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Kommentierte Bibliografie (Teil 3: 2012 -
2016)
2012
WEBER, Bettina (2012): Besser dran ohne die bessere Hälfte.
Singlefrauen über 35 haben auch heute noch mit Vorurteilen zu
kämpfen: Man bemitleidet sie und hält sie für unglücklich.
Dabei, so zeigen Studien, ist niemand so wenig einsam wie eben
Frauen ohne Partner,
in:
Tages-Anzeiger Online
v. 18.01.
FRISSE, Juliane
(2012): Die vier Einsamkeitsfallen.
Das
Gefühl, allein zu sein, kann jeden treffen. Doch manche
Lebenssituationen sind besonders gefährlich,
in: zitty Nr.5 v. 23.02.
BARTENS, Werner
(2012): Schmerz der Ausgrenzung.
Isolation, Jobverlust und Einsamkeit tun auch körperlich weh,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 31.03.
SCHOBIN, Janosch (2012): Mit Würde allein sein.
Einsamkeit: Dauerhafte Kontaktlosigkeit gilt heute als
individuelles Scheitern. Diese Deutung zementiert die
Isolation. Dabei gibt es Alternativen,
in:
TAZ v. 13.04.
Janosch SCHOBIN
glorifiziert eine angeblich positiv erfahrende Einsamkeit in
den 1950er und 1960er Jahren in Deutschland. Damals soll man
noch in Würde einsam gewesen sein:
"In der Nachkriegszeit
traf die Einsamkeit diejenigen, die ihre
Familienangehörigen und Freunde in den
Konzentrationslagern, auf den Schlachtfeldern, im
Bombenhagel oder in den Nachkriegswirren verloren hatten:
also potenziell alle. Vereinsamung gehörte zum kollektiven
Schicksal einer gescheiterten Gesellschaft. Das
Wirtschaftswunder und die darauf folgenden Wohlstandsjahre
brachten hingegen eine prädestinierte Trägergruppe der
Einsamkeit hervor: die Aufsteiger und ihre Familien"
Es handelt sich dabei um
eine Heroisierung des Aufsteigertums der 68er-Generation
im Nachhinein, das eher eine sehr kleine Gruppe betraf, die
sich jedoch medial herausragend inszenierte. Die Normalität
des Aufsteigers dagegen hat mit diesem inszenierten
männlichen Heroentum nichts zu tun.
"Das Selbstverständnis
von der geopferten Generation trägt in den Jahrgängen
geringer Geburtenzahlen und kleiner Aussichten nicht mehr
weit",
doziert SCHOBIN. Hier
wird den geburtenstarken Jahrgängen ein Selbstverständnis
untergeschoben, das nicht existiert. Die Babyboomer eine
geopferte Generation? Schön wäre es, denn dann würde die
reaktionäre Rhetorik unserer Eliten nicht verfangen, sondern
es gäbe einen Aufschrei der Empörung angesichts der
gegenwärtigen bevölkerungspolitischen Medienkampagne.
Die Soziologisierung der
Einsamkeit wie sie hier propagiert wird, passt zur
Umdeutung der
Einsamkeit der letzten Jahre, in denen das
unternehmerische Selbst im Mittelpunkt steht.
"Das Gefühl des
Einsamseins häuft sich mittlerweile in einer disparaten
Gruppe von Menschen, die sich nicht so recht
zusammenbringen lassen: bei den Alten, Erwerbslosen und
Alleinstehenden",
berichtet SCHOBIN. Und
das soll in der Nachkriegszeit anders gewesen sein? Man
spürt hier eine gewaltige Sehnsucht nach Verklärung, die
sehr viel mit dem Ideal des unternehmerischen Selbst und der
Inszenierung der neuen Bürgerlichkeit der Generation
Berlin zu tun hat.
HEINRICH, Andreas (2012): Rezepte gegen die Einsamkeit.
Allein im Alter
unter vielen. Einsam im Hochhaus. Oder gar tot und unentdeckt,
nach Jahren erst gefunden – wie jüngst der Fall in Hagen.
Einzelfälle oder doch mehr?
in:
WAZ Online v. 21.05.
RME (2012): Singles und einsame Senioren sterben früher.
Menschen, die sich im Alter einsam fühlen, haben einer
aktuellen Studie zufolge ein erhöhtes Sterberisiko. Nach einer
anderen Untersuchung enden Herz-Kreislauf-Erkrankungen auch
bei "jüngeren" Singles häufiger tödlich,
in:
Deutsches Ärzteblatt
Online v. 19.06.
SAUM-ALDEHOFF, Thomas (2012): Im Gefängnis der Einsamkeit.
Wir sind von morgens bis
abends am Kommunizieren. Auf Facebook sammeln wir Freunde wie
früher Briefmarken. Und doch fühlen sich immer mehr Menschen
inmitten von "Kontakten" tief isoliert. Woher rührt die
Epidemie der Einsamkeit, die sich in unserer Gesellschaft
ausbreitet? Und wie findet man hinaus?
in:
Psychologie Heute, Juli
Thomas SAUM-ALDEHOFF
stellt zuerst klar, dass Alleinsein und Einsamkeit zwei
verschiedene Dinge sind. Danach referiert er verschiedene
Aspekte der Einsamkeit und Zusammenhänge mit anderen
Phänomenen wie Alleinsein, Depression, Zurückweisung und
soziale Bindungen. Zur Entstehung von Einsamkeit können
unterschiedliche Faktoren beitragen wie kritische
Lebensereignisse, Vermeidungsverhalten, sozialer Rückzug
usw. Danach referiert SAUM-ALDEHOFF Untersuchungen zu den
schädlichen Wirkungen von Einsamkeit, um dann die
zeitdiagnostisch lapidare Aussage zu treffen, dass
Einsamkeit ein Phänomen unserer Zeit sei:
"Laut dem
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung wohnen heute in
Deutschland 16 Millionen Menschen solo - vor 20 Jahren
waren es nur knapp 12 Millionen.
