal die Wende oder gewinnen die Nationalkonservativen wieder die Oberhand? Die berufstätige Karrieremutter ist in Deutschland ein neues Phänomen, denn der Nationalsozialismus sah in ihr noch eine Bedrohung. Wird sie in Zukunft das Mutterbild in Deutschland bestimmen oder behalten Nationalkonservative wie Tilman MAYER, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie, Recht, die Deutschland demografisch am Abgrund sehen und das Heil nur in einer massiven Demografiepolitik sehen, die vor allem gegen Kinderlose gerichtet ist?

WEIGUNY, Bettina (2011): Ja.
FAS-Kontroverse: Soll das Elterngeld wieder abgeschafft werden?: Geld zeugt keine Kinder,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.

NIENHAUS, Lisa (2011): Nein.
FAS-Kontroverse: Soll das Elterngeld wieder abgeschafft werden?: Geld fördert Frauenkarrieren,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 22.05.

Es ist noch kein halbes Jahr her, da war für den Wirtschaftsteil der FAS klar, dass das Elterngeld seine Wirkung verfehlt hat. Bettina WEIGUNY bleibt bei ihrer These vom Mitnahmeeffekt bei Akademikerpaaren und neidet ansonsten den jüngeren Familien ihr Elterngeld. Ansonsten behauptet sie anhand des Verweises auf die gleich gebliebene gesamtdeutsche Geburtenrate, dass die Wirkung des Elterngeldes, gemessen an der Geburtenrate der Akademikerinnen, ausgeblieben sei. Ihre 10 Jahre jüngere Kollegin Lisa NIENHAUS behauptet dagegen:

"Der Anteil der Frauen und Männer, die mehr als 1500 Euro Elterngeld bekamen, die also vor der Geburt gut verdient haben, ist zwischen 2008 und 2010 gewachsen: von 6,7 auf 9,5 Prozent."

Müssen diese Gutverdiener aber Akademiker sein? Das wird suggeriert, aber nicht belegt. Auf die gleiche Weise behaupten ja Gunnar HEINSOHN und Thilo SARRAZIN das Gegenteil, nur dass sie mit denjenigen Elterngeld-Empfängern argumentieren, die den Mindestsatz erhalten: alles faule geldgierige Sozialhilfemütter.

Festzuhalten ist: sowohl die Gegner als auch die Befürworter des Elterngeldes können derzeit ihre Standpunkte nicht belegen, weil die Daten dazu fehlen. Erst nächstes Jahr wird mit dem Mikrozensus 2012 erneut die Zahl der Geburten in Deutschland richtig erfasst. Danach wird man abschätzen können, welche Veränderungen es bei den Geburtenzahlen von Akademikerinnen zwischen 2008 und 2012 gegeben hat.

Klar ist aber auch: die Zensusergebnisse werden auch zu einer Revidierung der Geburtenrate führen, denn diese Zahl ist abhängig von der Bevölkerung. Wird festgestellt, dass es in Deutschland bereits heute 1 Million weniger Bürger gibt, dann bedeutet dies, dass sich die Geburtenrate erhöht, wenn davon Frauen im gebärfähigen Alter betroffen sind, aber auch die rohe Geburtenziffer, die gerne von Nachrichtenmagazinen im Ländervergleich benutzt werden, ändert sich. Die Auswirkungen werden sich voraussichtlich nur hinter dem Komma bemerkbar machen, aber selbst in diesem Bereich wird ja in Deutschland heftig gestritten.

DORBRITZ, Jürgen (2011): Dimensionen der Kinderlosigkeit in Deutschland,
in: Bevölkerungsforschung Aktuell Nr.3, Juni

Der Artikel von Jürgen DORBRITZ ist, was die Erforschung der Kinderlosigkeit betrifft, wenig  erhellend, zeigt aber unmissverständlich die politische Stoßrichtung des Autors:

"Soll es eine Trendwende in der deutschen Geburtenentwicklung geben, kann sie nur durch einen rückläufigen Anteil bei der Kinderlosigkeit erreicht werden."

Was insbesondere Feministinnen auf die Palme bringen wird, ist die Behauptung, dass

"insbesondere Vollerwerbstätigkeit ein die Kinderlosigkeit verursachender Faktor"

ist. Bislang galt die Erhöhung der Vollerwerbstätigkeit von Frauen als ein zentrales Mittel zur Bewältigung des anstehenden demografischen Wandels. Eine Politik, die nach Mütter- statt Frauenquoten für die Chefetagen ruft, erhält durch DORBRITZs Interpretation Aufwind. In der Hausfrauenecke dieser Republik war diese Trendwende bei DORBRITZ bereits vor längerem erkannt worden.

Man kann davon ausgehen, dass das Thema Kinderlosigkeit also bald wieder stärker auf der politischen Agenda stehen wird.

