2011
TUTT,
Cordula (2011): Wohlstandskinder.
Geburten:
Paare in Deutschland schieben ihren Kinderwunsch nicht länger
auf. Eine Trendwende kommt langsam in Sicht,
in: Wirtschaftswoche Nr.1/2 v. 10.01.
Cordula TUTT stilisiert die
Dresdnerinnen zu
Pionierinnen des deutschen Babybooms. Mit Hans BERTRAM und
Michaela KREYENFELD hat sie zudem zwei Experten gefunden,
die
im Gegensatz zum bundesrepublikanischen Mainstream dem
Elterngeld eine langfristig geburtenfördernde Wirkung
zuschreiben.
DORBRITZ, Jürgen (2011):
Kinderzahlen bei Frauen mit und ohne Migrationshintergrund im
Kontext von Lebensformen und Bildung,
in: Bevölkerungsforschung aktuell v. 26.01.
Der
Bevölkerungswissenschaftler Jürgen DORBRITZ hat den
Zusammenhang zwischen Kinderzahl, Lebensform,
Bildungsabschluss bei Frauen mit/ohne Migrationshintergrund
anhand des Mikrozensus 2008 untersucht. Ärgerlich ist dabei, dass
nicht die Geburtsjahrgänge 1960 - 1964 im Mittelpunkt standen,
bei denen auch die Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen das
44. Lebensjahr erreicht haben. Stattdessen werden die
Generation Golf-Geburtsjahrgänge 1965 - 1969 betrachtet,
die insbesondere wenn sie eine Hochschule besucht haben, immer
noch Kinder bekommen können. Dies gilt insbesondere für die
1968 und 1969 Geborenen
CHRISTMANN Karin (2011): Alles Hedonistinnen.
Kinderlosigkeit: Eine neue Front im
Demografiekonflikt verläuft mitten durchs heimische Doppelbett: Männer
wünschen sich häufiger Kinder als Frauen. Als Verbündeter bleibt der
kinderlosen Frau nur einer - ihr Chef,
in:
Tagesspiegel v. 15.02.
Karin CHRISTMANN macht
mittels einer FORSA-Umfrage im Auftrag von zwei Eltern-Zeitschriften
Stimmung gegen angeblich "unwillige" kinderlose Frauen:
"70
Prozent der kinderlosen Männer zwischen 25 und 45 wünschen
sich demnach Nachwuchs – aber nur 61 Prozent der Frauen.
Neun Prozentpunkte verschenkten Kinderwunsches, was ließe
sich daraus an Rentenbeiträgen generieren. Wenn nur die
Frauen willig wären.
Dabei lief die
Diskussion doch eigentlich andersherum. Von einem
Zeugungsstreik sprach im Jahr 2005 die Autorin Meike
Dinklage und eröffnete damit eine neue Runde im
Schwarze-Peter-Spiel rund um die Geburtenrate in
Deutschland."
Wie sehen aber die
Ergebnisse zum Kinderwunsch der Kinderlosen tatsächlich aus?
Wie kommt CHRISTMANN auf
die Differenz von 9 Prozent mehr unwillige Frauen als Männer?
Nimmt man die
Nein-Antworten (eher nicht/auf keinen Fall) als Beleg, dann
wünschen sich 19 % der Männer und 24 % der Frauen kein Kind
(Differenz 5 %).
Auf die Differenz von 9 %
kommt man auch nicht, wenn man die 4 % Männer und 10 % Frauen,
die aus medizinischen Gründen keine Kinder haben können (34 %
Frauen und 23 % Männer - Differenz 11 %) hinzu zählen würde.
Dann kommt man weder auf die Zahl 61 % Kinderwunsch der Frauen
(sondern 66 %), und auch nicht auf die 70 % Männer, sondern
auf 77 %. Wenn man hinzu nimmt, dass
Männer sich seltener als Frauen Gedanken über Zeugungs- bzw.
Gebärfähigkeit machen, also die Dunkelziffer der
Zeugungsunfähigkeit bei Männern größer ist, dann würden sich
die Zahlen verschieben. Wobei es natürlich unredlich wäre, die
medizinisch bedingte Kinderlosigkeit als Beleg für die
Zeugungsstreikthese zu werten.
Wie sieht es aus, wenn man
die Antwort weiß nicht als Nein wertet? Dann käme man auf
einen Männeranteil von 24 % gegenüber 27 % Frauen. Passt also
ebenfalls nicht. Also kommen doch wieder die unfreiwillig
Kinderlosen (medizinische Gründe) hinzu, dann käme man auf 28
% Männer und 37 % Frauen. Dann wäre man also bei der 9 %
Differenz aber es fehlen sowohl 2 % bei den Frauen als auch
bei den Männern. Das sind jene Kinderlosen, bei denen das Kind
bereits unterwegs sind.
Fazit: auf die Zahlen
von CHRISTMANN kommt man nur, wenn man zu den Kinderlosen, die
keine Kinder wollen nur jene zählt, bei denen erstens noch
kein Kind unterwegs ist (je 2 %); zweitens jene, die eher
keine wollen (1 % Differenz zugunsten Männer); drittens jene,
die auf keinen Fall Kinder wollen (6 % der Frauen sind hier
entschiedener); viertens jene, die es nicht wissen (2 % der
Männer sind unentschiedener als die Frauen) und man muss
fünftens auch noch jene Kinderlosen hinzuzählen, die aus
medizinischen Gründen keine Kinder bekommen können (6 % mehr
Frauen als Männer, die davon wissen; kein Beleg im Sinne der
Zeugungsstreikthese). Übersichtlich in Tabellenform:
"unwillige"
Kinderlose? |
Männer |
Frauen |
Differenz |
Kind unterwegs |
2 % |
2 % |
0 |
wollen eher keine
Kinder |
14 % |
13 % |
- 1 % |
wollen auf keinen
Fall Kinder |
5 % |
11 % |
+ 6 % |
wissen es nicht |
5 % |
3 % |
- 2 % |
medizinische Gründe
|
4 % |
10 % |
+ 6 % |
Gesamt |
30 % |
39 % |
9 % |
Die Aussagen von CHRISTMANN
bezüglich der Unwilligkeit von Frauen können sich nicht redlich
auf die FORSA-Umfrage stützen, sondern sind als böswillige
Auslegung zu betrachten.
Das größte Manko der Umfrage
besteht jedoch darin, dass weder beim Altersgruppenvergleich, noch
beim Bildungsabschluss und auch nicht beim Ost-West-Vergleich bei
der Kinderwunsch-Befragung nach dem Geschlecht unterschieden wird.
Für eine seriöse Studie wäre das die Grundvoraussetzung für eine
Beurteilung. Schließlich bezog sich die Zeugungsstreikthese auf
den Kinderwunsch von Akademikern, während der Unterschicht (bzw.
Transferempfängern) ja zu hohe Fruchtbarkeit unterstellt wird.