Das liegt nicht
vorrangig an der Alterung der Bevölkerung und dem höheren
Anteil an Verwitweten. Vielmehr ist der Anteil von
Singlehaushalten vor allem bei jungen Menschen im Alter
von 20 bis 35 Jahren gestiegen."
Während zu Beginn des
Artikels die Unterschiede zwischen Alleinsein und Einsamkeit
betont werden, werden im Rahmen der Zeitdiagnostik diese
Unterschiede ignoriert bzw. der statistische Sachverhalt des
Alleinlebens mit Alleinsein gleichgesetzt, obwohl zu den
Alleinlebenden auch Zusammenwohnende gehören, die nur nicht
zusammenwirtschaften bzw. Menschen, die in
Wohngemeinschaften leben. Eine Seite zuvor heißt es dagegen
bei SAUM-ALDEHOFF:
"Nicht in jungen, wohl
aber in mittleren Lebensjahren leiden einsame Menschen
(...) unter Stressoren, die ihren sozialen Rückzug noch
verstärken: mehr Scheidungen, mehr Nachbarschaftsstreit,
mehr Konflikte am Arbeitsplatz, mehr Entfremdung."
Dies aber würde dafür
sprechen, dass nicht die Zunahme der Singlehaushalte im
Alter von 20 - 35 Jahren, sondern die geringe Anzahl von
Singlehaushalten bei den 35-45 Jährigen zur Einsamkeit
beiträgt. Darunter befinden sich die
Problemgruppen der männlichen Scheidungssingles sowie
der unfreiwillig Partnerlosen.
Der
Zusammenhang
zwischen Alleinleben und Einsamkeit wird von
SAUM-ALDEHOFF zu undifferenziert gesehen. Zu den Gefahren
sozialer Netzwerke wird einzig das Buch Verloren unter
100 Freunden von Sherry TURKLE referiert.
Der wichtige Aspekt der
modernen Arbeitswelt mit seinen Mobilitätsanforderungen wird
dagegen nur kurz und sehr oberflächlich abgehandelt.
Zum Abschluss des
Artikels stellt SAUM-ALDEHOFF das Gegenmittel vor:
"Das Gegenmittel gegen
Einsamkeit ist nicht bei anderen eingeforderte Zuwendung -
das bringt allenfalls Mitleid, häufiger aber bewirkt es
erst recht den Rückzug der solcherart Bedrängten. Nicht
Aufmerksamkeit fordern ist also die Arznei, sondern:
Aufmerksamkeit schenken."
Im Anschluss an John T.
CACIOPPO werden 4 Strategien vorgeschlagen: 1. Den Radius
erweitern (darunter wird das Üben von Small Talk
abgehandelt); 2. In Aktion treten, d.h. ehrenamtliche
Tätigkeiten übernehmen, die einem nicht überfordern; 3.
Selektieren, d.h. Gleichgesinnte für Geselligkeiten suchen;
4. Das Beste erwarten, d.h. "anderen gegenüber Wärme und
guten Willen" zeigen.
Man könnte auch sagen,
dass heutzutage ein
neues Ethos der Einsamen erforderlich ist, denn die
Vereinbarkeit von Beruf und Alleinleben/Zusammenleben
stellt neue Herausforderungen dar. Einsamkeit kann in dieser
Sicht auch als Regulationsmodus verstanden werden.
GEO-Titelgeschichte:
Der Nachbar |
EBERLE, Ute (2012): Guter Nachbar, böser Nachbar.
Die Psychologie der ungewollten Nähe,
in:
GEO, August
"In Tübingen (...)
starb 2010 ein 72-jähriger Mann in seiner Wohnung, der bis
dahin zehn Jahre lang für seine bettlägerige Frau gesorgt
hatte. Der Frau gelang es nicht Hilfe zu rufen. Eine Woche
dauerte es, bis Nachbarn bemerkten, dass sie den Mann
länger nicht gesehen hatten. Als Polizisten in die Wohnung
eindrangen, fanden sie die 82-Jährige tot, vermutlich
verdurstet",
erzählt EBERLE.
Gewöhnlich wurden in der Vergangenheit solche Geschichten
erzählt:
"Rentnerin lag vier
Wochen tot in ihrer Hochhauswohnung! Erst als Nachbarn auf
den Geruch aufmerksam wurden, brach die Polizei die Tür
auf."
Dieses Beispiel stammt
aus dem Ratgeber
Solo in die
Jahre kommen von Frank NAUMANN, der vor 15 Jahren
erschien und seiner Zeit weit voraus war, denn dort hieß es:
"Das
kann Ihnen auch im Ehestand passieren. Nach fünfzig Jahren
glücklicher Ehe stirbt Ihr Partner, und plötzlich stehen
Sie allein da. Kaum Freunde, die Sie trösten, da Sie beide
sich immer selbst genug waren. Die Kinder leben weit
entfernt und stecken gerade in der Midlife-Krise. Für
überlebende Partner steigt das Todesrisiko in den ersten
Monaten nach der Verwitwung dramatisch an. Wenn es Sie
jetzt erwischt, bleiben Sie ebenso unbemerkt wie die
einsame Oma, die schon seit Jahren mit niemandem mehr ein
Wort gesprochen hat."