SCHAREIN, Manfred G. (2011): Der demografische Schluss: Kinderlose Akademikerinnen 0.3 - Wo war das Problem?
in: Bevölkerungsforschung Aktuell Nr.3, Juni

Manfred G. SCHAREIN gibt zu, was auf single-dasein.de und single-generation.de bereits Anfang des Jahrtausends kritisiert wurde, dass der Anteil der spät gebärenden Akademikerinnen bei der Berechnung der Kinderlosigkeit nicht ausreichend berücksichtigt wurde (eine Zusammenfassung hier):

"lange Jahre, bis etwa 2005 (galt), die Betrachtung von Frauen im Alter von 35 bis 39 Jahren als gut für die Schätzung der Kinderlosigkeit von Akademikerinnen geeignet.
(...).
In der Nachlese zeigt sich aber bei einem anhaltenden Trend der Frauen, immer später im Leben die Kinder zu bekommen, dass dieses Altersintervall wohl ab einem Zeitpunkt um 1990 bereits nicht mehr adäquat zur Schätzung der Kinderlosigkeit von Frauen nach  ihrem höchsten Berufsabschluss war und somit zu einem (deutlich) zu hohen Wert dafür führte."

Das ganze Ausmaß des Desasters in Sachen  Erforschung der Kinderlosenanteile in Deutschland wird wohl erst in den nächsten Jahrzehnten wirklich sichtbar werden, denn das Institut für Bevölkerungsforschung und die politischen Institutionen blockieren weiterhin Erkenntnisfortschritte. Es kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund politischer Interessen (Durchsetzung einer rigiden Politik gegen Kinderlose) Klarheit gar nicht erwünscht ist. Es könnte ja heraus kommen, dass die Probleme ganz woanders liegen!

DESTATIS (2011): 2010 - Mehr Geburten, Sterbefälle und Eheschließungen,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 17.06.

"Im Jahr 2010 sind in Deutschland 678 000 Kinder lebend geboren worden. Dies teilt das Statistische Bundesamt (Destatis) nach vorläufigen Ergebnissen mit. Gegenüber dem Vorjahr entspricht dies einer Zunahme von 13 000 Kindern oder 1,9% – allerdings war 2009 auch das Jahr mit der bisher niedrigsten Anzahl Geborener", heißt es in der kurzen Pressemitteilung

HERRMANN, Sabrina (2011): Pluralisierung von Leitbildern - die Lebensentwürfe junger Singles. In: Kornelia Hahn & Cornelia Koppetsch (Hrsg): Soziologie des Privaten, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S.227 - 251

DESTATIS (2011): Leichter Rückgang der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2010,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden v. 12.07.

"Im Jahr 2010 wurden nach vorläufigen Ergebnissen 678 000 Kinder geboren, das waren 13 000 mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Sterbefälle nahm 2010 um 4 000 auf 859 000 weiter zu. Im Jahr 2010 verstarben somit 181 000 Menschen mehr als geboren wurden. Da die Zahl der Geburten stärker gestiegen ist als die Zahl der Sterbefälle, fiel das Geburtendefizit gegenüber dem Vorjahr (– 189 000) um 8 000 Personen geringer aus", meldet das Statistische Bundesamt.

EUROSTAT (2010): EU27 Bevölkerung von 502,5 Millionen am 1. Januar 2011.
Europäische Demografie: Mehr als 5 Millionen Geburten in der EU27 im Jahr 2010,
in: Pressemitteilung Europäisches Statistikamt v. 28.07.

ÖCHSNER, Thomas (2011): Absage an die Familie.
Ein Überblick,
in: Süddeutsche Zeitung v. 04.08.

Gute Nachrichten sind schlechte Nachrichten, weshalb die deutschen Zeitungen die Meldung des Statistischen Bundesamtes vom 12. Juli, wonach 2010 in Deutschland mehr Kinder geboren wurden, ignoriert haben.

Stattdessen wurden Zahlen über die Zunahme von Alleinlebenden zum Schreckgespenst aufgeblasen, mitunter auch mit falschen Zahlen wie der Bericht In Köln 50 Prozent Single-Haushalte in der Kölner Rundschau vom 30.07.2011 zeigt.

Und heute wird gar eine Pressekonferenz veranstaltet, die man besser nächstes Jahr abgehalten hätte, denn die jetzt bekannt gegebenen Zahlen verzerren lediglich die Situation in Deutschland. Haushaltszahlen sind nicht in der Lage die Geburtenentwicklung richtig zu beschreiben, wie der Mikrozensus 2008 gezeigt hatte, bei dem erstmals die Geburten von Frauen korrekt erfasst wurden. Warum wartet man also nicht bis 2012? Offenbar ist der Politik im Wahljahr an Hysterie und nicht an Information gelegen.

Das Familienministerium hat bezeichnenderweise eine eigene Pressemeldung zum Thema Rückgang der Kinderzahl in Deutschland zeigt: Nachhaltige Familienpolitik ist wichtig herausgegeben, die die Zahlen relativieren:

"Trotz der geringen Kinderzahl bewegt sich die Geburtenrate in Deutschland mit 1,36 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter seit einigen Jahren auf stabilem Niveau. Im Osten erreicht die Geburtenrate mit 1,40 sogar den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung. Laut dem Allensbach Monitor Familienleben sind 2010 die Kinderwünsche in Deutschland wieder deutlich gestiegen."

Auch wenn das Familienministerium ihre eigene Politik verkaufen möchte. Dass Zeitungen bewusst einseitig skandalisieren, statt zu informieren ist auch dem Auflagenschwund zuzuschreiben. Dass dies den schlechten Ruf der Presse verbessert, darf bezweifelt werden

SAUERBREY, Anna (2011): Kinder, Kinder.
Bevölkerungsstatistik,
in: Tagesspiegel v. 04.08.

