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Das neue Zeitalter des Post-Hip
Achtung:
jetzt folgt die Umwertung der Werte! Die
Hipster-Geschichtsschreibung der Hipster muss umgeschrieben
werden. Das übernimmt LEHNARTZ für uns, indem er einen Epochenbruch
behauptet, den er auf die 1970er
Jahre datiert. Seitdem ist in dieser Sichtweise Jugend ein
Dauerzustand und Dagegensein wird von den Gegnern
akzeptiert. Jugend ist ab diesem Zeitpunkt Mainstream, ergo
unhip. Also befinden wir uns nun im Zeitalter des Post-Hip.
Das hat damals nur noch keiner so richtig mitgekriegt.
1983
erscheint in der Zeitschrift Soziale Welt (dem
Zentralorgan der Individualisierungstheoretiker) der Artikel
Jugendliche Statuspassage oder individualisierte
Jugendbiographie von Werner FUCHS. Darin schreibt er:
Jugendliche Statuspassage oder individuelle
Jugendbiographie
"Stärker
als frühere Jugendliche fassen Jugendliche heute ihre
Lebensführung als gegenwärtig begründete Existenzform auf,
nicht nur - oder gar überhaupt nicht - als Vorbereitung aufs
spätere Erwachsensein. Und zunehmend empfehlen
Sozialwissenschaftler und Pädagogen den Erwachsenen, die Ziele
und Lebensentwürfe von Jugendlichen nicht an der Elle der
eigenen zu messen, sondern deren eigenen Sinn verstehend (und
akzeptierend) aufzunehmen."
(1983, S.341) |
Werner
FUCHS-HEINRITZ belegt anhand der Shell-Jugendstudie '81
die Freisetzung der Jugend aus dem traditionellen
Lebenszyklus
. Die
Verlängerung der Schul- bzw. Ausbildungszeiten, eigenes
Geld, Medienzugang und neue Möglichkeiten der Mobilität sowie
die sexuelle Revolution haben für den Jugendforscher neue
Ausgänge aus dem Elternhaus geschaffen. FUCHS-HEINRITZ
hat damit die Entstehung der
Single-Generation
beschrieben. LEHNARTZ
sichtet in seinem Buch die Generationenliteratur, die seit den
1980er Jahren erschienen ist. Er deutet diese als
Symptom einer Identitäts- bzw. Erkenntnis-Krise der
Altersstufengesellschaft. Es
würde hier zu weit führen, alle Generationenbücher
aufzulisten, die LEHNARTZ betrachtet hat. In unserer
Einführung in die Generationendebatte haben wir die
Generationen-Literatur weitgehend aufgeführt
.
Ausgiebig
widmet sich LEHNARTZ der Single-Generation, die bei ihm als
78er-Generation bezeichnet wird. Diesen Begriff hat
Reinhard MOHR in seinem Buch Zaungäste eingeführt.
Es
handelt sich dabei um die gegenkulturelle Elite, die
weitgehend in den neuen sozialen Bewegungen sozialisiert
worden ist. Die
ganze Generationen-Literatur ist Geschichtsschreibung von
Eliten und Gegeneliten. Normalos sind LEHNARTZ & Co. total
egal. Seine
Einsichten in die Mentalität der 78er hat LEHNARTZ aus Büchern
wie Aufstand im Schlaraffenland von Matthias HORX oder
Die Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden von
KOCH/HEINZEN.
Diese
Mentalität des Dagegenseins der Generation Dissens
wurde auf unserer Website bereits im Jahr 2001 im Beitrag
Die glücklichen Singles ganz im Stile eines Manifestes von
Modernisierungsverlierern auf den Punkt gebracht
. Für LEHNARTZ begründet das Polit-Hipstertum dieser
Generation einen Mythos. Die
gegenwärtige Spaßgesellschaft ist für ihn ein Folgeschaden der Politik in der ersten Person:
Global Players
"Daß diese
Generation trotz des ganzen Gelabers auch noch tollen Sex
gehabt haben will, ist unglaubwürdig.