LENGERER, Andrea (2011): Partnerlosigkeit in Deutschland:
Entwicklung und soziale Unterschiede, VS Verlag für
Sozialwissenschaften
ECKHARD, Jan (2011): Partnerschaftswandel und Geburtenrückgang,
Berlin: Suhrkamp
LOCKE, Stefan (2011): Kinder, Kinder.
Dresden
ist die geburtenstärkste Stadt im Land. Ein Fotograf
dokumentiert seit zwei Jahren das kleine Wunder in seiner
Heimat,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v.
20.03.
Ist Dresden
tatsächlich die geburtenstärkste Stadt im Land?
"So viele Kinder,
Kinderwagen und schwangere Frauen begegnen einem in kaum
einer anderen deutschen Stadt; in nackten Zahlen
ausgedrückt, waren es 5609 Babys, die hier 2009 das Licht
der Welt erblickten. In der Statistik entspricht das 10,9
Kindern je 1000 Einwohner - und hat gereicht, den
bisherigen Spitzenreiter München (10,8) zu entthronen",
berichtet Stefan
LOCKE. Bei den Zahlen handelt es sich lediglich um
rohe
Geburtenziffern, d.h. die Zahlen werden durch die
unterschiedliche Einwohnerstruktur von Städten verfälscht.
Städte mit wenigen jungen Menschen unter 15 Jahren, also
gerade jene mit in den vergangenen Jahren geringen
Geburtenzahlen haben gegenüber Städten mit in den
vergangenen 15 Jahren höheren Geburtenzahlen bessere Chancen
zur geburtenstärksten Stadt zu avancieren. In die rohen
Geburtenziffern gehen eben nicht nur die gebärfähigen Frauen
der 15-45Jährigen ein, sondern auch diejenigen, die keine
Kinder gebären können, d.h. zu junge und zu alte Frauen.
Dies führt dazu, dass Städte mit einer hohen Einwohnerzahl
der 15-45Jährigen ein besseres Verhältnis von Geburten je
1000 Einwohner erreichen können, als Städte, die relativ
viele Kinder und alte Menschen aufweisen.
Die Dresdner Neustadt,
bundesweit bekannt geworden durch Uwe TELLKAMPs Buch Der
Turm soll gemäß LOCKE der geburtenreichste Stadtteil in
ganz Europa sein, aber auch hier gilt wie für den Prenzlauer
Berg in Berlin, dass solche Aussagen eher unter
aufmerksamkeitsökonomischen Aspekten und im Hinblick auf
eine "symbolische Gentrifizierung" relevant sind als unter
demografischen Gesichtspunkten.
So wie ab den 1990er
Jahren die
Single-Rhetorik den
Familialismus stärken sollte, so wird inzwischen die
Familien-Ästhetik zelebriert. Der mediale Baby-Boom soll den
tatsächlichen Baby-Boom miterzeugen.
Bereits im Jahr 2005
prognostizierte single-generation.de in einer Kritik
des Buches Die Emanzipationsfalle der Journalistin
Susanne GASCHKE, dass
Studieren
mit Kind bald kein Exotenfach mehr sein wird und die
Doppelkarriere-Familie die Stadt erobern werden. Beides
ist in Dresden und anderen Dienstleistungszentren geschehen.
"Auch die
Universität hat auf den Baby-Boom reagiert und zwei Kitas
mit 230 Plätzen sowie eine Kurzzeitbetreuung, das
»Campusnest«, eingerichtet, in der Studenten ihre Kinder
für ein oder zwei Vorlesungen abgeben können. Das kostet
maximal sechs Euro, und das Angebot platzt aus allen
Nähten, denn 3000 der 40.000 Dresdner Studenten sind
Eltern, drei Prozent mehr als im Bundesdurchschnitt."
Sachsen gehörte
bereits in der Weimarer Republik zu den Bundesländern mit
dem größten Geburtenrückgang. Wilhelm HARTNACKE erschrieb
sich mit seinem Buch Bildungswahn - Volkstod (1932)
das Ministeramt für Volkserziehung. Fast 80 Jahre später ist
das Thema mit Deutschland schafft sich ab von Thilo
SARRAZIN wieder virulent. Die Frage ist: schafft Deutschland
diesmal die Wende oder gewinnen die Nationalkonservativen
wieder die Oberhand? Die berufstätige Karrieremutter ist in
Deutschland ein neues Phänomen, denn der Nationalsozialismus
sah in ihr noch eine Bedrohung. Wird sie in Zukunft das
Mutterbild in Deutschland bestimmen oder behalten
Nationalkonservative wie Tilman MAYER, Präsident der
Deutschen Gesellschaft für Demographie, Recht, die
Deutschland demografisch am Abgrund sehen und das Heil nur
in einer massiven Demografiepolitik sehen, die vor allem
gegen Kinderlose gerichtet ist?
WEIGUNY, Bettina
(2011): Ja.
FAS-Kontroverse: Soll das
Elterngeld wieder abgeschafft werden?:
Geld
zeugt keine Kinder,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v.
22.05.
NIENHAUS, Lisa
(2011): Nein.
FAS-Kontroverse: Soll das
Elterngeld wieder abgeschafft werden?:
Geld
fördert Frauenkarrieren,
in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v.
22.05.
Es ist noch kein halbes Jahr her, da war für den
Wirtschaftsteil der FAS klar, dass das Elterngeld
seine Wirkung verfehlt hat. Bettina WEIGUNY bleibt bei ihrer
These vom Mitnahmeeffekt bei Akademikerpaaren und neidet
ansonsten den jüngeren Familien ihr Elterngeld. Ansonsten
behauptet sie anhand des Verweises auf die gleich gebliebene
gesamtdeutsche Geburtenrate, dass die Wirkung des
Elterngeldes, gemessen an der Geburtenrate der
Akademikerinnen, ausgeblieben sei. Ihre 10 Jahre jüngere
Kollegin Lisa NIENHAUS behauptet dagegen:
"Der Anteil der Frauen
und Männer, die mehr als 1500 Euro Elterngeld bekamen, die
also vor der Geburt gut verdient haben, ist zwischen 2008
und 2010 gewachsen: von 6,7 auf 9,5 Prozent."
Müssen diese Gutverdiener
aber Akademiker sein? Das wird suggeriert, aber nicht
belegt. Auf die gleiche Weise behaupten ja Gunnar HEINSOHN
und Thilo SARRAZIN das Gegenteil, nur dass sie mit
denjenigen Elterngeld-Empfängern argumentieren, die den
Mindestsatz erhalten: alles faule geldgierige
Sozialhilfemütter.
Festzuhalten ist: sowohl
die Gegner als auch die Befürworter des Elterngeldes können
derzeit ihre Standpunkte nicht belegen, weil die Daten dazu
fehlen. Erst nächstes Jahr wird mit dem Mikrozensus 2012
erneut die Zahl der Geburten in Deutschland richtig erfasst.
Danach wird man abschätzen können, welche Veränderungen es
bei den Geburtenzahlen von Akademikerinnen zwischen 2008 und
2012 gegeben hat.