MEISNER, Matthias (2011): Deutschland, keine Kinder.
Statistisches Bundesamt: Drastischer Rückgang vor allem in den neuen Ländern.  Jeder sechste Minderjährige von Armut bedroht ,
in: Tagesspiegel v. 04.08.

SCHULZE, Katrin (2011): Geburtenrekord in Berlin: Der Trend geht zum Stadtkind.
Berlin verzeichnet im Gegensatz zu anderen Ländern einen Geburtenrekord. Die meisten Babys kommen in Friedrichshain-Kreuzberg zur Welt,
in: Tagesspiegel v. 05.08.

Eine Pressekonferenz des Statistischen Bundesamtes, das mit einem wenig aussagekräftigen Begleitmaterial mit dem Titel Wie leben Kinder in Deutschland? daherkommt, hat unter den Journalisten, bekanntlich die kinderärmste soziale Gruppe der Deutschen, eine regelrechte Hysterie ausgelöst. In der taz schwadroniert Deniz YÜCEL über den Raum ohne Volk. Die Überschrift entstammt - gänzlich unoriginell - einem Bestsellertitel.

In der Welt behaupten Dorothea SIEMS & Miriam HOLLSTEIN zu wissen, warum in Deutschland ein Babyboom ausbleibt. In der Wahl der Experten ist man dabei nicht wählerisch, sondern klar tendenziös. Da wird ein Experte eines Institut für Demografie, Allgemeinwohl und Familie zitiert. Institut klingt nach Wissenschaft und Allgemeinwohl sagt schon alles. Es handelt sich jedoch nur um einen nationalkonservativen Verein, der sich mit einem wissenschaftlichen Mitarbeiter schmückt. Als Geschäftsführer firmiert ein familienfundamentalistischer Katholik. Daneben wird der nationalkonservative Ökonom Hans-Werner SINN mit dem Beitrag Das demographische Defizit zitiert, ein Pamphlet, das 2003 erschien, um im Rahmen der Agenda 2010 die private Altersvorsorge salonfähig zu machen. Angeblich sei diese der Rentenversicherung überlegen. Seit den fortwährenden Finanzkrisen hat diese Sichtweise jedoch an Glaubwürdigkeit verloren. Einzig die Banken gewinnen bekanntlich dabei immer.

Was Welt und taz eint: Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes werden nicht kritisch gesichtet, sondern unreflektiert übernommen, weil sie den jeweiligen Kommentatoren gut ins eigene Denkschema passen. Es mag aber auch daran liegen, dass statistischer Sachverstand im Journalismus Mangelware ist.

DESTATIS (2011): Durchschnittliche Kinderzahl je Frau steigt 2010 auf 1,39,
in: Pressemeldung Statistischen Bundesamt Wiesbaden v. 18.08.

"Die durchschnittliche Kinderzahl je Frau betrug im Jahr 2010 in Deutschland 1,39. Damit lag die zusammengefasste Geburtenziffer nach Angaben des Statistischen Bundesamts (Destatis) etwas höher als 2009 (1,36) und ähnlich hoch wie 2008 (1,38). Einen höheren Wert hatte sie zuletzt im Jahr 1990 mit 1,45.

2010 kamen insgesamt rund 678 000 Kinder lebend zur Welt, etwa 13 000 mehr als 2009. Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter (zwischen 15 und 49 Jahren) war von 18,7 Millionen (2009) auf 18,4 Millionen im Jahr 2010 zurückgegangen.

Die Zunahme bei den Geburten von 2009 auf 2010 fiel bei den Geburten von zweiten und dritten Kindern stärker aus als bei den Geburten erster Kinder.

Im Westen Deutschlands stieg die durchschnittliche Kinderzahl von 1,35 im Jahr 2009 auf 1,39 im Jahr 2010. Im Osten Deutschlands nahm die durchschnittliche Kinderzahl ebenfalls zu und lag im Jahr 2010 bei 1,46 (2009: 1,40). Auch hier war sie zuletzt 1990 höher gewesen, anschließend stark abgefallen und dann allmählich wieder angestiegen. Dabei verschob sich das Alter, in dem Frauen ihre Kinder bekommen, deutlich. 1990 war in den neuen Ländern relativ gesehen die höchste durchschnittliche Kinderzahl für 23-jährige Frauen ausgewiesen worden, 2010 dagegen für die 30-jährigen", meldet das Statistische Bundesamt.

Hysterie herrscht in Deutschland immer dann, wenn neue Meldungen zu den Geburten vorliegen. Erst vor 2 Wochen hat das Statistische Bundesamt eine Pressekonferenz veranstaltet, um wenig aussagekräftige Zahlen vorzulegen. Jetzt also die zusammengefasste Geburtenziffer, deren Aussagekraft im Grunde nur im Zusammenhang mit dem durchschnittlichen Gebäralter betrachtet werden darf, denn steigende bzw. fallende Gebäralter verzerren das Gesamtbild.

Die Welt Online behauptet fälschlicherweise, dass Deutschland Schlusslicht bei den Geburtenzahlen sei. Die taz sieht das genauso. Jedoch wird nicht die Geburtenrate 2010 verglichen, sondern die rohen Geburtenziffern des Jahres 2010. In diese Ziffern fließen jedoch auch die Frauen ein, die gar nicht gebärfähig sind.