Die fatalen Spätfolgen dieser permanenten
Offenbarungsbereitschaft im Zeichen des »Du, ich find', wir
sollten mal drüber reden...« sind heute im Privatfernsehen zu
besichtigen. Erst die angewandte Vulgär-Psychologie aus der
WG-Küche hat der Trash-Talkshow den Weg geebnet und Leuten das
Vokabular geliefert, die früher glücklicherweise oft einfach
schwiegen."
(2005, S.193) |
LEHNARTZ
kritisiert, dass die 78er den Gestaltungsanspruch aufgegeben
haben, den die 68er wenigstens noch beansprucht haben. Merkwürdigerweise
findet sich diese Argumentationsfigur, dem Gegner unpolitisches
Verhalten vorzuwerfen und sich im gleichen Atemzug die einzig
wahre Politik zuzuschreiben, jedoch bei jeder
Generationen-Elite, die
sich gegen Vorgänger- und Nachfolgergenerationen durchsetzen
möchte. Inzwischen sind
jedenfalls die 78er (in unserer Sicht die Single-Generation) gerade dabei sich in
den Machtzentren dieser Gesellschaft bequem einzurichten und
die Generation Golf rückt in deren Windschatten auf
die Startposition. Ganz
klar, LEHNARTZ reicht diese Poleposition nicht. Er möchte für
diese Generation die Macht erobern. Er befindet sich also in
der Warteschleife. Das ungeduldige Lebensgefühl der
Ohnmacht, das damit verbunden ist und zur inflationären
Produktion von Generationenbüchern führt, beschreibt er
folgendermaßen:
Global Players
"Weil wir
weder politisch noch moralisch, noch ästhetisch wissen, wie es
weitergehen soll, flüchten wir uns gelegentlich ganz gern in
vorzeitige Melancholie. Deshalb gibt es all diese
Generationenbücher. Ein Generationenbuch ist der Versuch,
drängende Zukunftsfragen für nicht ganz so drängend zu
erklären und ihnen durch Flucht in die Vergangenheit
auszuweichen. Wenn nichts mehr sicher ist, bleibt nur noch
das, was wir einmal hatten, als gemeinsamkeitsstiftend übrig.
(...).
Weil es irgendwie nicht nach vorne ging, als sie so um die
dreißig waren, flüchteten sich Horx und Mohr in die Siebziger, Illies in die Achtziger und
Kullmann in die Neunziger."
(2005, S.218) |
Der neue Spießer-Chic der Neocons
Für
LEHNARTZ ist die Generation Golf bislang beim Versuch
gescheitert ihre Lebensweise als hip zu inszenieren:
Global Players
"Die
Generation Golf war ein zeitweilig nicht ganz wirkungsloser
Versuch, den Square endlich mal zum Hipster auszurufen, ein
Versuch, der jene, die sich immer für hip hielten, durchaus an
empfindlicher Stelle traf. Seitdem fürchten sie sich ein bißchen vor den Neokons."
(2005, S.201) |
LEHNARTZ
sieht den Spießer-Chic durch die Systemkritik der
nachfolgenden globalisierungskritischen Generation @
bedroht. Das Buch zielt deshalb auch auf die Abwehr dieser
Gefährdung. Robert MISIK beschreibt in dem Buch Genial
dagegen die popkulturelle Attraktivität solcher
Positionen, die LEHNARTZ ein Dorn im Auge sind
.
Die Neocons und das Stalingrad der
deutschen Spießer-Kritik
LEHNARTZ
hat manchmal einen Hang zu markigen Worten, aber dahinter
verbirgt sich meist ein Körnchen Wahrheit. Mit
dem Stalingrad der deutschen Spießer-Kritik meint er die
Wiedervereinigung. Auf unserer Website wird etwas
ähnliches behauptet, nämlich dass die Wiedervereinigung Ulrich
BECKs Individualisierungsprosa zum Durchbruch verholfen hat.
Die Single-Rhetorik ist seit Anfang der 1990er Jahre in
aller Munde.