Frank NAUMANN setzte auf
Freunde, modern gesprochen: soziale Netzwerke, als Helfer in
der Not, EBERLE zeigt dagegen auf wie wichtig gute
Nachbarschaft sein kann, denn:
Wir haben das "Gefühl,
dass wir ohnehin keine Wahl haben: wenn Familien
schrumpfen, die globalisierte Arbeitswelt die Reste
verstreut und die Sozialleistungen schwinden, ist der
Nachbar oft der Einzige, der noch vor Ort ist, wenn Not am
Mann herrscht."
Nicht nur alarmistische
Nostalgiker wie Frank SCHIRRMACHER, die mit rührseligen
Geschichten vom Donner-Pass das Zurück zur althergebrachten
Familie als Allheilmittel betrachten, übersehen, dass
heutzutage die multilokale Mehrgenerationenfamilie die weit
verbreiteste Lebensform ist. Und immer mehr ältere Paare
leben getrennt zusammen (living apart together).
Für Forscher wie Daniel
ALDRICH ist die Nachbarschaft bei der Bewältigung von
Naturkatastrophen am hilfreichsten.
EBERLE beschreibt die
neuen Nachbarschaftshilfe, die z.B. durch Wohnprojekte,
Tauschbörsen oder mittels Internet (nirio.com,
allenachbarn.de) entstehen.
WELDING, Malte (2012): Wie in Einzelhaft.
Ein
Essay über die wachsende Einsamkeit in unserer Welt und die
Frage, warum viele ihr nicht entkommen,
in: Badische Zeitung v. 06.08.
RÖTZER, Florian (2012): Alleinlebende haben höheres
Sterberisiko im mittleren Alter.
Während
eine Studie ein erhöhtes Risiko bei Alleinlebenden sieht,
führt eine andere das höhere Mortalitäts- und
Morbiditätsrisiko auf Einsamkeit zurück, die es auch bei
Paaren gibt,
in: Telepolis v. 10.08.
ECONOMIST (2012): The attraction of solitude.
Living
alone is on the rise all over the world. Is this bad news?
in: Economist v. 23.08.
ELBING,
Eberhard (2012): Allein allein.
John T. Cacioppo und William
Patrick vereinen in ihrem Buch bio- und
sozialwissenschaftliche Aspekte der Einsamkeit,
in:
Psychologie Heute,
September
EMOTION-Dossier:
Ich kann gut allein
sein.
Wer gern mit
sich ist, wird auch mit anderen glücklich |
KALOFF, Susanne (2012): Leere bedeutet auch: Raum für sich.
Einsamkeit ist ein tiefer Schmerz, dass man sich niemandem nahe
fühlt, hat unsere Autorin erfahren müssen. Aber sie hat auch
gelernt, dass dieser Schmerz sie stark werden lässt,
in:
emotion, September
STEINRÜCK, Alrun (2012): Lieber glücklich allein...
Interview: ... als einsam zu zweit. Ihre Freiheit als Single geben
Frauen heute nicht mehr für einen Kompromissmann auf, sagt der
US-Soziologe Eric Klinenberg,
in:
emotion, September
Alrun STEINRÜCK
interviewt den Soziologen Eric KLINENBERG, dessen Buch
Going Solo dieses Jahr erschienen ist. Alleinlebende
sind vor allem eines - Projektionsfiguren Zusammenlebender:
"emotion: Leben Sie
selbst allein?
Eric Klinenberg: Nein, ich bin verheiratet und habe zwei
kleine Kinder. Und ich bin glücklich, wenn ich abends zu
meiner Familie nach Hause komme. Meine Frau nennt meine
Studie allerdings mein »Fantasiebuch«.
emotion: Wieso denn das?
Eric Klinenberg: Ich habe früher allein gelebt. Jetzt
verbringe ich meine Tage oft allein als Schriftsteller und
Wissenschaftler. Ich genieße diese Zeit wirklich. Wir
leben in einer so extrem vernetzten Welt, dass wir Ruhe
und Stille mehr denn je brauchen. Wenn ich meine Kinder
morgens zur Schule bringe, sprechen mich viele Eltern
darauf an, wie gern sie mehr Zeit für sich selbst hätten.
Wenn man ganz ehrlich ist, gibt es wohl kein perfektes
Leben.
Wer allein lebt, sehnt sich nach Gesellschaft, und wer mit
jemanden zusammenlebt, nach Zeit allein. Das ist die Krux
des Menschseins."
KALOFF, Susanne/DELVALLE,
Barbara/BARTELS, Stephan/THOLL, Tom/ROKAHR, Lisa (2012): Warum
ich jetzt gern Single bin.
Dossier
Fünf Singles erzählen: Es werden immer mehr. Und das ist gut
so. Denn unsere Gesellschaft braucht Singles. Nie war es
einfacher, allein zu leben - und dabei glücklich zu sein,
in: Brigitte Nr.38 v. 19.09.
PETSCHEK, Peter (2012): Allein ist spitze.
Single-Männer:
Single-Männern geht's mies, das legt eine Studie nahe: Ohne
Frau, so scheint es, können sie einfach nicht glücklich sein.
Wer aber seinen alleinstehenden Kumpel mit
Verkupplungsversuchen zwangsbeglücken möchte, sei gewarnt - so
elend ist das Alleinsein nicht,
in: Spiegel Online v. 21.09.