Klar ist aber auch: die
Zensusergebnisse werden auch zu einer Revidierung der
Geburtenrate führen, denn diese Zahl ist abhängig von der
Bevölkerung. Wird festgestellt, dass es in Deutschland
bereits heute 1 Million weniger Bürger gibt, dann bedeutet
dies, dass sich die Geburtenrate erhöht, wenn davon Frauen
im gebärfähigen Alter betroffen sind, aber auch die rohe
Geburtenziffer, die gerne von Nachrichtenmagazinen im
Ländervergleich benutzt werden, ändert sich. Die
Auswirkungen werden sich voraussichtlich nur hinter dem
Komma bemerkbar machen, aber selbst in diesem Bereich wird
ja in Deutschland heftig gestritten.
DORBRITZ, Jürgen (2011): Dimensionen der
Kinderlosigkeit in Deutschland,
in: Bevölkerungsforschung
Aktuell Nr.3, Juni
Der Artikel von Jürgen DORBRITZ ist, was die Erforschung der
Kinderlosigkeit betrifft, wenig erhellend, zeigt aber
unmissverständlich die politische Stoßrichtung des Autors:
"Soll es eine Trendwende
in der deutschen Geburtenentwicklung geben, kann sie nur
durch einen rückläufigen Anteil bei der Kinderlosigkeit
erreicht werden."
Was insbesondere
Feministinnen auf die Palme bringen wird, ist die Behauptung,
dass
"insbesondere
Vollerwerbstätigkeit ein die Kinderlosigkeit verursachender
Faktor"
ist. Bislang galt die
Erhöhung der Vollerwerbstätigkeit von Frauen als ein zentrales
Mittel zur Bewältigung des anstehenden demografischen Wandels.
Eine Politik, die nach Mütter- statt Frauenquoten für die
Chefetagen ruft, erhält durch DORBRITZs Interpretation
Aufwind.
In der
Hausfrauenecke dieser Republik war diese Trendwende bei
DORBRITZ bereits vor längerem erkannt worden.
Man kann davon ausgehen,
dass das Thema Kinderlosigkeit also bald wieder stärker auf
der politischen Agenda stehen wird.
SCHAREIN, Manfred G. (2011):
Der demografische Schluss: Kinderlose Akademikerinnen 0.3 - Wo war
das Problem?
in: Bevölkerungsforschung
Aktuell Nr.3, Juni
Manfred G. SCHAREIN gibt
zu, was auf single-dasein.de und
single-generation.de bereits Anfang des Jahrtausends
kritisiert wurde, dass der Anteil der spät gebärenden
Akademikerinnen bei der Berechnung der Kinderlosigkeit nicht
ausreichend berücksichtigt wurde (eine Zusammenfassung
hier):
"lange
Jahre,
bis etwa 2005 (galt), die Betrachtung von Frauen im
Alter von 35 bis 39 Jahren als gut für die Schätzung der
Kinderlosigkeit von Akademikerinnen geeignet.
(...).
In der
Nachlese zeigt sich aber bei einem anhaltenden Trend der
Frauen, immer später im Leben die Kinder zu bekommen, dass
dieses Altersintervall wohl ab einem Zeitpunkt um 1990
bereits nicht mehr adäquat zur Schätzung der
Kinderlosigkeit von Frauen nach ihrem höchsten
Berufsabschluss war und somit zu einem (deutlich) zu hohen
Wert dafür führte."
Das
ganze
Ausmaß des Desasters in Sachen Erforschung der
Kinderlosenanteile in Deutschland wird wohl erst in den
nächsten Jahrzehnten wirklich sichtbar werden, denn das
Institut für Bevölkerungsforschung und die politischen
Institutionen blockieren weiterhin Erkenntnisfortschritte.
Es kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund politischer
Interessen (Durchsetzung einer rigiden Politik gegen
Kinderlose) Klarheit gar nicht erwünscht ist.
Es könnte ja heraus kommen, dass die Probleme ganz woanders
liegen!
DESTATIS (2011): 2010 - Mehr Geburten, Sterbefälle und
Eheschließungen,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden
v. 17.06.
"Im Jahr 2010 sind in
Deutschland 678 000 Kinder lebend geboren worden. Dies
teilt das Statistische Bundesamt (Destatis) nach
vorläufigen Ergebnissen mit. Gegenüber dem Vorjahr
entspricht dies einer Zunahme von 13 000 Kindern oder 1,9%
– allerdings war 2009 auch das Jahr mit der bisher
niedrigsten Anzahl Geborener", heißt es in der kurzen
Pressemitteilung
HERRMANN, Sabrina (2011): Pluralisierung von Leitbildern - die
Lebensentwürfe junger Singles. In:
Kornelia Hahn & Cornelia Koppetsch (Hrsg): Soziologie des
Privaten, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften,
S.227 - 251
DESTATIS (2011): Leichter Rückgang der Bevölkerung in
Deutschland im Jahr 2010,
in: Pressemitteilung Statistisches Bundesamt Wiesbaden
v. 12.07.
"Im Jahr 2010 wurden
nach vorläufigen Ergebnissen 678 000 Kinder geboren, das
waren 13 000 mehr als im Vorjahr. Die Zahl der Sterbefälle
nahm 2010 um 4 000 auf 859 000 weiter zu. Im Jahr 2010
verstarben somit 181 000 Menschen mehr als geboren wurden.
Da die Zahl der Geburten stärker gestiegen ist als die
Zahl der Sterbefälle, fiel das Geburtendefizit gegenüber
dem Vorjahr (– 189 000) um 8 000 Personen geringer aus",
meldet das Statistische Bundesamt.
EUROSTAT (2010):
EU27 Bevölkerung von 502,5 Millionen am 1. Januar 2011.
Europäische
Demografie: Mehr als 5 Millionen Geburten in der EU27 im Jahr
2010,
in: Pressemitteilung Europäisches Statistikamt v. 28.07.
ÖCHSNER, Thomas (2011): Absage an die Familie.
Ein
Überblick,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 04.08.
Gute Nachrichten sind
schlechte Nachrichten, weshalb die deutschen Zeitungen die
Meldung des Statistischen
Bundesamtes vom 12. Juli, wonach 2010 in Deutschland
mehr Kinder geboren wurden, ignoriert haben.
Stattdessen wurden Zahlen
über die Zunahme von Alleinlebenden zum Schreckgespenst
aufgeblasen, mitunter auch mit falschen Zahlen wie der Bericht
In Köln 50 Prozent Single-Haushalte in der
Kölner Rundschau vom 30.07.2011 zeigt.
Und heute wird gar eine
Pressekonferenz veranstaltet, die man besser nächstes Jahr
abgehalten hätte, denn die jetzt bekannt gegebenen Zahlen
verzerren lediglich die Situation in Deutschland.