Rede von Ulrich Beck auf dem Deutschen
Soziologentag 1990
"Da gibt es schockierende Entwicklungen:
(...) Zunahme der Einpersonenhaushalte im Quadrat,
alleinerziehende, alleinnachziehende, alleinherumirrende
Elternteile.
(...).
Ich bin sicher, daß auch dann, wenn 70 % der Haushalte in
Großstädten Einpersonenhaushalte sind (und das ist nicht
mehr lange hin), unsere tapfere Familiensoziologie mit
Millionen Daten beweisen wird, daß diese 70 % nur deshalb
allein leben, weil sie vorher und nachher in Kleinfamilien
leben."
[mehr]
(aus: Ulrich Beck "Der Konflikt der zwei Modernen",
1991) |
In
der unveröffentlichten Magisterarbeit von Bernd Kittlaus
über Das Single-Dasein wurde der Wandel des
Wertewandels und seine Auswirkungen auf das Single-Image
bereits beschrieben, lange bevor Lifestyle-Soziologen wie
Stefan HRADIL dies öffentlich verkündeten
.
Auf
dieser Website reagierten wir deshalb im Jahr 2003 mit einer
Replik unter dem Motto Guten Morgen, Herr Soziologe, auch
schon aufgewacht!
Wir
hatten bereits bei Erscheinen von Michel HOUELLEBECQs
Romanen Ausweitung der Kampfzone und
Elementarteilchen die Bedeutung der Literatur erkannt und
beschrieben. Damals war Literatursoziologie ein Desiderat von
Exoten.
Ausweitung der Kampfzone
"In
einem Wirtschaftssystem, in dem Entlassungen verboten
sind, findet ein jeder recht oder schlecht seinen Platz.
In einem sexuellen System, in dem Ehebruch verboten ist,
findet jeder recht oder schlecht seinen Bettgenossen. In
einem völlig liberalen Wirtschaftssystem häufen einige
wenige beträchtliche Reichtümer an; andere verkommen in
der Arbeitslosigkeit und im Elend. In einem völlig
liberalen Sexualsystem haben einige ein
abwechslungsreiches und erregendes Sexualleben; andere
sind auf Masturbation und Einsamkeit beschränkt. Der
Wirtschaftsliberalismus ist die erweiterte Kampfzone, das
heißt, er gilt für alle Altersstufen und
Gesellschaftsklassen. Ebenso bedeutet der sexuelle
Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone, ihre Ausdehnung
auf alle Altersstufen und Gesellschaftsklassen."
[mehr] |
Der
Sozialstrukturforscher HRADIL sieht die Popliteratur
inzwischen als Seismograf, der gesellschaftliche
Wandlungen bereits Ausdruck verleiht, bevor sie sich mit der
quantitativen Sozialforschung à la HRADIL sicher nachweisen
lässt.
Wir
haben schon vor Jahren (mitten im New Economy Boom) ein Buch
im Stile von Sascha LEHNARTZ vorausgesehen. Damals
war noch die allein lebende Karrierefrau und nicht der
männliche Loser-Single das zentrale Thema der
zeitgeistigen Medienberichterstattung. Mittlerweile ist die
bekennntnishafte Vollidiot-Literatur zumindest eingeführt
und relativiert die Sicht auf das Alleinleben im mittleren
Lebensalter. Inzwischen
dient Michel HOUELLEBECQ als Referenz für die
Historisierung. Auch LEHNARTZ kann sich das nicht
verkneifen, wenn er in seiner Geschichte des Hipstertums
schreibt:
Global Players
"Das Ende
aller Coolness, das Ende des Hipsterseins ist das Ende der
Jugend, die als Ende des Sexlebens erfahren wird. Und dieses
Ende ist für den Hipster schlimmer als der Tod. Der Hipster
wird zum Zombie seines Triebs: »Das ist der Horror des
Hipsters, geschlagen zu werden, denn auch wenn das Süße des
Sexes ihn verlassen hat, kann er die Suche doch nicht
aufgeben. « Damit hat Mailer die ausgeweitete Kampfzone des
sexuellen Konkurrenzkampfes knapp fünfzig Jahre vor
Houellebecq relativ präzise umrissen."