"Ungünstig für Männer,
für mich persönlich aber ohne direkte Folgen ist eine
andere Studie, die mir letztens in die Finger kam.
Wissenschaftler der Uni Kent hatten sozusagen einen
Glücksatlas für Singles erstellt, und dort kam mein
Geschlecht gar nicht gut weg. Während Single-Frauen ein
hohes Glücksniveau haben, reisen, Freundinnen treffen,
viel unternehmen und mittendrin im sozialen Leben sind,
wirkt sich ein Single-Leben auf Männer bedrohlich aus: Von
Zufriedenheit keine Spur, eher enden die Kerle irgendwann
als einsame, Pizza-futternde Sozial-Honks vor der
Mattscheibe",
schreibt PETSCHEK. In
Deutschland wird das positive Image des Alleinlebens
("Single-Daseins") insbesondere durch Frauen und
Frauenzeitschriften geprägt, z.B. aktuell in der
Brigitte und der
Zeitschrift emotion.
Spätestens seit Michel HOUELLEBECQs Romanen
Ausweitung der
Kampfzone und
Elementarteilchen gilt der Singlemann als
Problemfall.
LIERE,
Judith (2012): Fang den Mann.
Ab dreißig überkommt Männer
die große Bindungsangst. Frauen glauben dann, die einsamen
Wölfe an sich binden zu müssen. Doch damit wird alles nur
schlimmer,
in: Neon,
Oktober
BENDER, Justus & Jan Philipp BURGARD (2012): "Einsamkeit ist
schon ein Thema".
Claudia Roth, die
Bundesvorsitzende der Grünen, im Gespräch über ihre Liebe zu
Winnetou, einsame Abende im Hotel und Beziehungen in der
Politik,
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 10.11.
FREY, Carina (2012): Allein unter vielen.
Einsamkeit betrifft nicht
nur Singles,
in:
Märkische Allgemeine
Online v. 14.11.
SCHIRG, Oliver
(2012): Allein, aber nicht einsam.
Hamburger Haushalte: In 52 Prozent von Hamburgs Haushalten
lebt nur eine Person. Viele der Singles in der Hansestadt sind
mit der Situation aber ganz zufrieden,
in: Hamburger Abendblatt v. 22.12.
2013
KOLOSOWA, Wlada (2013): Allein, nicht einsam.
Single-Haushalte: Jeder
fünfte Deutsche lebt allein, weltweit steigt die Zahl der
Ein-Personen-Haushalte. Was bedeutet das für die Gesellschaft?
Werden wir egoistischer, isolierter? Mitnichten, meint der
Soziologe Eric Klinenberg.
Einsamkeit ist weder eine Frage der Wohnverhältnisse - noch
des Beziehungsstatus,
in:
Spiegel Online v.
02.01.
PROFIL-Titelgeschichte:
Lebensgefühl Einsamkeit.
1,3 Millionen Single-Haushalte in Österreich: Warum immer mehr
Menschen allein sind und wie man der sozialen Isolation entkommt |
HAGER, Angelika
& Sebastian HOFER (2013): Isolationshaft Einsamkeit.
Einsamkeit gilt als
Schreckgespenst einer digital restlos vernetzten und manisch
beziehungssüchtigen Gesellschaft.
Alleinsein muss jedoch
nicht nur krank machen, sondern kann auch zum Trainingslager
für ein besseres Ich werden,
in:
Profil v. 07.01.
KLUTE,
Hilmar (2013): Allein.
Zuschauen, entspannen,
nachdenken. Nix twittern, mit niemandem reden. Herrlich! Ein
Loblied auf die Einsamkeit,
in: Süddeutsche Zeitung v. 23.02.
"Immer
wieder liest man von Menschen, die so lange alleine waren,
bis es anfing im Hausflur zu riechen. (...)(Die)
traurige Seite des Alleinseins (...) überschattet (...)
alle anderen Facetten, denn das Alleinsein ist im
Zeitalter der Allgegenwart von Freunden und der
Allverfügbarkeit von Ablenkungen, meist digitaler Art,
mehr als unpopulär geworden",
kritisiert Hilmar
KLUTE. Wer allein sein will, der gilt schnell als Gestörter:
"Alleine sein heißt
heute Single sein,
Nerd oder Autist. (...) Heute halten viele das
Alleinsein für eine gefährliche soziale Störung, von der
man insbesondere alte Menschen fernhalten muss. Deshalb
werden sie betreut wie Kranke".
Nichtsdestotrotz wird
heutzutage dem Alleinsein - wenn es als Event (z.B. als
Auszeiten im Kloster) oder als Therapie daherkommt:
"Das Alleinsein
gehört wie das Entspannen, das Essen und das
Nichtausgebrannt sein zu den Lebenstechniken, die offenbar
behutsam wieder erlernt werden müssen. Und wie bei allen
Dingen, die wir verlernt haben, steht eine ganze Industrie
bereit, uns wieder auf die Sprünge zu helfen. Denn wenn
das Alleinsein ein
Baustein für die Optimierung ist, kann es sogar als
Therapie eingesetzt werden."