Haushaltszahlen sind nicht in der Lage die
Geburtenentwicklung richtig zu beschreiben, wie der
Mikrozensus 2008 gezeigt hatte, bei dem erstmals die
Geburten von Frauen korrekt erfasst wurden. Warum wartet man
also nicht bis 2012? Offenbar ist der Politik im Wahljahr an
Hysterie und nicht an Information gelegen.
Das Familienministerium
hat bezeichnenderweise eine
eigene Pressemeldung zum Thema Rückgang der Kinderzahl in
Deutschland zeigt: Nachhaltige Familienpolitik ist wichtig herausgegeben, die die
Zahlen relativieren:
"Trotz der geringen
Kinderzahl bewegt sich die Geburtenrate in Deutschland mit
1,36 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter seit einigen
Jahren auf stabilem Niveau. Im Osten erreicht die
Geburtenrate mit 1,40 sogar den höchsten Wert seit der
Wiedervereinigung. Laut dem Allensbach Monitor
Familienleben sind 2010 die Kinderwünsche in Deutschland
wieder deutlich gestiegen."
Auch wenn das
Familienministerium ihre eigene Politik verkaufen möchte.
Dass Zeitungen bewusst einseitig skandalisieren, statt zu
informieren ist auch dem Auflagenschwund zuzuschreiben. Dass
dies den schlechten Ruf der Presse verbessert, darf
bezweifelt werden
SAUERBREY, Anna (2011):
Kinder, Kinder.
Bevölkerungsstatistik,
in: Tagesspiegel v. 04.08.
MEISNER, Matthias (2011):
Deutschland, keine Kinder.
Statistisches
Bundesamt: Drastischer Rückgang vor allem in den neuen Ländern.
Jeder sechste Minderjährige von Armut bedroht ,
in: Tagesspiegel v. 04.08.
SCHULZE, Katrin (2011): Geburtenrekord in Berlin: Der Trend
geht zum Stadtkind.
Berlin
verzeichnet im Gegensatz zu anderen Ländern einen
Geburtenrekord. Die meisten Babys kommen in
Friedrichshain-Kreuzberg zur Welt,
in:
Tagesspiegel v.
05.08.
Eine Pressekonferenz des
Statistischen Bundesamtes, das mit einem wenig
aussagekräftigen Begleitmaterial mit dem Titel Wie leben
Kinder in Deutschland? daherkommt, hat unter den
Journalisten, bekanntlich die kinderärmste soziale Gruppe
der Deutschen, eine regelrechte Hysterie ausgelöst.
In der taz schwadroniert Deniz YÜCEL über den
Raum ohne Volk. Die Überschrift entstammt - gänzlich
unoriginell - einem Bestsellertitel.
In der Welt behaupten Dorothea SIEMS & Miriam
HOLLSTEIN zu wissen, warum in Deutschland ein Babyboom
ausbleibt. In der Wahl der Experten ist man dabei nicht
wählerisch, sondern klar tendenziös. Da wird ein Experte
eines Institut für Demografie, Allgemeinwohl und Familie
zitiert. Institut klingt nach Wissenschaft und Allgemeinwohl
sagt schon alles. Es handelt sich jedoch nur um einen
nationalkonservativen Verein, der sich mit einem
wissenschaftlichen Mitarbeiter schmückt. Als Geschäftsführer
firmiert ein familienfundamentalistischer Katholik. Daneben
wird der nationalkonservative Ökonom Hans-Werner SINN mit
dem Beitrag
Das demographische Defizit zitiert, ein Pamphlet,
das 2003 erschien, um im Rahmen der Agenda 2010 die private
Altersvorsorge salonfähig zu machen. Angeblich sei diese der
Rentenversicherung überlegen. Seit den fortwährenden
Finanzkrisen hat diese Sichtweise jedoch an Glaubwürdigkeit
verloren. Einzig die Banken gewinnen bekanntlich dabei
immer.
Was Welt und
taz eint: Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes
werden nicht kritisch gesichtet, sondern unreflektiert
übernommen, weil sie den jeweiligen Kommentatoren gut ins
eigene Denkschema passen. Es mag aber auch daran liegen,
dass statistischer Sachverstand im Journalismus Mangelware
ist.
DESTATIS (2011): Durchschnittliche Kinderzahl je Frau steigt
2010 auf 1,39,
in:
Pressemeldung
Statistischen Bundesamt Wiesbaden v. 18.08.
"Die durchschnittliche
Kinderzahl je Frau betrug im Jahr 2010 in Deutschland 1,39.
Damit lag die zusammengefasste Geburtenziffer nach Angaben des
Statistischen Bundesamts (Destatis) etwas höher als 2009
(1,36) und ähnlich hoch wie 2008 (1,38). Einen höheren Wert
hatte sie zuletzt im Jahr 1990 mit 1,45.
2010 kamen insgesamt
rund 678 000 Kinder lebend zur Welt, etwa 13 000 mehr als
2009. Die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter (zwischen 15
und 49 Jahren) war von 18,7 Millionen (2009) auf 18,4
Millionen im Jahr 2010 zurückgegangen.
Die Zunahme bei den
Geburten von 2009 auf 2010 fiel bei den Geburten von zweiten
und dritten Kindern stärker aus als bei den Geburten erster
Kinder.
Im Westen Deutschlands
stieg die durchschnittliche Kinderzahl von 1,35 im Jahr 2009
auf 1,39 im Jahr 2010. Im Osten Deutschlands nahm die
durchschnittliche Kinderzahl ebenfalls zu und lag im Jahr 2010
bei 1,46 (2009: 1,40). Auch hier war sie zuletzt 1990 höher
gewesen, anschließend stark abgefallen und dann allmählich
wieder angestiegen. Dabei verschob sich das Alter, in dem
Frauen ihre Kinder bekommen, deutlich. 1990 war in den neuen
Ländern relativ gesehen die höchste durchschnittliche
Kinderzahl für 23-jährige Frauen ausgewiesen worden, 2010
dagegen für die 30-jährigen", meldet das Statistische
Bundesamt.
Hysterie herrscht in
Deutschland immer dann, wenn neue Meldungen zu den Geburten
vorliegen. Erst vor 2 Wochen
hat das Statistische Bundesamt eine Pressekonferenz
veranstaltet, um wenig aussagekräftige Zahlen vorzulegen.
Jetzt also die zusammengefasste Geburtenziffer, deren
Aussagekraft im Grunde nur im Zusammenhang mit dem
durchschnittlichen Gebäralter betrachtet werden darf, denn
steigende bzw. fallende Gebäralter verzerren das Gesamtbild.
Die
Welt Online behauptet fälschlicherweise, dass
Deutschland Schlusslicht bei den Geburtenzahlen sei. Die
taz sieht das genauso. Jedoch wird nicht die
Geburtenrate 2010 verglichen, sondern die
rohen
Geburtenziffern des Jahres 2010. In diese Ziffern
fließen jedoch auch die Frauen ein, die gar nicht gebärfähig
sind.