(2005, S.109) |
Seit Michel
HOUELLEBECQ die literarische Bühne betreten hat, muss in
Deutschland die Literaturgeschichte neu geschrieben werden.
Auch die Geschichte des Hip ist nun neu geschrieben worden. Wenn
wir schon mal dabei sind, dann rufen wir schon mal den
Schriftsteller Jochen SCHIMMANG als das "nächste große Ding"
aus.
Der schöne Vogel Phönix
"Vorgeschichte
und Geschichte der Studentenrevolte sind wesentlich
Leidensgeschichte (...), Geschichte unabgedeckter
Bedürfnisse, verelendender Individualisierung, Geschichte
der Artikulation dieser Individualisierung. Diese Faktoren
zählen zu den Bedingungen der Studentenbewegung als
Massenbewegung mit antiautoritärem Charakter, hoch
ausgebildeter Spontaneität (deren Voraussetzung
Leidensfähigkeit ist), vergleichsweise stark ausgeprägtem
demokratischem Charakter. Ihre besondere Verfaßtheit als
Revolte von Intellektuellen ermöglichte permanente
Diskussion und hohe Öffentlichkeit als Charakteristika.
Leidensfähigkeit und reales Leiden ermöglichten es den
Studenten auch, auf der anderen Seite die Kategorie
»Glück« als gesellschaftlich-politische Zielkategorie zu
begreifen und auf der Möglichkeit von nicht nur
individuellem Glück zu bestehen. (...) Berlin, den 6.
Oktober 1972.
(Die These aller Thesen. Leiden macht rebellisch. Die
Rebellion zielt auf das, was allen vorenthalten ist: ein
Glück, das mehr als nur privat und zufällig und nicht vom
Unglück der anderen gemacht ist.)
Ich
lehnte mich zurück. Das war doch ein Anfang, und außerdem
war es die Rettung vor der völligen Zerfaserung des Tages.
(...). Ich lehnte mich wieder zurück, rauchte eine
Zigarette, schloß die Augen.
»...die
Kategorie 'Glück' als gesellschaftlich-politische
Zielkategorie zu begreifen und auf der Möglichkeit von
nicht nur individuellem glück zu bestehen«: das wars. Alle
sollten glücklich sein, sogar Murnau. Fürs erste hätte ihm
ein nur individuelles Glück genügt, gewissermaßen
antizipatorisch.
Langsam
zerging die Befriedigung. Ich hatte etwas gearbeitet, gut.
Aber es kam noch immer niemand, und es war doch draußen
schon dunkel. Wo blieben die bloß? Ich ging auf den Flur,
griff nach der Rettung, nach dem Telefon, ich konnte keine
Minute mehr länger allein hier in der Wohnung sitzen mit
meinen seltsamen Vorstellungen von Glück, ich mußte jetzt
unbedingt mit jemandem ein Bier trinken gehen."
(Jochen Schimmang,
1979) |
Die
männlichen Single-Protagonisten dieses Autors verkörpern wie
keine anderen die Spätphase der Bonner Republik. Sie
sind paradigmatisch, wenn es darum geht den Wandel vom Hippie
zum Yuppie nachzuvollziehen. Keine Square-Geschichte
des Hipstertums ist vollständig, ohne diesen Schriftsteller,
merkt Euch das! Sicherlich,
dieser Autor ist kaum jemandem bekannt, was ja nichts anderes
heißt, als dass er noch zu entdecken ist. Was Wilhelm GENAZINO
(den kannte ja außer uns auch kaum jemand bis MRR ihn für den
Rest der Republik entdeckte) mit der Abschaffel-Trilogie
für die 1970er-Jahre ist, das ist Jochen SCHIMMANG für die 1980er
Jahre.
Abschaffel-Trilogie
"Als
GENAZINO die Abschaffel-Trilogie verfasste, da war der
Begriff »Single« für Alleinlebende noch nicht üblich und
das Alleinleben galt als durchweg defizitäre Lebensweise.