"Auf je 1.000 Einwohner kommen nur noch 8,3 Geburten – auch das der geringste Wert in Europa",

schreibt YÜCZEL anlässlich der EUROSTAT-Pressemeldung Ende Juli. 2009 lag die Zahl, die als "Bruttogeburtenziffer" bezeichnet wird, bei 8,1.

Axel WERMELSKIRCHEN schreibt dagegen auf faz.net: "In Europa liegt Deutschland (...) auf den hinteren Rängen."

Die Hysterie um die Geburtenzahlen hat in erster Linie mit dem Streit um die richtige Familienpolitik zu tun. So warnt z.B. die FR angesichts des positiven Trends, die "Hände in den Schoß zu legen".

Welchen Einfluss hat das Elterngeld oder der Ausbau der Kinderbetreuung auf die Geburtenentwicklung? Aus den Zahlen wird gerne das herausgelesen, was zur eigenen Meinung passt. In der SZ behauptet z.B. Corinna NOHN, dass das Elterngeld nicht wirkt. Kathrin SPOERR behauptet in der Welt Online genau das Gegenteil.

Was aber, wenn die Geburtenentwicklung nicht Ausdruck eines einheitlichen Trends ist, sondern die Konsequenz gegenläufiger Entwicklungen? Jürgen DORBRITZ vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hebt im Tagesspiegel einzig auf unterschiedliche Trends in Ost- und Westdeutschland ab, als ob in den beiden Landesteilen die Interessenlage homogen wäre. Allein die Tatsache, dass seit Jahren die Geburtenzahlen in den citynahen Wohngebieten der Großstädte zunehmen, deutet darauf hin, dass berufstätige Mütter zunehmend mehr Kinder bekommen. Die allgemeine Geburtenrate ist auch wenig aussagekräftig, wenn es um bestimmte Milieus geht.

HORDYCH, Harald (2011): Das junge Glück.
Frühe Schwangerschaften: Frauen schieben das Kinderkriegen oft hinaus - bis es zu spät ist. In Sachen Lebensplanung können sie viel von Müttern unter 20 lernen. Zwei Geschichten von jungen Frauen, die eine frühe Mutterschaft stark gemacht hat,
in: Süddeutsche Zeitung v. 27.08.

Späte Mutterschaft gilt in Zeiten des Bevölkerungsrückgangs als bevölkerungspolitisches Problem. Tatsächlich ist es jedoch die Konsequenz eines unsicheren Arbeitsmarktes und einer Politik für die Baby-Boomer, die der Jugend eine jahrelange Warteschleifeexistenz im Bildungssystem (euphemistisch als Postadoleszenz bezeichnet) bescherte.

"Wenn deutsche Frauen heutzutage ihr erstes Kind bekommen, sind sie im Durchschnitt 30 Jahre alt. Fast jede fünfte Frau ist älter als 35. Und selbst diejenigen, die gar zum ersten Mal mit über 40 Mutterfreuden entgegensehen, sind keine Minderheit mehr",

behauptet HORDYCH. Fakt ist jedoch: Mütter, die ihr erstes Kind mit über 40 bekommen, finden sich hauptsächlich unter Frauen, die im Wissenschaftsbetrieb unterhalb einer sicheren Existenz als Professorin arbeiten. Dies ist - entgegen HORDYCHs Behauptung - eine klitzekleine Minderheit.

Aufgrund der normativen amtlichen Geburtenstatistik konnte bis zum Mikrozensus 2009 das Alter bei der Erstgeburt lediglich geschätzt werden, weil nur die Geburtenreihenfolge in einer Ehe erfasst wurde. Angesichts einer hohen Zahl lediger und geschiedener Mütter in Deutschland war das ein skandalöser Zustand. Gemäß einer Pressemeldung des Statistischen Bundesamtes vom 2. Dezember 2010 wurde das inzwischen geändert:

"Durch eine Anpassung des Bevölkerungsstatistikgesetzes ist für das Jahr 2009 erstmals die Nachweisung der sogenannten biologischen Geburtenfolge unabhängig vom Familienstand der Mutter möglich. Bis zum Jahr 2008 lagen Angaben über das Alter der Frau bei der ersten Geburt nur in der aktuell bestehenden Ehe vor."

KREYENFELD, Michaela (2011): 1,6 Kinder pro Frau.
Das Max-Planck-Institut für demografische Forschung legt erstmals korrigierte Geburtenraten vor. Sie liegen deutlich über den amtlichen Ziffern. Die Wissenschaftler erwarten eine Trendumkehr im deutschen Geburtenverhalten,
in:
Pressemitteilung des Max-Planck-Institut für demografische Forschung  v. 02.09.

BERTH, Felix (2011): Möhrenbrei und Latte macchiato.
Junge Frauen bekommen wieder mehr Kinder,
in: Süddeutsche Zeitung v. 05.09.

Felix BERTH berichtet auf der Titelseite über eine Pressemeldung des Max-Planck-Institut für demografische Forschung vom 2. September. Demnach bekommen die Frauen um den Geburtsjahrgang 1970 wieder mehr Kinder. Das sind jene Jahrgänge, über die Joachim LOTTMANN im Jahr 2004 den Poproman Die Jugend von heute verfasst hat. Damals wurde die Front im Demografiekrieg von den 1965 geborenen Frauen auf die in den 1970ern geborenen Frauen verlegt. Was das Max Planck-Institut für demografische Forschung nun belegt, das ist nichts anderes als das, was single-generation.de bereits im Jahr 2005 gegen die Interpreten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung einwandte:

"HULLEN hat für die ab 1970 geborenen Frauen eine signifikant niedrigere Geburtenneigung nachgewiesen, eine Tatsache, die sich im steigenden Erstgebäralter  ausdrückt.
        