Die "Verkitschung des
Alleinseins als Erleuchtungshilfe" fängt für KLUTE mit den
Büchern von Paul COELHO ("Die Schriften von Accra") an. Eine
Kulturgeschichte des Alleinseins müsste die Bilder von Carl
SPITZWEG (der Einsame als Sonderling) und Edward HOPPER
sowie das Werk von Gottfried BENN ("Feier der Solitude")
umfassen. KLUTEs Fazit:
"Das Alleinsein ist
ein Zustand, den klügere Menschen zur Optimierung ihrer
Sinne und Fertigkeiten benutzen, für weniger helle Köpfe
ist das Alleinsein eine Leerstelle, die gefüllt werden
muss."
Wenn man "klügere
Menschen" mit den Kreativen und "weniger helle Köpfe" mit
der Masse gleichsetzt, erklärt das den schlechten Ruf des
Alleinseins, wie man bereits 1991 bei dem Soziologen Peter
GROSS und seiner Soziologie des Nicht-Sozialen nachlesen
konnte. Das Alleinsein als Optimierung der Sinne und
Fertigkeiten wurde auf single-generation.de bereits
im Jahr 2006 u. a. anhand des Buches Einsamkeit von
Ulf POSCHARDT vorgestellt. Es ging dabei um
das neue Ethos der
Einsamen.
ALA (2013): Achtung, verfügbar und ansprechbar!
Single-Mode: Ein Verlangen,
ein T-Shirt, eine Botschaft: Im US-Bundesstaat Arizona will
eine Unternehmerin Millionen vereinsamter Singles
zusammenführen. Ganz altmodisch und analog - dank
Gutzy-Meet-Me-Klamotte,
in:
Spiegel Online v.
07.05.
GOLDMANN, Lisa (2013): Niemand antwortet mehr.
Nachlass: Entrümpler sind
die Letzten, die sich ein Bild vom Leben mancher Verstorbener
machen. Ausweise, Fotos, Liebgewordenes fassen sie noch einmal
an, bevor sie es in Müllsäcke stopfen,
in:
TAZ v. 14.06.
"765 Menschen sterben,
statistisch gesehen, in Deutschland jeden Tag. Viele von
ihnen haben keine Hinterbliebenen - so wie Heinz Ocvirk.
(...). Keine Frau, keine Kinder, keine Familie."
Das sind die Geschichten,
die unser neues Bürgertum so innig liebt! Geschichten, die
die Wiederkehr der Konformität - wie von Cornelia KOPPETSCH
beschrieben - zementieren sollen. Ein einsamer
Alleinlebender - selber schuld! Oder doch nicht?
Lange
tot, bevor sie/ihn jemand fand - trotz Frau (kurz zuvor
gestorben), Kind (Kontakt schon vor langer Zeit
abgebrochen), Familie (im Ausland lebend). Das ist der wahre
Horror, den es nicht geben darf in den Wohlfühlblättern der
neuen Mitte.
Dann doch lieber Friedhofsromantik.
LILL, Felix (2013): Eine Puppe gegen die Einsamkeit.
Die drittgrößte
Volkswirtschaft der Welt kämpft mit einer rasch alternden
Gesellschaft. Roboter als Helfer in der Altenpflege sind in
Japan daher schon längst Realität geworden,
in: Die
Presse
v. 30.06.
BERGEN, Stefan von (2013): Geht der Schwund der Familien so
weiter, nimmt die Einsamkeit im Alter zu.
Haushalte ohne Kinder sind
heute in der Überzahl. Sind die Familie und das Überleben der
Schweiz bedroht? Man habe heute bei Lebensmodellen die freie
Wahl, sagt Dominik Schöbi, Familienforscher an der Uni
Freiburg,
in:
Berner Zeitung Online
v. 14.07.
MIKA, Bascha (2013): Die besseren Single.
Frauen vereinsamen seltener,
weil sie sozialer sind. Alleinstehende Männer tun sich
verdammt schwer, als Single durchs Leben zu kommen. Sie neigen
dann dazu, viel zu saufen und viel zu rauchen,
in:
Berliner Zeitung v.
15.10.
UHLMANN,
Berit (2013): Aus der Welt.
Einsiedler: Seit Jahrtausenden
suchen manche Menschen die völlige Einsamkeit - oft aus
religiösen Gründen. Andere wollen auch nur ein paar Jahre lang
ungestört an ihrem PC spielen,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 20.11.
Berit UHLMANN fasst unter
Einsiedler so unterschiedliche Phänomene wie das japanische
Hikikomori und
Eremiten zusammen. Letzteren soll "ein weitgehend
konsumverweigerndes, kontemplatives Leben im Glauben" gemein
sein, während ersteres mit den Möglichkeiten und Konflikten
bzw. psychischen Krankheiten in modernen Gesellschaften in
Verbindung gebracht wird (Geburtenrückgang,
Nesthockermentalität, Rollenkonflikte).
Es schwingt aber auch
immer die Frage mit, inwiefern
Einsamkeit zum Sehnsuchtsort geworden ist. In seinem
Aufsatz Die
Angst vor der Gemeinschaft beschreibt Urs STÄHELI
Schüchterne als Pioniere, die auf die Defizite moderner
Gemeinschaften verweisen. Die modernen, "liberalen"
Gemeinschaftsformen können in dieser Sicht als Überforderung
gesehen werden.
SIMON, Violetta
(2013): Allein zu zweit.
Fotoserie mit fiktiver
Freundin: Wenn Pärchen und Familien zu Weihnachten
zusammenrücken, fühlen sich viele Singles noch alleinstehender.
Ein japanischer Fotograf hat seine Einsamkeit in einer
Bilderserie dargestellt und sich damit eine Menge neuer
Freunde gemacht,
in:
sueddeutsche.de v.
06.12.