"Auf je 1.000
Einwohner kommen nur noch 8,3 Geburten – auch das der
geringste Wert in Europa",
schreibt YÜCZEL
anlässlich der EUROSTAT-Pressemeldung
Ende Juli. 2009 lag die Zahl,
die als "Bruttogeburtenziffer" bezeichnet wird, bei 8,1.
Axel WERMELSKIRCHEN schreibt dagegen
auf faz.net: "In Europa liegt Deutschland (...)
auf den hinteren Rängen."
Die Hysterie um die
Geburtenzahlen hat in erster Linie mit dem Streit um die
richtige Familienpolitik zu tun. So warnt z.B.
die FR angesichts des positiven Trends, die
"Hände in den Schoß zu legen".
Welchen Einfluss hat
das Elterngeld oder der Ausbau der Kinderbetreuung auf die
Geburtenentwicklung? Aus den Zahlen wird gerne das
herausgelesen, was zur eigenen Meinung passt.
In der SZ behauptet z.B. Corinna NOHN, dass das
Elterngeld nicht wirkt. Kathrin SPOERR behauptet in der
Welt Online genau das Gegenteil.
Was aber, wenn die
Geburtenentwicklung nicht Ausdruck eines einheitlichen
Trends ist, sondern die Konsequenz gegenläufiger
Entwicklungen? Jürgen DORBRITZ vom Bundesinstitut für
Bevölkerungsforschung hebt
im Tagesspiegel einzig auf unterschiedliche
Trends in Ost- und Westdeutschland ab, als ob in den beiden
Landesteilen die Interessenlage homogen wäre. Allein die
Tatsache, dass seit Jahren die Geburtenzahlen in den
citynahen Wohngebieten der Großstädte zunehmen, deutet
darauf hin, dass berufstätige Mütter zunehmend mehr Kinder
bekommen. Die allgemeine Geburtenrate ist auch wenig
aussagekräftig, wenn es um bestimmte Milieus geht.
HORDYCH, Harald (2011): Das junge Glück.
Frühe
Schwangerschaften: Frauen schieben das Kinderkriegen oft
hinaus - bis es zu spät ist. In Sachen Lebensplanung können
sie viel von Müttern unter 20 lernen. Zwei Geschichten von
jungen Frauen, die eine frühe Mutterschaft stark gemacht hat,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 27.08.
Späte Mutterschaft
gilt in Zeiten des Bevölkerungsrückgangs als
bevölkerungspolitisches Problem. Tatsächlich ist es jedoch
die Konsequenz eines unsicheren Arbeitsmarktes und einer
Politik für die Baby-Boomer, die der Jugend eine jahrelange
Warteschleifeexistenz im Bildungssystem (euphemistisch als
Postadoleszenz bezeichnet) bescherte.
"Wenn deutsche
Frauen heutzutage ihr erstes Kind bekommen, sind sie im
Durchschnitt 30 Jahre alt. Fast jede fünfte Frau ist älter
als 35. Und selbst diejenigen, die gar zum ersten Mal mit
über 40 Mutterfreuden entgegensehen, sind keine Minderheit
mehr",
behauptet HORDYCH.
Fakt ist jedoch: Mütter, die ihr erstes Kind mit über 40
bekommen, finden sich hauptsächlich unter
Frauen, die im Wissenschaftsbetrieb unterhalb einer sicheren
Existenz als Professorin arbeiten. Dies ist - entgegen
HORDYCHs Behauptung - eine klitzekleine Minderheit.
Aufgrund der
normativen
amtlichen Geburtenstatistik konnte bis zum Mikrozensus
2009 das Alter bei der Erstgeburt lediglich geschätzt
werden, weil nur die Geburtenreihenfolge in einer Ehe
erfasst wurde. Angesichts einer hohen Zahl lediger und
geschiedener Mütter in Deutschland war das ein skandalöser
Zustand. Gemäß einer
Pressemeldung des Statistischen Bundesamtes vom 2.
Dezember 2010 wurde das inzwischen geändert:
"Durch eine
Anpassung des Bevölkerungsstatistikgesetzes ist für das
Jahr 2009 erstmals die Nachweisung der sogenannten
biologischen Geburtenfolge unabhängig vom Familienstand
der Mutter möglich. Bis zum Jahr 2008 lagen Angaben über
das Alter der Frau bei der ersten Geburt nur in der
aktuell bestehenden Ehe vor."
KREYENFELD, Michaela (2011): 1,6 Kinder pro Frau.
Das Max-Planck-Institut für
demografische Forschung legt erstmals korrigierte
Geburtenraten vor. Sie liegen deutlich über den amtlichen
Ziffern. Die Wissenschaftler erwarten eine Trendumkehr im
deutschen Geburtenverhalten,
in:
Pressemitteilung des Max-Planck-Institut für demografische
Forschung v. 02.09.
BERTH, Felix (2011): Möhrenbrei und Latte macchiato.
Junge Frauen bekommen wieder mehr Kinder,
in: Süddeutsche Zeitung v. 05.09.
Felix BERTH berichtet auf der Titelseite über eine
Pressemeldung des Max-Planck-Institut für demografische
Forschung vom 2. September. Demnach bekommen die Frauen um
den Geburtsjahrgang 1970 wieder mehr Kinder. Das sind jene
Jahrgänge, über die Joachim LOTTMANN im Jahr 2004 den Poproman
Die Jugend von heute verfasst hat. Damals wurde die
Front im Demografiekrieg von den 1965 geborenen Frauen auf
die in den 1970ern geborenen Frauen verlegt. Was das Max
Planck-Institut für demografische Forschung nun belegt, das
ist nichts anderes als das, was single-generation.de
bereits im Jahr 2005 gegen die Interpreten des
Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung einwandte:
"HULLEN hat für die ab 1970
geborenen Frauen eine signifikant niedrigere Geburtenneigung
nachgewiesen, eine Tatsache, die sich im steigenden
Erstgebäralter ausdrückt.
Die
Frage ist also, ob die nach 1970 geborenen Frauen ihre
Geburten im späteren Alter nachholen, denn HULLEN konnte
keinen direkten Zusammenhang zwischen Erstgebäralter (Tempo)
und Geburtenhäufigkeit (Quantum) feststellen."
Bislang hat das
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung auf solche
Berechnungen des Max-Planck-Instituts für demografische
Forschung mit Dementis reagiert. Bei der Geburtenentwicklung in den neuen Bundesländern musste das
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung jedoch seine
Einschätzungen wegen Unhaltbarkeit revidieren. Das könnte bald
auch auf anderen Feldern der Geburtenentwicklung der Fall
sein.
LUY,
Marc (2010): Tempo-Effekte und ihre Bedeutung für die
demografische Analyse,
in: Comparative Population Studies,
Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3
(15.09.2011)
LUY,
Marc & Olga PÖTZSCH (2010): Schätzung der tempobereinigten
Geburtenziffer für West- und Ostdeutschland, 1955 - 2008,
in: Comparative Population Studies,
Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3
(15.09.2011)
Die
normative,
ehezentrierte amtliche Statistik verhinderte bis zum
Jahr 2009 die korrekte Zuordnung von Geburten zu Frauen.