 
Die Frage ist also, ob die nach 1970 geborenen Frauen ihre Geburten im späteren Alter nachholen, denn HULLEN konnte keinen direkten Zusammenhang zwischen Erstgebäralter (Tempo) und Geburtenhäufigkeit (Quantum) feststellen."

Bislang hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung auf solche Berechnungen des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung mit Dementis reagiert. Bei der Geburtenentwicklung in den neuen Bundesländern musste das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung jedoch seine Einschätzungen wegen Unhaltbarkeit revidieren. Das könnte bald auch auf anderen Feldern der Geburtenentwicklung der Fall sein.

LUY, Marc (2010): Tempo-Effekte und ihre Bedeutung für die demografische Analyse,
in: Comparative Population Studies, Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3 (15.09.2011)

LUY, Marc & Olga PÖTZSCH (2010): Schätzung der tempobereinigten Geburtenziffer für West- und Ostdeutschland, 1955 - 2008,
in: Comparative Population Studies, Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3 (15.09.2011)

Die normative, ehezentrierte amtliche Statistik verhinderte bis zum Jahr 2009 die korrekte Zuordnung von Geburten zu Frauen. Ohne eine solche Zuordnung konnten für Deutschland keine tempobereinigten Geburtenziffern ermittelt werden:

"Für die Berechnung der tempobereinigten TFR* sind die Geburtenzahlen nach einzelnen Paritäten erforderlich. Für das vereinigte Deutschland und das frühere Bundesgebiet lagen solche Angaben aufgrund der gesetzlichen Regelungen bis 2009 nicht vor. Vor 2009 wurde die Parität ausschließlich bei Geburten von verheirateten Müttern erfasst, wobei sich die Ordnungszahl (auch als Geburtenfolge bezeichnet) allein auf die Kinder der Frau aus der gegenwärtigen Ehe bezog (einschließlich vorehelicher Kinder mit dem aktuellen Ehemann). Die vorehelichen Kinder mit anderen Vätern als dem jetzigen Ehemann der Mutter sowie Kinder aus früheren Ehen wurden hierbei nicht berücksichtigt. Erst nach der Ergänzung des Bevölkerungsstatistikgesetzes (BGBl 2007) war für das Jahr 2009 erstmals ein deutschlandweiter Nachweis der sogenannten biologischen Geburtenfolge unabhängig vom Familienstand der Mutter möglich (siehe Statistisches Bundesamt 2010)."

LUY & PÖTZSCH haben diese Datenlücken nun für die Jahre 1955 - 2008 durch Schätzungen aufgrund anderweitiger Daten aufgefüllt. Bislang fehlte hierzu der politische Wille, doch mittlerweile wird die klassische Berechnung zum Hemmnis für weitere bevölkerungspolitisch motivierte Reformen. Deshalb wird diese Debatte erst jetzt geführt, obwohl diese Debatte international bereits seit 1998 geführt wird.

Ein Beispiel für den fehlenden politischen Willen gefällig? Im Jahr 2001 veröffentlichte der Bevölkerungsstatistiker Ron LESTHAEGHE für die westdeutschen Frauen folgende endgültigen (und vorläufige) Kinderzahlen:

"Betrachte man - anders als die deutsche Statistik - nicht nur die aktuelle Geburtenentwicklung pro Jahr, sondern das jeweilige Verhalten von Frauen-Altersgruppen (so genannten 'Kohorten'), so werde deutlich, dass der Geburtenrückgang langfristig weniger dramatisch sein dürfte. Die Frauen der Jahrgänge 1957 bis 1961 etwa hätten zwar viel später mit dem Kinderkriegen angefangen als ihre Vorgängerinnen, aber dann aufgeholt: Die Geburtenrate ihrer Altersgruppe liegt bei rund 1,6 Kindern pro Frau; verglichen mit 1,8 für die Jahrgänge 1942-1946. Die heute 35- bis 40-Jährigen hätten bereits jetzt eine Rate von 1,5 erreicht - obwohl sie sich durchschnittlich noch länger Zeit gelassen hätten, bevor das erste Baby kam."

Diese Zahlen stimmen mit den kürzlich veröffentlichten endgültigen und tempo-bereinigten Kinderzahlen des Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) überein.

Die Zahlen wurden im Nachgang zu einem Bundesverfassungsurteil zur Pflegeversicherung veröffentlicht. Das Urteil vom 3. April 2001 begründete die geforderten Änderungen neben dem Anstieg der Kinderlosigkeit hauptsächlich mit der durchschnittlichen Kinderzahl (TFR) folgendermaßen:

"In Deutschland ist seit Mitte der sechziger Jahre die Zahl der Lebendgeborenen je Frau von 2,49 in rascher Folge auf mittlerweile 1,3 gesunken. In den meisten der wirtschaftlich entwickelten Länder hat der Effekt beobachtet werden können, dass mit steigendem Lebensstandard und steigendem Pro-Kopf-Einkommen die Geburtenrate zum Teil erheblich unter 2,0 sinkt. Es ist - wie auch der Sachverständige dargelegt hat - nichts dafür ersichtlich, dass sich die für diese Entwicklung verantwortlichen Rahmenbedingungen alsbald grundlegend wandeln. Ein sprunghafter Anstieg der Geburtenrate ist nicht zu erwarten"

Alle damaligen Presseveröffentlichungen im Vorfeld des Urteils und zur Debatte um das Pflegeurteil - außer dem Interview mit Ron LESTHAEGHE - argumentierten mit der durchschnittlichen Kinderzahl von 1,3.