WALTER, Tanja (2013): Gefahr für Senioren und Singles.
So krank macht Einsamkeit,
in:
Rheinische Post Online
v. 12.12.
KAPPERT, Ines (2013): Erfolgreich, sportlich, attraktiv,
charmant. Und einsam.
Chefinnen: Was haben neue Fernsehserien mit Emanzipation zu tun?
Zweierlei. Sie haben sich vom Fernsehen emanzipiert. Und sie
verhandeln Emanzipation: Wie nie zuvor in der TV-Geschichte
bieten sie weiblichen Hauptfiguren eine Plattform. Allerdings
gibt es da einen großen Haken,
in:
TAZ v. 31.12.
2014
MAITLAND, Sara (2014):
Ich bin dann mal raus.
Rückzug: Nichts ist uns so wichtig wie
Freiheit. Aber wenn ein Mensch wirklich allein leben will,
versteht das kaum jemand. Ein Plädoyer,
in: Freitag Nr.4 v. 23.01.
Der Freitag hat
einen
langen Essay der Schriftstellerin Sara MAITLAND, die
seit 20 Jahren allein in den schottischen Highlands lebt,
gekürzt und übersetzt. Von MAITLAND ist gerade das Buch
How to be alone erschienen.
Einsamkeit ist für
MAITLAND eine Ressource und kein Problem oder gar eine
Krankheit.
MIKA, Bascha
(2014): Ganz schön allein.
Single sein macht krank und unglücklich.
Sagt wer? Eine Agentur für Partnervermittlung. Was für eine
Überraschung!
in: Frankfurter Rundschau v. 05.02.
Bascha MIKA hält uns Leser
für besonders doof und setzt die Anzahl der
Einpersonenhaushalte mit Partnerlosigkeit gleich, obwohl
gerade in Großstädten lediglich das
multilokale Wohnen zunimmt. Der Mobilitätszwang der
Hartz-Gesellschaft führt zur Zunahme von Paaren ohne
gemeinsamen Haushalt. Dass der Mobilitätszwang für
Partnerschaften nicht unbedingt förderlich ist, das leugnet
MIKA, nur weil eine Partneragentur, der es lediglich um das
Geschäft mit der Einsamkeit geht, das als
Marketinginstrument missbraucht. Genauso wie MIKA die
Alleinlebenden für ihren
Single-Gesellschaft-Mythos
missbraucht.
BERG, Sibylle (2014): Sonntags, wenn wir uns selbst auflösen.
Einsamkeit: Schon wieder
dieser Tag, an dem wir allein sind und plötzlich fürchten,
dass uns keiner braucht, dass sich keiner für uns
interessiert, ja, dass es uns eigentlich gar nicht gibt. Wäre
da nicht wenigstens ein Hund, der uns die Pfote reicht,
in:
Spiegel Online v.
02.03.
FREYNSCHLAG, Sophia (2014): Das Geschäft mit einsamen Herzen.
Eine Partnervermittlung
verlangte von einem Steirer mehr als 6000 Euro - auch beim
Online-Dating lauern Fallen,
in: Wiener
Zeitung Online v. 15.04.
KUNZ,
Gabriele (2014): Die Einsamkeit der Alten.
Wie hat sich das Leben von
Witwen und Witwern in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Zumindest in finanzieller Hinsicht hat sich ihre Lage
verbessert,
in:
Psychologie Heute, August
Gabriele
KUNZ fasst
den Artikel
Persönliche Bilanzierung der Herausforderungen einer
Verwitwung im Zeit- und Geschlechtervergleich von
François HÖPFLINGER, Stefanie SPAHNI & Pasqualina
PERRIG-CHIELLO zusammen, der in der Zeitschrift für
Familienforschung, Heft 3/2013 veröffentlicht wurde. Die
Wissenschaftler haben 1979, 1994 und 2011 die
Lebenssituation von Witwen und Witwern in zwei Schweizer
Kantonen untersucht.
BRIGITTE-Dossier:
Warum wir keine Kinder
wollen.
Es gibt
viele Frauen, die nicht Mutter werden wollen und ein Leben ohne
Nachwuchs auch nicht als Mangel empfinden. Dafür müssen sie sich
erstaunlich oft rechtfertigen. Warum eigentlich? |
DIEHL, Sarah (2014): "Bin ich denn ein Freak?"
Wenn Frauen ihr Leben ohne
Kinder prima finden, so wie es ist, und auch keine biologische
Uhr ticken hören, sind ihnen Nachfragen sicher. Die Autorin
fragt sich, was für ein Bild von Weiblichkeit dahintersteckt,
in:
Brigitte
Nr.23 v. 22.10.
Sarah
DIEHL befasst sich mit dem, was gemeinhin als "gewollte"
Kinderlosigkeit bezeichnet wird, im Grunde aber eher die
Ambivalenz heutiger Kinderwünsche bezeichnen sollte. Da das
Ziel ihres Buches die Beseitigung von Zweifeln an der
eigenen Gewolltheit der Kinderlosigkeit ist, ist die
Sichtweise genauso einseitig wie derjenigen, die von
"ungewollter" Kinderlosigkeit reden, weil die grundlegende
Ambivalenz heutiger Lebensverhältnisse unberücksichtigt
bleibt.