Heutzutage muss man die
Geschichte von Abschaffel als Geschichte eines
überängstlichen und sozial isolierten Alleinlebenden
lesen."
[mehr]
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In
der Literaturgeschichtsschreibung wird von Heribert HOVEN
bereits an einer diesbezüglichen Historisierung gearbeitet:
Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit
1945
"Der
schockierend distanzierte Tonfall, in dem Schimmang 1981 vom
Ende der Berührbarkeit erzählt, lässt bereits die
Kälte der Achtzigerjahre spüren. Als sein gefühlvoller
Protagonist von einer jungen Frau zurückgewiesen wird,
umgibt er sich mit einem emotionalen Panzer (...). Die
einsetzende Desillusionierung, thematisch Houellebecqs
»Elementarteilchen« vorwegnehmend, schärft indes das
Wahrnehmungsbewusstsein für das Einfache und nahe Liegende."
[mehr]
(Heribert Hoven, 2003,
S.1096) |
Die
infantile Gesellschaft und der demografische Wandel
Global Players
"Meinhard
Miegel bemerkte in seinem Bestseller
Die deformierte
Gesellschaft, daß eine Gesellschaft, die »einen
demographischen Umbruch in der sich abzeichnenden
Größenordnung nicht wahrhaben will«, sich mitunter wie eine
alternde Diva verhalte. Sie verdrängen, daß bald sehr alte
Menschen den Takt schlagen würden, ironischerweise eben jene,
die sich jetzt noch so jugendbeschwingt gäben. Gesund ist das
wahrscheinlich nicht, denn dabei heraus kommen mehr und mehr
auf jung machende Alte in einer ziemlich steuerlosen
Gemeinschaft."
(2005, S.35) |
LEHNARTZ
verfolgt diesen Strang der Argumentation nicht explizit weiter, aber
die vergreisende Gesellschaft bildet die Hintergrundfolie, die
dem Square zum Durchbruch verhelfen soll. LEHNARTZ
ist klug genug, nicht mit dem Vorschlaghammer zu arbeiten,
aber im Hintergrund Herwig BIRGt es gewaltig.
Der Nesthocker: Im Single-Haushalt bei
Vollpension und Rundumversorgung
Global Players
"Statt
Kinder in die Welt zu setzen, wie es sich gehört, bleiben
nominell Erwachsene selbst so lange wie möglich in ihrer
Kinderwelt sitzen. Im Extremfall ziehen sie gar nicht mehr von
zu Hause aus, weil sei keinen Job finden. Oder sie kehren
schleunigst zu Mama zurück, nachdem sie den ersten Job
verloren haben oder die Ehe gescheitert ist."
(2005, S.48f) |
LEHNARTZ
geißelt in seinem Buch das
Nesthockertum. Die
Debatten um dieses Phänomen wurden hier bereits ausführlich
dokumentiert und werden deshalb nicht nochmals
aufgerollt. In
diesem Zusammenhang müssen wir jedoch nochmals auf das Kapitel
Komplett verpeilt: Die 78er zurückkommen. Dort
vermissen wir Harald SCHMIDT, denn dort gehört er altersmäßig
hin. Auch
im Kapitel Wir sind schuld, in dem das Nesthockertum
als Phänomen der infantilen Gesellschaft abgehandelt wird,
fehlt SCHMIDT. Dabei hat er in seiner Focus-Kolumne vom
25.11.2002 die Nesthocker-Hymne par excellence
verfasst:
Nesthocker
"Dies ist
keineswegs negativ zu beurteilen! Unsere Städte sind voll von
egomanen Singles, die allein 160 Quadratmeter Wohnraum im
sanierten Altbau vernichten, während der Nesthocker sich
sozialverträglich in der Welt als ausgebauter Dachschräge
eingerichtet hat."
(Focus 25.11.2002) |
Wir können
es uns nur damit erklären, dass Harald SCHMIDT damit als
Ikone der Neo-Spießer einen gewissen Image-Schaden davon
tragen würde:
Global Players
"Es sind
zwei Arten von Jugendlichkeit, die den globalisierten Planeten
dominieren, eine manische und eine depressive.