Ohne eine solche Zuordnung konnten für Deutschland keine
tempobereinigten Geburtenziffern ermittelt werden:
"Für die Berechnung
der tempobereinigten TFR* sind die Geburtenzahlen nach
einzelnen Paritäten erforderlich. Für das vereinigte
Deutschland und das frühere Bundesgebiet lagen solche
Angaben aufgrund der gesetzlichen Regelungen bis 2009
nicht vor. Vor 2009 wurde die Parität ausschließlich bei
Geburten von verheirateten Müttern erfasst, wobei sich die
Ordnungszahl (auch als Geburtenfolge bezeichnet) allein
auf die Kinder der Frau aus der gegenwärtigen Ehe bezog
(einschließlich vorehelicher Kinder mit dem aktuellen
Ehemann). Die vorehelichen Kinder mit anderen Vätern als
dem jetzigen Ehemann der Mutter sowie Kinder aus früheren
Ehen wurden hierbei nicht berücksichtigt. Erst nach der
Ergänzung des Bevölkerungsstatistikgesetzes (BGBl 2007)
war für das Jahr 2009 erstmals ein deutschlandweiter
Nachweis der sogenannten biologischen Geburtenfolge
unabhängig vom Familienstand der Mutter möglich (siehe
Statistisches Bundesamt 2010)."
LUY & PÖTZSCH haben
diese Datenlücken nun für die Jahre 1955 - 2008 durch
Schätzungen aufgrund anderweitiger Daten aufgefüllt.
Bislang
fehlte hierzu der politische Wille, doch mittlerweile
wird die klassische Berechnung zum Hemmnis
für weitere bevölkerungspolitisch motivierte Reformen.
Deshalb wird diese Debatte erst jetzt geführt, obwohl diese
Debatte international bereits seit 1998 geführt wird.
Ein Beispiel für den
fehlenden politischen Willen gefällig?
Im Jahr 2001 veröffentlichte der Bevölkerungsstatistiker
Ron LESTHAEGHE für die westdeutschen Frauen folgende
endgültigen (und vorläufige) Kinderzahlen:
"Betrachte
man - anders als die deutsche Statistik - nicht nur die
aktuelle Geburtenentwicklung pro Jahr, sondern das
jeweilige Verhalten von Frauen-Altersgruppen (so genannten
'Kohorten'), so werde deutlich, dass der Geburtenrückgang
langfristig weniger dramatisch sein dürfte. Die Frauen der
Jahrgänge 1957 bis 1961 etwa hätten zwar viel später mit
dem Kinderkriegen angefangen als ihre Vorgängerinnen, aber
dann aufgeholt: Die Geburtenrate ihrer Altersgruppe liegt
bei rund 1,6 Kindern pro Frau; verglichen mit 1,8 für die
Jahrgänge 1942-1946. Die heute 35- bis 40-Jährigen hätten
bereits jetzt eine Rate von 1,5 erreicht - obwohl sie sich
durchschnittlich noch länger Zeit gelassen hätten, bevor
das erste Baby kam."
Diese Zahlen stimmen
mit den kürzlich veröffentlichten
endgültigen und tempo-bereinigten Kinderzahlen des
Max-Planck-Institut für demografische Forschung (MPIDR)
überein.
Die Zahlen wurden im
Nachgang zu einem Bundesverfassungsurteil zur
Pflegeversicherung veröffentlicht.
Das Urteil vom 3. April 2001 begründete die geforderten
Änderungen neben dem Anstieg der Kinderlosigkeit
hauptsächlich
mit der
durchschnittlichen Kinderzahl (TFR) folgendermaßen:
"In Deutschland ist
seit Mitte der sechziger Jahre die Zahl der
Lebendgeborenen je Frau von 2,49 in rascher Folge auf
mittlerweile 1,3 gesunken. In den meisten der
wirtschaftlich entwickelten Länder hat der Effekt
beobachtet werden können, dass mit steigendem
Lebensstandard und steigendem Pro-Kopf-Einkommen die
Geburtenrate zum Teil erheblich unter 2,0 sinkt. Es ist -
wie auch der Sachverständige dargelegt hat - nichts dafür
ersichtlich, dass sich die für diese Entwicklung
verantwortlichen Rahmenbedingungen alsbald grundlegend
wandeln. Ein sprunghafter Anstieg der Geburtenrate ist
nicht zu erwarten"
Alle damaligen
Presseveröffentlichungen im Vorfeld des Urteils und zur
Debatte um das
Pflegeurteil - außer dem Interview mit Ron LESTHAEGHE -
argumentierten mit der durchschnittlichen Kinderzahl von
1,3.
Bis heute hat kein
einziger Frauengeburtsjahrgang eine endgültige Kinderzahl
von 1,3 erreicht, sondern sie liegen bis zum Jahrgang 1961
bei 1,6. Jene Geburtsjahrgänge, die in den nächsten Jahren
ihre endgültigen Kinderzahl erreichen werden, liegen
allesamt über 1,5 - immer noch weit entfernt von 1,3. Der
Trend bei den endgültigen Kinderzahlen weist jedoch immer
noch nach unten. Solange dies der Fall ist, lässt sich das
Gegenteil nicht sicher beweisen.
Was aber, wenn die
durchschnittliche Kinderzahl (gemessen als TFR) nun in den
nächsten Jahren sprunghaft nach oben weist? Bereits ein Wert
von 1,5 würde die Bevölkerungswissenschaftler in
Erklärungsnot bringen. Ein Wert von 1,6 war Anfang des
Jahrtausends - zu Zeiten der
Agenda
2010-Debatte - völlig undenkbar. Was, wenn die TFR
diesen Wert übersteigt?
Dass nun auch in
Deutschland die Debatte um tempobereinigte Geburtenziffern
beginnt, ist also der Staatsraison geschuldet, und nicht
etwa der Tatsache, dass es vorher nicht möglich gewesen
wäre. Nein: einzig der politische Wille fehlte!