Kinderlosigkeit wird
einerseits als Selbstschutz gegen eine imaginierte
Überforderung durch die Mutterschaft dargestellt,
andererseits wird aber in der Vereinbarkeit von Beruf und
Familie keine Alternative gesehen. Tatsächlich gibt es
durchaus gute Gründe, kinderlos bleiben zu wollen, da ganz
offensichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie
Grenzen gesetzt sind bzw. die Ansprüche an die
Kindererziehung so hoch sind, dass Frauen sich diesen nicht
gewachsen fühlen. Da hilft ein Journalismus wenig, der das
lediglich als unberechtigte Jammerei abtut. Die Kindstötung
ist dann nur der Extremfall einer solch falsch verstandenen
Mutterschaft.
Berechtigte Kritik übt
DIEHL an den gesellschaftlichen Stereotypen:
"Die kinderlose Frau
(...) gilt als tragisch und einsam oder als Opfer der
Emanzipation, das seine natürlichen Bedürfnisse einfach
nicht mehr sehen kann.
Für kinderlose Frauen gibt es gesellschaftlich gesehen
keine positiven Role-Models. Als Gegenmodell zur Mutter
gibt es nur die verhärmte, gefühlskalte Karrierefrau (was
natürlich lächerlich ist, schon allein wenn man bedenkt,
wie wenig Frauen es immer noch in Führungspositionen
gibt)".
Und
es gibt seit längerem einen Trend im Journalismus, der
darauf hinausläuft, dass in den so genannten
"Qualitätsmedien" fast nur noch
einsame Karrierefrauen zu Wort kommen. Oder wie es DIEHL
ausdrückt:
"Unsere
Gesellschaft, so scheint es mir, lauert fast spöttisch auf
das späte Bedauern der Kinderlosen: »Du wirst das später
mal bereuen.« Diesen Satz hören Frauen wie ich so
häufig, explizit und implizit, dass es schwer ist, ihn
nicht zu verinnerlichen und sich zu fragen, ob vielleicht
tatsächlich etwas nicht stimmt."
Das Beispiel einer Frau,
die wegen einer Krankheit keine Kinder bekommen konnte und
aufgrund der Diskriminierung unverheirateter Paare bei
Adoptionen auch kein Kind adoptieren wollte, zeigt, dass
"gewollte" Kinderlosigkeit keine Frage individueller
Entscheidungen ist, sondern von den individuellen
Lebensumständen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
nicht zu trennen ist.
Nicht zuletzt kritisiert
DIEHL den
Trend zur Demografisierung gesellschaftlicher Probleme.
Politische Alternativen zum Allheilmittel einer
Geburtensteigerung sieht DIEHL durch die
"Erleichterung der
Zuwanderung, das
Erweitern des Familienbegriffs, mehr Geld für
Pflegearbeit und Kinderbetreuung."
DIEHL weist außerdem
darauf hin, dass Kinderlose - im Gegensatz zu Eltern, die
sich in die Privatheit der Familie zurückziehen, vermehrt
gesellschaftspolitisch engagieren:
"statt sich in die
Familie zurückzuziehen, schaffen viele Kinderlose neue
Formen des solidarischen Zusammenlebens, die unsere
alternde Gesellschaft dringend braucht. Viele meiner
Interviewpartnerinnen basteln an Wohnprojekten,
Mehrgenerationenhäusern und Landkommunen; und sie
versuchen, Themen wie drohende Altersarmut und Pflege
darin zu integrieren.
Sie machen so auch die Unzufriedenheit über die
herkömmlichen Familienkonzepte und
Geschlechterverhältnisse nach außen hin deutlich, denn sie
schaffen Alternativen abseits der gewohnten Kleinfamilie,
die dann auch wieder das Zusammenleben mit Kindern
ermöglichen - es müssen ja nicht immer zwingend die
biologisch eigenen sein."
HUMMEL, Katrin
(2014): Naiv, verliebt, betrogen.
Sie ist einsam, er umwirbt
sie. Dann braucht er viel Geld, sie überweist es ihm. Warum
funktioniert die Masche immer wieder? In Zeiten des Internets
ist der Liebesbetrug so verbreitet, wie nie zuvor,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 02.11.
ZEIT-Thema:
Wer hat Angst vor solchen Frauen?
Sie sind jung, gut im Beruf und
behaupten sich im Leben. Viele von ihnen bleiben ohne Partner -
und werden ständig gefragt - warum |
PAUER, Nina
(2014): Unheimlich unabhängig.
Sie ist der beliebteste
Leistungsträger unserer Gesellschaft: Die junge Frau, erfolgreich,
attraktiv und sozial vernetzt. Trotzdem findet sie keinen Mann. Ist
das schlimm?
in: Die ZEIT Nr.50 v.
04.12.
Nina
PAUER schwadroniert über
Alleinleben und
Einsamkeit (ein
Begriff, der im Zeichen der Ökonomisierung des Sozialen
einen Wandel erfahren hat). Sie ist damit Teil des
Problems, das sie angeblich beschreibt, aber vielmehr erst
miterzeugt. Man erfährt viel über neubürgerliche
Spießigkeit, aber nichts über die
Wirklichkeit derjenigen,
die amtsstatistisch als alleinlebend definiert werden.
Bereits die Formulierung "Menschen im heiratsfähigen Alter
zwischen Ende 20 und Ende 30" setzt im Grunde Partnerschaft
mit Ehe gleich, ergo sind Unverheiratete einsam und
partnerlos. Während jedoch nicht-alleinlebende
Unverheiratete als "partnerlose Unterschicht" nicht einmal
erwähnenswert erscheinen, ist das
Alleinleben
der Karrierefrau inzwischen zum neubürgerlichen Symbol einer
fehlgeleiteten Moderne geworden.