Letztere entspricht der resignierten Haltung des Nesthockers,
der sich auch als Erwachsener entweder gleich heim zu Mutti
oder aber zumindest in die geborgenheitsspendende
Kindertraingsjacke flüchtet, weil ihm da draußen alles zu
schnell, zu unsicher und zu ungemütlich geworden ist. Die
Rettung vor der Hektik des Jetzt ist die Flucht in den
besinnlichen Retromodus, in dem die Geschmacksnoten und Klänge
der nie beendeten Kindheit
(...) jederzeit Trost für das wunde Herz bedeuten. Manisch dagegen erscheinen jene atemlos zappelnden
technoiden Computer-Kids, Netzwerk-Kinder mit den dicken
Daumen der SMS-Generation ,die jede technische Innovation
schon verinnerlicht haben, bevor sie auf dem Markt ist, weil
ihr unruhiger Geist es ist, der die Neuerungen hervorgebracht
hat."
(2005, S.68)
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Wir
jedenfalls bringen diese beiden Sichtweisen nicht so elegant
in Einklang wie Sascha LEHNARTZ. Vielleicht
liegt das daran, dass wir mit dem Begriff Infantilisierung
immer an Matthias HEINE denken müssen, der bei LEHNARTZ
ebenfalls bei den verpeilten 78ern hingehören müsste. Wir
haben in unserer Erwiderung auf HEINE mit dem Begriff
Infantilisten zum Ausdruck gebracht, dass bei gleicher
Oberflächenstruktur durchaus Differenzen in der Tiefenstruktur
eines Phänomens vorhanden sein können. Da sind wir
ausnahmsweise einmal ganz Hermeneutiker. Für
HEINE gilt das gleiche wie für SCHMIDT. Er ist für LEHNARTZ
eher eine Ikone der Neo-Spießer. Es lässt sich also
konstatieren, dass wir hier eine gewisse Stringenz vermissen.
Wir lasten dies jedoch großzügig dem kabarettistischen
Essayismus an, wie das LEHNARTZ vorgesehen hat.
Zur Kontroverse Familien contra Singles im Zusammenhang mit
dieser Square-Geschichte des Hipstertums werden wir zu
einem späteren Zeitpunkt zurück kommen, denn das würde selbst den Rahmen eines Rezensionsessays sprengen. LEHNARTZ
kann jedoch sicher sein, dass wir in Zukunft öfters auf die
Defizite in seiner Square-Geschichte des Hipstertums
zurück kommen werden.
Egoistisch sind immer die anderen
LEHNARTZ
kommt als neumittiger Gutmensch daher. Mit dem Single KANT im
Gepäck, werden uns kategorischer Imperativ und
kosmopolitisches Flair verkauft. Verpflichtung ist das Wort
der Stunde. Haltung statt Moden! LEHNARTZ versteht sein
Buch als griffige Version KANTschen Idealismus. Was
KANT zu seiner Zeit nicht auf die Reihe gebracht hat, das will
er nun mit seinem Werk nachholen. Nachholende Modernisierung
sozusagen. Deutschland soll endlich an Königsberg genesen. Damit
ist LEHNARTZ zweifellos ein popkultureller Adept von Ulrich
BECK, der mit seiner Individualisierungsprosa den Terror
der Individualisierungsthese ausübt
.
LEHNARTZ
ist sich der Schwere seiner Aufgabe durchaus bewusst, aber
schließlich wächst man an der Größe seiner Aufgaben:
Global Players
"Wir nehmen
alles hin. Niemand wagt mehr ein moralisches Argument. Niemand
möchte als »moralinsauer« gelten, sich dem Verdacht aussetzen,
er habe die »Ironie« nicht verstanden. Auch wenn da gar keine
war."