Bis heute hat kein einziger Frauengeburtsjahrgang eine endgültige Kinderzahl von 1,3 erreicht, sondern sie liegen bis zum Jahrgang 1961 bei 1,6. Jene Geburtsjahrgänge, die in den nächsten Jahren ihre endgültigen Kinderzahl erreichen werden, liegen allesamt über 1,5 - immer noch weit entfernt von 1,3. Der Trend bei den endgültigen Kinderzahlen weist jedoch immer noch nach unten. Solange dies der Fall ist, lässt sich das Gegenteil nicht sicher beweisen.

Was aber, wenn die durchschnittliche Kinderzahl (gemessen als TFR) nun in den nächsten Jahren sprunghaft nach oben weist? Bereits ein Wert von 1,5 würde die Bevölkerungswissenschaftler in Erklärungsnot bringen. Ein Wert von 1,6 war Anfang des Jahrtausends - zu Zeiten der Agenda 2010-Debatte - völlig undenkbar. Was, wenn die TFR diesen Wert übersteigt?

Dass nun auch in Deutschland die Debatte um tempobereinigte Geburtenziffern beginnt, ist also der Staatsraison geschuldet, und nicht etwa der Tatsache, dass es vorher nicht möglich gewesen wäre. Nein: einzig der politische Wille fehlte!

FEENEY, Griffith (2010): Tempo-Effekte in der Mortalität: ein Wegweiser für Skeptiker,
in: Comparative Population Studies, Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3
(15.09.2011)

SOBOTKA, Tomáš & Wolfgang LUTZ (2010): Wie Politik durch falsche Interpretationen der konventionellen Perioden-TFR in die Irre geführt wird: Sollten wir aufhören, diesen Indikator zu publizieren?
in: Comparative Population Studies, Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3
(15.09.2011)

Tomáš SOBOTKA & Wolfgang LUTZ befassen sich mit den Unzulänglichkeiten des Indikators der durchschnittlichen Kinderzahl (TFR), die bislang die politische Debatte um den demografischen Wandel dominierte. Anhand von 4 Beispielen zeigen sie die Problematik auf:

1) die vermutete Kluft zwischen gewünschter und realisierter Kinderzahl
2) der aktuelle Anstieg der TFR in Europa
3) die Kinderzahl von Migrantinnen im Vergleich zu den Einheimischen
4) der Zusammenhang zwischen Familienpolitik und TFR-Änderungen

Letzter Punkt ist besonders interessant, denn in der Debatte um das Elterngeld dominierte lange Zeit Schweden als Musterland (inzwischen hat Frankreich diese Rolle für andere Reformvorhaben übernommen). Der schwedische "Babyboom" infolge des Elterngeldes galt bisweilen als Rechtfertigungsgrund für die Einführung des Elterngeldes auch in Deutschland. SOBOTKA & LUTZ weisen darauf hin, dass der dortige Anstieg der TFR weniger eine Änderung im Geburtenausmaß (Quantum), sondern vor allem eine Änderung im Timing (Vorziehen von Geburten) und Geburtenabstand (zweite und dritte Kinder folgen in einem kürzeren Abstand auf das erste Kind) bewirkt hat.

SOBOTKA & LUTZ sehen für Deutschland deshalb die Gefahr, dass die TFR einen Babyboom (Änderung des Quantums) vorgaukeln könnte, obwohl es sich nur um das Vorziehen von Geburten handelt (Tempoeffekt).

PUSCHNER, Sebastian (2011): "Viele Länder sind uns demografisch auf den Fersen."
Im Gespräch: Die deutsche Angst vor dem Aussterben hat Tradition, sagt der Demografieforscher Ralf Ulrich. Zuwanderung allein kann das Problem nicht mehr lösen,
in: Freitag Nr.39 v. 29.09.

Drei Wellen der Beschäftigung mit dem Geburtenrückgang sieht der Bevölkerungswissenschaftler Ralf E. ULRICH in den letzten 100 Jahren. Single-generation.de hat im Jahr 2008 Drei Wellen der Generation Kinderlos in hundert Jahren beschrieben.

Bereits am 5. September hat single-generation.de Dementis zur Trendwende bezüglich der Geburtenrate erwartet. Nun kommt ein Dementi von ULRICH, das nur scheinbar stichhaltig ist:

"»Deutsche Frauen bekommen wieder mehr Kinder«, berichteten die Medien Anfang des Monats.
ULRICH: Da wurden Forschungsergebnisse offenbar missverstanden. Frauen in Deutschland bekommen Kinder heute biografisch später als vor zehn oder 30 Jahren. Man kann die Kinderzahl so kalkulieren, dass der Effekt dieser Verschiebung herausgerechnet wird und kommt dann auf 1,6 Kinder pro Frau, statt der vom Statistischen Bundesamt ausgewiesenen 1,4. Aber der Vergleich der beiden Zahlen liefert keine Aussage über einen Anstieg."