FEENEY,
Griffith (2010): Tempo-Effekte in der Mortalität: ein
Wegweiser für Skeptiker,
in: Comparative Population Studies,
Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3
(15.09.2011)
SOBOTKA,
Tomáš &
Wolfgang LUTZ
(2010): Wie Politik durch falsche Interpretationen der
konventionellen Perioden-TFR in die Irre geführt wird: Sollten
wir aufhören, diesen Indikator zu publizieren?
in: Comparative Population Studies,
Themenheft: Tempoeffekte in demografischen Periodenmaßen, Heft 3
(15.09.2011)
Tomáš SOBOTKA &
Wolfgang LUTZ befassen sich mit den Unzulänglichkeiten des
Indikators der durchschnittlichen Kinderzahl (TFR),
die bislang die politische Debatte um den demografischen
Wandel dominierte. Anhand von 4 Beispielen zeigen sie die
Problematik auf:
1) die vermutete Kluft
zwischen gewünschter und realisierter Kinderzahl
2) der aktuelle Anstieg der TFR in Europa
3) die Kinderzahl von Migrantinnen im Vergleich zu den
Einheimischen
4) der Zusammenhang zwischen Familienpolitik und
TFR-Änderungen
Letzter Punkt ist
besonders interessant, denn in der Debatte um das Elterngeld
dominierte lange Zeit Schweden als Musterland (inzwischen
hat Frankreich diese Rolle für andere Reformvorhaben
übernommen). Der schwedische "Babyboom" infolge des
Elterngeldes galt bisweilen als Rechtfertigungsgrund für die
Einführung des Elterngeldes auch in Deutschland. SOBOTKA &
LUTZ weisen darauf hin, dass der dortige Anstieg der TFR
weniger eine Änderung im Geburtenausmaß (Quantum), sondern
vor allem eine Änderung im Timing (Vorziehen von Geburten)
und Geburtenabstand (zweite und dritte Kinder folgen in
einem kürzeren Abstand auf das erste Kind) bewirkt hat.
SOBOTKA & LUTZ sehen
für Deutschland deshalb die Gefahr, dass
die TFR einen Babyboom (Änderung des Quantums) vorgaukeln
könnte, obwohl es sich nur um das Vorziehen von Geburten
handelt (Tempoeffekt).
PUSCHNER, Sebastian (2011): "Viele Länder sind uns demografisch
auf den Fersen."
Im Gespräch: Die deutsche Angst
vor dem Aussterben hat Tradition, sagt der Demografieforscher
Ralf Ulrich. Zuwanderung allein kann das Problem nicht mehr
lösen,
in: Freitag Nr.39 v. 29.09.
Drei Wellen der
Beschäftigung mit dem Geburtenrückgang sieht der
Bevölkerungswissenschaftler Ralf E. ULRICH in den letzten 100
Jahren. Single-generation.de hat im Jahr 2008
Drei Wellen der Generation Kinderlos in hundert Jahren
beschrieben.
Bereits am 5.
September hat single-generation.de Dementis zur
Trendwende bezüglich der Geburtenrate erwartet. Nun kommt ein
Dementi von ULRICH, das nur scheinbar stichhaltig ist:
"»Deutsche
Frauen bekommen wieder mehr Kinder«, berichteten die
Medien Anfang des Monats.
ULRICH: Da wurden Forschungsergebnisse offenbar
missverstanden. Frauen in Deutschland bekommen Kinder heute
biografisch später als vor zehn oder 30 Jahren. Man kann die
Kinderzahl so kalkulieren, dass der Effekt dieser Verschiebung
herausgerechnet wird und kommt dann auf 1,6 Kinder pro Frau,
statt der vom Statistischen Bundesamt ausgewiesenen 1,4. Aber
der Vergleich der beiden Zahlen liefert keine Aussage über
einen Anstieg."
Tatsächlich gibt es zwei
klassische Methoden, die Geburtenrate zu ermitteln: zum einen die
durchschnittliche Kinderzahl (TFR) aller gebärfähigen Frauen
zu einem bestimmten Zeitpunkt oder die Geburtenrate eines oder
mehrerer Geburtsjahrgänge (CFR). Beide Methoden werden zur
Ermittlung eines Anstiegs/Rückgangs der Geburtenrate
genutzt.
Fakt ist: Die endgültige
Kinderzahl für den westdeutschen Geburtsjahrgang 1962 liegt bei 1,56 (KREYENFELD
2011). Dieser Geburtsjahrgang liegt also bereits definitiv
über der hypothetischen TFR von 1,4. Das kann nicht einmal
Herr ULRICH bestreiten. Der westdeutsche Jahrgang 1961 erreichte noch eine
endgültige Kinderzahl von 1,6, d.h. die Kinderzahl pro
gebärfähiger Frau hat vom Geburtsjahrgang 1962 auf 1961 um
0,04 abgenommen.
Bald lässt sich auch für
den prominenten Geburtsjahrgang 1965 die endgültige Kinderzahl
pro Frau ermitteln. Sie wird mit Sicherheit über 1,5 liegen.
Nach CFT-Berechnungen von Olga PÖTZSCH liegen seit dem Jahr
2008 alle in den 1960er Jahren geborenen west- und
ostdeutschen Frauenjahrgänge über dem Wert von 1,4, obwohl sie
das Ende der Gebärfähigkeit noch nicht erreicht haben (CPOS
Heft 1/2010, S.183). Aber darum geht es bei der
obigen Frage nach dem Anstieg gar nicht!
Worum geht es aber dann?
ULRICHs Aussage, dass der Vergleich der beiden Zahlen 1,4 und
1,6 keine Aussage über einen Anstieg liefert, ist eine Finte.
Das hat ja das Max-Planck-Institut für demografische Forschung
(MPIDR) in dem obigen Zusammenhang gar nicht behauptet. Das
Argument des MPIDR ist nämlich zweiteilig:
Es wird erstens behauptet,
dass die Zahlen der zusammengefassten Geburtenziffer (TFR) das
tatsächliche Geburtenniveau unterschätzt. Das hat aber nichts
mit der behaupteten Trendwende beim Kinderkriegen zu tun, wie
ULRICH suggeriert.
Der Anstieg wird vom MPIDR
dagegen - zweitens - aus dem Vergleich jüngerer und älterer
Geburtsjahrgänge gewonnen, wie das nachfolgende Schaubild
beweist, das der Pressemeldung vom 2. September entnommen ist.
Bis zum Geburtsjahrgang
1961 handelt es sich um die Berechnung der endgültigen
Kinderzahl (CFR). Für die Geburtsjahrgänge nach 1961, die ihre
endgültige Kinderzahl noch nicht erreicht haben, wird die
Geburtenrate nach einer "tempobereinigten Geburtenziffer"
ermittelt. Dies ist eine Berechnungsmethode die
realitätsnähere Ergebnisse verspricht. 1998 brachten John BONGAARTS & Griffith FEENEY den so genannten
Tempo-Ansatz in die demografische Debatte ein.
Das
aktuelle Heft der Comparative Population Studies,
das vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung
herausgegeben wird, widmet sich diesem Ansatz. In Deutschland
führte das bevölkerungspolitische Datendesaster dazu, dass
dieser Ansatz nicht angewandt werden konnte. Erst seit 2009
werden auch in Deutschland die notwendigen Daten erhoben.
Vorher verhinderte dies die
normative, eheorientierte amtliche Statistik.
Der Statistiker Gerd BOSBACH spricht in seinem Buch Lügen
mit Zahlen in diesem Zusammenhang auch von politischen
Zahlen.
Wenn jemand wie ULRICH auf
eine Frage antwortet, die gar nicht gestellt
wurde, dann verbergen sich dahinter politische Strategien und
Interessen, die verschleiert werden sollen.