(2005)
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Unser
einsamer Rufer im Weinberg der Popmoderne geht natürlich
subtil vor, schließlich hat er sich anständig von Peter HAHNEs
grobschlächtiger Kritik an der Spaßgesellschaft abgegrenzt
(damit er nicht ganz so einsam bleibt, hat er auch gleich noch
etliche Arbeitsaufträge an andere sich berufen fühlende
Square-Intellektuellen
erteilt. Wir sind jedoch sicher, er würde auch selber noch
eine Ethik der Spaßgesellschaft schreiben, wenn es sonst niemand
tut!) LEHNARTZ
bezichtigt HAHNE vorsorglich als Ausgeburt der
Spaßgesellschaft, deren Symptome das Leitmedium Bild
(früher angeblich Spiegel), White-Trash-Talkshows,
Trendforschung, Lifestyle-Magazine und virtuelle Ironie sind.
Man fragt sich eigentlich nur. Was würde LEHNARTZ machen, wenn
es das alles nicht gäbe? Sein ganzes schönes Vokabular wäre
von heute auf morgen nutzlos! Implizit
heißt sein Plädoyer Rettet die Familie! Das hat jedoch
bereits Joachim BESSING geschrieben. Und der gilt in der
anvisierten Zielgruppe von LEHNARTZ noch als etwas unhip
.
Also hält er sich mit allzu konkreten Aussagen zum
Familienbild zurück. Der Fall KIRCHHOF ist uns ja noch in
Erinnerung. Wir
können jedoch davon ausgehen, dass LEHNARTZ ein
klammheimlicher Sympathisant eines Zurück zur Familie
ist. Man liegt sicherlich nicht falsch, wenn man ihn in die
Nähe von Paul NOLTE ("Generation
Reform") rückt.
NOLTE
und seine schwarz-grüne Generation Reform sehen ja
zumindest für die Eliten einen gewissen Spielraum vor, während
dem Normalo statt Selbstverwirklichung die
Zwangsindividualisierung im Schoße der Familie
(Eigenverantwortung, Subsidiarität, Niedriglohnsektor sind
hier die Stichworte) verordnet werden soll
. Nicht
dass er allzu offen anti-feministisch argumentiert, aber das Zentralorgan des modernen Antifeminismus, die
Zeitschrift Merkur ist ein wichtiger Ideengeber dieser
neuen Bekenntnisliteratur. Dort veröffentlichen schon seit
Jahren die Vordenker der Berliner Republik wie Heinz
BUDE oder Paul NOLTE. Zudem
ist es das Zentralorgan jener, die der 68er-Bewegung in den
1970er Jahren gerade noch rechtzeitig den Rücken gekehrt haben
und seitdem an einer erfolgreichen Neupositionierung arbeiten,
die einerseits 68 als wirtschaftsliberale Modernisierung
weiterdenken und andererseits neokonservative Akzente setzen.
Hierzu gehören Journalisten wie Mariam & Jörg LAU,
Schriftsteller wie Stephan WACKWITZ, der gerade den Romanessay
Neue Menschen veröffentlicht hat, und Wissenschaftler
wie Rainer PARIS
.
Eine
intellektuelle Zentralfigur dieses elitären Zirkels ist der
Publizist Michael RUTSCHKY, der in der Sicht von LEHNARTZ
jedoch noch als beratungsresistent gelten dürfte. Diese
Art des Denkens mündet zwangsläufig in eine neue
Klassengesellschaft, der dann jene Mittel verordnet
werden, die sie gar nicht bräuchte, wenn man diesen Denkern
nicht gefolgt wäre. Sie schaffen sozusagen jenen Bedarf, den
sie dann selber decken wollen. Die Unterschichten und ihre
mediale Verdummung in der Spaßgesellschaft ist ein solches
Thema.
Fazit: Storytelling im Zeichen der
Umstrukturierung der Arbeitsmärkte
Das Buch stärkt bei popkulturell Gebildeten zumindest die
Lachmuskeln. Und wenn wir schon in einem Land ohne Kinderlächeln
leben (wie uns die Medien permanent wissen lassen), dann
ist Lachen durchaus angesagt. Beim Literaturpapst MRR war das ja
sowieso das entscheidende Kriterium für gute Literatur. Hätte
also LEHNARTZ besser einen Roman geschrieben?