Tatsächlich gibt es zwei klassische Methoden, die Geburtenrate zu ermitteln: zum einen die durchschnittliche Kinderzahl (TFR) aller gebärfähigen Frauen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder die Geburtenrate eines oder mehrerer Geburtsjahrgänge (CFR). Beide Methoden werden zur Ermittlung eines Anstiegs/Rückgangs der Geburtenrate genutzt.

Fakt ist: Die endgültige Kinderzahl für den westdeutschen Geburtsjahrgang 1962 liegt bei 1,56 (KREYENFELD 2011). Dieser Geburtsjahrgang liegt also bereits definitiv über der hypothetischen TFR von 1,4. Das kann nicht einmal Herr ULRICH bestreiten. Der westdeutsche Jahrgang 1961 erreichte noch eine endgültige Kinderzahl von 1,6, d.h. die Kinderzahl pro gebärfähiger Frau hat vom Geburtsjahrgang 1962 auf 1961 um 0,04 abgenommen. 

Bald lässt sich auch für den prominenten Geburtsjahrgang 1965 die endgültige Kinderzahl pro Frau ermitteln. Sie wird mit Sicherheit über 1,5 liegen. Nach CFT-Berechnungen von Olga PÖTZSCH liegen seit dem Jahr 2008 alle in den 1960er Jahren geborenen west- und ostdeutschen Frauenjahrgänge über dem Wert von 1,4, obwohl sie das Ende der Gebärfähigkeit noch nicht erreicht haben (CPOS Heft 1/2010, S.183). Aber darum geht es bei der obigen Frage nach dem Anstieg gar nicht!

Worum geht es aber dann? ULRICHs Aussage, dass der Vergleich der beiden Zahlen 1,4 und 1,6 keine Aussage über einen Anstieg liefert, ist eine Finte. Das hat ja das Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR) in dem obigen Zusammenhang gar nicht behauptet. Das Argument des MPIDR ist nämlich zweiteilig:

Es wird erstens behauptet, dass die Zahlen der zusammengefassten Geburtenziffer (TFR) das tatsächliche Geburtenniveau unterschätzt. Das hat aber nichts mit der behaupteten Trendwende beim Kinderkriegen zu tun, wie ULRICH suggeriert.

Der Anstieg wird vom MPIDR dagegen - zweitens - aus dem Vergleich jüngerer und älterer Geburtsjahrgänge gewonnen, wie das nachfolgende Schaubild beweist, das der Pressemeldung vom 2. September entnommen ist.

Bis zum Geburtsjahrgang 1961 handelt es sich um die Berechnung der endgültigen Kinderzahl (CFR). Für die Geburtsjahrgänge nach 1961, die ihre endgültige Kinderzahl noch nicht erreicht haben, wird die Geburtenrate nach einer "tempobereinigten Geburtenziffer" ermittelt. Dies ist eine  Berechnungsmethode die realitätsnähere Ergebnisse verspricht. 1998 brachten John BONGAARTS & Griffith FEENEY den so genannten Tempo-Ansatz in die demografische Debatte ein. Das aktuelle Heft der Comparative Population Studies, das vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung herausgegeben wird, widmet sich diesem Ansatz. In Deutschland führte das bevölkerungspolitische Datendesaster dazu, dass dieser Ansatz nicht angewandt werden konnte. Erst seit 2009 werden auch in Deutschland die notwendigen Daten erhoben. Vorher verhinderte dies die normative, eheorientierte  amtliche Statistik.

Der Statistiker Gerd BOSBACH spricht in seinem Buch Lügen mit Zahlen in diesem Zusammenhang auch von politischen Zahlen.

Wenn jemand wie ULRICH auf eine Frage antwortet, die gar nicht gestellt wurde, dann verbergen sich dahinter politische Strategien und Interessen, die verschleiert werden sollen.

Warum wird der Tempo-Ansatz in Deutschland erst jetzt angewandt, obwohl er international bereits seit über 10 Jahren diskutiert und erprobt wird?

Für Deutschland gilt: Der Tempo-Ansatz hätte vorher dazu geführt, dass europäische "Musterländer" in der demografischen Debatte nicht als Vorbild hätten fungieren können, weil deren angeblicher Babyboom teilweise oder ganz auf einem veränderten Gebäralter bzw. Geburtenabstand beruhen.

Nun aber könnte die bislang verwendete zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) dagegen einen Babyboom vorgaukeln, den es nicht gibt. In dem programmatischen Aufsatz Wie Politik durch falsche Interpretationen der konventionellen Perioden-TFR in die Irre geführt wird: Sollten wir aufhören, diesen Indikator zu publizieren? von Tomas SOBOTKA & Wolfgang LUTZ heißt es:

"»Tempo-orientierte politische Maßnahmen« mit dem Ziel der Stimulation eines früheren Geburtentimings, um die Anzahl der Geburten zu steigern, ohne dass sich dies zwangsläufig auf die realisierte Fertilität auswirkt, stellen hingegen ein legitimes und potenziell nützliches Ziel dar (...). Diese politischen Maßnahmen stellen in der Tat einen Ausnahmefall dar, in dem die TFR ein nützlicher Indikator hinsichtlich ihrer Auswirkungen sein könnte" (2010, S.685f.)