Warum
wird der Tempo-Ansatz in Deutschland erst jetzt angewandt,
obwohl er international bereits seit über 10 Jahren diskutiert
und erprobt wird?
Für Deutschland gilt: Der
Tempo-Ansatz hätte vorher dazu geführt, dass europäische
"Musterländer" in der demografischen Debatte nicht als Vorbild
hätten fungieren können, weil deren angeblicher Babyboom
teilweise oder ganz auf einem veränderten Gebäralter bzw.
Geburtenabstand beruhen.
Nun aber könnte die bislang
verwendete zusammengefasste Geburtenziffer (TFR) dagegen einen
Babyboom vorgaukeln, den es nicht gibt. In dem
programmatischen Aufsatz Wie Politik durch falsche
Interpretationen der konventionellen Perioden-TFR in die Irre
geführt wird: Sollten wir aufhören, diesen Indikator zu
publizieren? von Tomas SOBOTKA & Wolfgang LUTZ heißt es:
"»Tempo-orientierte
politische Maßnahmen« mit dem Ziel der Stimulation eines
früheren Geburtentimings, um die Anzahl der Geburten zu
steigern, ohne dass sich dies zwangsläufig auf die realisierte
Fertilität auswirkt, stellen hingegen ein legitimes und
potenziell nützliches Ziel dar (...). Diese politischen
Maßnahmen stellen in der Tat einen Ausnahmefall dar, in dem
die TFR ein nützlicher Indikator hinsichtlich ihrer
Auswirkungen sein könnte" (2010, S.685f.)
Oder anders ausgedrückt:
Die TFR diente bislang dazu den notwendigen Druck aufzubauen,
um familienpolitische Reformen wie höherer Pflegebeitrag für
Kinderlose, Elterngeld usw. als alternativlos erscheinen zu
lassen. Nun aber könnte die TFR
auch in Deutschland zunehmend kontraproduktiv werden:
"Seit dem Ende der 1990er
Jahre haben viele europäische Länder einen deutlichen Anstieg
der konventionellen Perioden-TFR verzeichnet. (...) Dies wurde
allgemein als erfreuliches Zeichen für den dringend
notwendigen Umschwung des bisherigen, langanhaltenden
Trends sinkender periodenspezifischer Geburtenziffern
interpretiert, der dafür gesorgt hatte, dass die TFR in vielen
europäischen Ländern auf ein »Rekordtief« von 1,3 oder weniger
gefallen war (Kohler et al. 2002). Einige Regierungen haben
diesen Trend voller Stolz auf ihre politischen Maßnahmen
zurückgeführt und eine der führenden deutschen Zeitungen, Die
Zeit, kommentierte einen minimalen Anstieg der Anzahl der
Geburten im Jahr 2007 mit dem freudigen Ausruf
»Politik funktioniert!« (Gaschke 2009). Eine alternative
Erklärung liefert jedoch einen anderen Blick auf den
kürzlichen Anstieg der Perioden-TFR. Es ist möglich, dass der
jüngste Anstieg dieser Maßzahl in europäischen Ländern zu
einem großen Teil einer Verlangsamung oder der Beendigung des
Aufschiebens von Geburten zuzuschreiben ist (Goldstein et al.
2009, Bongaarts/Sobotka 2010)."
Der Tempo-Ansatz wird nun
also benötigt den politischen Druck weiter aufrecht halten zu
können, um weitere bevölkerungspolitische Reformen in
Deutschland durchzusetzen zu können. Durch zu viele
Babyboom-Medienberichte könnten nämlich weiteren geplanten
Reformen mehr Widerstand entgegengesetzt werden.
Wie steht es nun aber um
die behauptete Trendwende? Das MPIDR verwendete den
Tempo-Ansatz zur Vorausberechnung, d.h. der Anstieg könnte
also tatsächlich einen Anstieg des Geburtenniveaus in den
jüngeren Geburtsjahrgängen bedeuten. Aber einzig die
endgültige Kinderzahl pro Frau (CFR) kann das letztendlich
wirklich belegen. Politik braucht jedoch heute und nicht erst
morgen Zahlen, um Handeln zu rechtfertigen. Der Tempo-Ansatz
verspricht zumindest realitätsnähere Ergebnisse. Der
Geburtsjahrgang 1975 wird im Jahr 2025 das Ende der
Gebärfähigkeit erreichen (so wie es gegenwärtig definiert
wird!). Die Politik wird sich ihre Erfolge früher zurechnen
wollen, woraus sich der Bedarf an politischen Zahlen ergibt.
Man sollte die Demografen
an ihren eigenen Prognosen messen, was zum Abschluss getan
wird.
Im Jahr 2008 hat sich
single-generation.de den Mythen und Fakten des
Geburtenrückgangs gewidmet. Damals wurden auch die
Fehleinschätzungen zur Geburtenentwicklung in Ostdeutschland
betrachtet. Ralf ULRICH & Rainer MÜNZ haben im Heft 4/1993-94
der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft für
Ostdeutschland eine Prognose bis zum Jahr 2010 errechnet, die
in der nachfolgenden Tabelle mit der tatsächlichen Entwicklung
verglichen wird.
Jahr |
tatsächliche Entwicklung TFR (Ost) |
Vorausschätzung
(Variante
1-3) |
1990 |
1,52 |
|
1991 |
0,98 |
|
1992 |
0,83 |
|
1993 |
0,77 |
|
1994 |
0,77 |
|
1995 |
0,84 |
|
1996 |
0,95 |
|
1997 |
1,04 |
|
1998 |
1,09 |
|
1999 |
1,15 |
|
2000 |
1,21 |
unter 0,95 (V 1)
0,95
(V 3)
1,1 (V2) |
2010 |
1,46 |
1,35 (V 1) -1,4 (V 2) |
Es zeigt sich, dass das
Szenario der Angleichung mit Geburtenausfall von
Ostdeutschland übertroffen wurde. Der Osten hat die
Angleichung 2007 erreicht und liegt seitdem bei der TFR über
dem Westniveau ( Geburtenraten 2001-2009 siehe
hier).
Betrachtet man die
Geburtenraten der west- und ostdeutschen Geburtsjahrgänge (CFT),
dann hatten die ostdeutschen Geburtsjahrgänge sogar schon 2005
höhere Geburtenraten, wie die Tabelle 1 von
KONIETZKA & KREYENFELD (2007, S.4) zeigt.
Im Fall Ostdeutschland hat
der Indikator TFR gewaltig in die Irre geführt.
BINDE, Nico
(2011): "Das Klima für Frauen stimmt in Hamburg".
Mehr
Geburten je 1000 Einwohner als anderswo in Deutschland: die
Soziologin Birgit Pfau-Effinger über objektive Fakten und
subjektive Stimmung,
in: Hamburger Abendblatt v. 08.10.
KRETSCHMER-HAHN, Rabea (2012): Kinderlosigkeit in Deutschland.
Zum Verhältnis von Fertilität und Sozialstruktur, VS Verlag
für Sozialwissenschaften