Oder einen Romanessay wie WACKWITZ?
Was
soll das Ganze aber, wenn es sich wie in unserem Falle um ein
Sachbuch handelt? Sascha
LEHNARTZ verschweigt uns, warum dieses Buch gerade jetzt
erscheinen musste. Es handelt sich letztlich um popkulturelles
Storytelling, das die geplanten
Reformen des Arbeitsmarktes im Zeichen der alternden
Gesellschaft
flankieren soll. Ziel
dieser Reformen ist die Verkürzung der Ausbildungszeiten und die
Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Der Langzeitpubertät wird
mit diesen Reformen sozusagen
das Wasser abgegraben.
Liebe
Jugend, Sascha LEHNARTZ sagt Euch mit diesem Buch, packt Euch
warm ein und stellt Euch den Anforderungen des zukünftigen
Arbeitsmarktes.
Hipstertum für die breite Masse
der Jugend
wird es in Zukunft nicht mehr geben
. Engagiert
Euch lieber für Verbesserungen auf diesem kommenden
Arbeitsmarkt. Die Vereinbarkeit von Paar- und Familienleben im
mittleren Lebensalter mit dem Berufsleben steht auf dieser neuen
Agenda. Während
die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf
seit Mitte der 1980er Jahre Thema von Ulrich BECKs
Individualisierungsprosa war, stellt die
Vereinbarkeit von Paarleben
und Beruf
bislang kein vergleichbar ernsthaft diskutiertes Problem dar. Der
Single-Generation fällt in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu,
dem
68er-Mythos der
Single-Gesellschaft
entgegen zu treten
.
LEHNARTZ
hat die
Problematik von Fernbeziehungen in Zeiten der Globalisierung
aufgezeigt. Was
für die globale Klasse das Flugzeug ist, das wird in Zukunft für
die Normalos Bahn und Auto sein.
In
der Ferne so nah
"Mindestens
jede achte Liebe ist inzwischen eine
Fernliebe. Vier Millionen Menschen
wollen oder müssen regelmäßig
Abschied voneinander nehmen. Die
Tendenz ist steigend, es gibt
inzwischen eine »Generation mobil«."
[mehr] |
Wer
das Glück hat, zu den Globalisierungsgewinnern zu gehören, den
unterstützt in Zukunft die Firma. Die
Normalos dagegen haben mit dem
sozialen Abstieg
zu kämpfen. Sie haben dann nur noch die Wahl auszusteigen oder
die Kosten selber zu zahlen. Es handelt sich dabei nicht allein
um finanzielle Kosten, sondern auch um physische, soziale und
psychische. Eine
individuelle Therapie, die den Schaden begrenzt, werden sich
Normalos nicht leisten können. In der Hartz-Gesellschaft werden
die
Ausstiege aus dem gesellschaftlichen Verpflichtungszusammenhang
erschwert. Es ist kaum anzunehmen, dass man dem Hipster
entgegen kommen wird, eher wird der Square gefördert.
Neo-Spießer schwimmen also heutzutage ganz oben auf der medialen
Zeitgeistwelle.
Es
ist jedoch noch nicht entschieden, ob der Zeitgeist nicht eine
Fata Morgana ist, denn zwischen den Extremen von Hipster
und Square ist reichlich Platz für Lebensentwürfe, die bisher keiner auf der Rechnung hat. Was
bleibt für jene, die nicht zur Erbengeneration gehören, ist die
politische Organisation von Singleinteressen. Es
geht darum die singlefeindliche Medienberichterstattung zu
bekämpfen, die uns eine
Single-Lüge
auftischt. Der
swinging Single bzw. der bindungslose Egoist ist nicht der
Normalfall, sondern das Zerrbild, das die 68er-Generation als
Popanz aufgebaut hat, um ihre Besitzstände zu sichern. Wir
werden auch in Zukunft in einer
paar- und familienorientierten Gesellschaft
leben, allen Unkenrufen der Familienfundamentalisten zum Trotz
.
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