Oder anders ausgedrückt: Die TFR diente bislang dazu den notwendigen Druck aufzubauen, um familienpolitische Reformen wie höherer Pflegebeitrag für Kinderlose, Elterngeld usw. als alternativlos erscheinen zu lassen. Nun aber könnte die TFR auch in Deutschland zunehmend kontraproduktiv werden:

"Seit dem Ende der 1990er Jahre haben viele europäische Länder einen deutlichen Anstieg der konventionellen Perioden-TFR verzeichnet. (...) Dies wurde allgemein als erfreuliches Zeichen für den dringend notwendigen Umschwung des bisherigen,  langanhaltenden Trends sinkender periodenspezifischer Geburtenziffern interpretiert, der dafür gesorgt hatte, dass die TFR in vielen europäischen Ländern auf ein »Rekordtief« von 1,3 oder weniger gefallen war (Kohler et al. 2002). Einige Regierungen haben diesen Trend voller Stolz auf ihre politischen Maßnahmen zurückgeführt und eine der führenden deutschen Zeitungen, Die Zeit, kommentierte einen minimalen Anstieg der Anzahl der Geburten im Jahr 2007 mit dem freudigen Ausruf »Politik funktioniert!« (Gaschke 2009). Eine alternative Erklärung liefert jedoch einen anderen Blick auf den kürzlichen Anstieg der Perioden-TFR. Es ist möglich, dass der jüngste Anstieg dieser Maßzahl in europäischen Ländern zu einem großen Teil einer Verlangsamung oder der Beendigung des Aufschiebens von Geburten zuzuschreiben ist (Goldstein et al. 2009, Bongaarts/Sobotka 2010)."

Der Tempo-Ansatz wird nun also benötigt den politischen Druck weiter aufrecht halten zu können, um weitere bevölkerungspolitische Reformen in Deutschland durchzusetzen zu können. Durch zu viele  Babyboom-Medienberichte könnten nämlich weiteren geplanten Reformen mehr Widerstand entgegengesetzt werden.

Wie steht es nun aber um die behauptete Trendwende? Das MPIDR verwendete den Tempo-Ansatz zur Vorausberechnung, d.h. der Anstieg könnte also tatsächlich einen Anstieg des Geburtenniveaus in den jüngeren Geburtsjahrgängen bedeuten. Aber einzig die endgültige Kinderzahl pro Frau (CFR) kann das letztendlich wirklich belegen. Politik braucht jedoch heute und nicht erst morgen Zahlen, um Handeln zu rechtfertigen. Der Tempo-Ansatz verspricht zumindest  realitätsnähere Ergebnisse. Der Geburtsjahrgang 1975 wird im Jahr 2025 das Ende der Gebärfähigkeit erreichen (so wie es gegenwärtig definiert wird!). Die Politik wird sich ihre Erfolge früher zurechnen wollen, woraus sich der Bedarf an politischen Zahlen ergibt.

Man sollte die Demografen an ihren eigenen Prognosen messen, was zum Abschluss getan wird.

Im Jahr 2008 hat sich single-generation.de den Mythen und Fakten des Geburtenrückgangs gewidmet. Damals wurden auch die Fehleinschätzungen zur Geburtenentwicklung in Ostdeutschland betrachtet. Ralf ULRICH & Rainer MÜNZ haben im Heft 4/1993-94 der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft für Ostdeutschland eine Prognose bis zum Jahr 2010 errechnet, die in der nachfolgenden Tabelle mit der tatsächlichen Entwicklung verglichen wird.

Jahr tatsächliche Entwicklung TFR (Ost) Vorausschätzung
(Variante 1-3)
1990 1,52  
1991 0,98  
1992 0,83  
1993 0,77  
1994 0,77  
1995 0,84  
1996 0,95  
1997 1,04  
1998 1,09  
1999 1,15  
2000 1,21 unter 0,95 (V 1)
0,95 (V 3)
1,1 (V2)
2010 1,46 1,35 (V 1) -1,4 (V 2)

Es zeigt sich, dass das Szenario der Angleichung mit Geburtenausfall von Ostdeutschland übertroffen wurde. Der Osten hat die Angleichung 2007 erreicht und liegt seitdem bei der TFR über dem Westniveau ( Geburtenraten 2001-2009 siehe hier).

Betrachtet man die Geburtenraten der west- und ostdeutschen Geburtsjahrgänge (CFT), dann hatten die ostdeutschen Geburtsjahrgänge sogar schon 2005 höhere Geburtenraten, wie die Tabelle 1 von KONIETZKA & KREYENFELD (2007, S.4) zeigt.

Im Fall Ostdeutschland hat der Indikator TFR gewaltig in die Irre geführt.

BINDE, Nico (2011): "Das Klima für Frauen stimmt in Hamburg".
Mehr Geburten je 1000 Einwohner als anderswo in Deutschland: die Soziologin Birgit Pfau-Effinger über objektive Fakten und subjektive Stimmung,
in: Hamburger Abendblatt v. 08.10.

KRETSCHMER-HAHN, Rabea (2012): Kinderlosigkeit in Deutschland. Zum Verhältnis von Fertilität und Sozialstruktur, VS Verlag für Sozialwissenschaften

 
     
 
       
     
       
   

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Update: 20. Januar 2019