Wer das 1990 erschienene
Buch Das
ganz normale Chaos der Liebe gelesen hat, der kennt
dieses Gitterstäbe-der-Einsamkeit-Gerede bereits zur Genüge,
das Nina PAUER da über die Leserschaft ergießt, als ob es
der allerneueste Schrei wäre, obwohl es
lediglich die
Sicht der 68er-Generation unreflektiert nachplappert und
ein geringfügiges Update verpasst:
"Eigens auf sie
abgestimmte Identifikationsangebote wie die Fernsehserie
Girls (...) porträtieren liebenswert neurotische
und sehr einsame Großstadtfrauen (...). Anders als die
pummelige Kalorien zählende" Figur der Bridget Jones
(...), haben die neuen Protagonistinnen der Einsamkeit
sich aber in ihrem Zustand eingerichtet."
Erst zum Schluss des
Artikels kommt PAUER zu den Motiven dieser Vorstellungen
über das Single-Dasein:
"Unsere Zeit, in der
Fortpflanzung als demografische Bürgerpflicht angesehen
wird, fasst die
einsame junge Frau als biologische Beleidigung auf.
(...). Offenbar mutwillig fördert sie die
unheimlich-futuristisch anmutende
Vision einer kommenden Normalität in selbstbestimmter
Fortpflanzung, die social freezing, das
Einfrieren von Eizellen, als praktische Lösung entdeckt
hat, um die Lebensplanung komplett frei gestaltbar werden
zu lassen und damit auch die letzte Abhängigkeit an eine
alte, verstaubte Zeit zu kappen, in der Faktoren wie Mann,
Zeit, Biologie eine Rolle spielen."
Kurzgefasst: Die
erfolgreiche Singlefrau symbolisiert die
immerwährende Angst vor dem Aussterben und bietet sich
damit hervorragend als Projektionsfläche neubürgerlicher
Werte an.
PAUER beschäftigt sich
lediglich mit den typischen Single-Bildern, was fehlt: die
Realität des Single-Lebens. Das liegt nicht nur daran, dass
wir hier im Feuilleton sind, sondern auch daran, dass sich
die empirische Forschung für das Single-Dasein nicht mehr
interessiert - höchstens als Negativfolie zur heiligen
Familie. Längst vorbei sind die Zeiten als der Feminismus
die Singlefrau in den 1980er Jahren als
Pionierin der Moderne
entdeckte.
In
den 1990er Jahren wurde sie dann noch von der
Lifestyle-Industrie getragen, während der
neubürgerliche
Wertewandel, dessen erster Bestseller
Das ganz normale Chaos der Liebe hieß, bereits
seinen langen Schatten vorauswarf. Bridget Jones
gehört dagegen bereits jener Ära an, die im Single nur noch
das Leidbild, aber nicht mehr das Leitbild sieht.
RADISCH, Iris (2014): Sie hatte viele beste Freundinnen.
Gar nicht einsam: Tuğçe A.
starb, weil sie junge Frauen verteidigte,
in: Die
ZEIT Nr.50 v. 04.12.
KÜMMEL, Peter (2014): Mädchen im Sturz.
Von Unsichtbarkeit bedroht, zu
Rollenklischees verdammt: Die einsame Frau in den populären
Erzählungen von heute,
in: Die ZEIT
Nr.50 v. 04.12.
Peter
KÜMMEL kennt nur vier Frauenrollen: die Mutter ("Boyhood"
von Richard LINKLATER), die lüsterne Frau ("Nymphomaniac"
von Lars von TRIER), die Heilige ("Groß und Klein" von Botho
STRAUß) und die Rächerin ("Carrie" von Stephen KING).
Die Artikelüberschrift
verweist auf die Erzählung
Mädchen im Sturz von Dino BUZZATI, die in der ZEIT
vom 16. September 1960. Dort heißt es:
"Solche Flüge –
besonders von Mädchen – waren keine Seltenheit im Hochhaus
und bedeuteten eine interessante Zerstreuung für die
Mieter; deswegen war auch der Preis für die Wohnungen
besonders hoch."
HAAF, Meredith (2014): Junge Frauen.
Wie der Fall Tuğçe in der
Feminismusdebatte instrumentalisiert wird,
in:
Süddeutsche Zeitung v. 10.12.
Meredith
HAAF kritisiert das ZEIT-Thema
der letzten Woche über partnerlose Frauen als skurril
und geschmacklos:
"Als Kronzeugin dafür
wird in einem beispiellosen Fall von überdrehtem
Deutungsopportunismus die Lehramtsstudentin Tuğçe A. ins
Feld geführt, die Ende November auf einem Parkplatz in
Offenbach von einem betrunkenen, sexuell aggressiven
jungen Mann erschlagen wurde. Auch sie sei eine der
»weiblich selbstbewussten Premiumsingles«, um die es gehen
müsse, heißt es da, »jung,
schön«, mit einem großen Freundeskreis ausgestattet, aber
trotzdem ein Beispiel für »gebildete, frauenvernetzte
Einsamkeit« - schließlich habe sie die ganze Nacht nur mit
ihren Freundinnen verbracht, was die Autorin offenbar für
sehr modern und bemerkenswert hält. (Laut Presseberichten
stand A. tatsächlich kurz vor der Verlobung mit ihrem
Freund.) Und das alles steht dann irgendwie in einem
Zusammenhang mit der
Fernsehserie »Girls«, dem
Sado-Maso-Film »Nymphomaniac« und der hohen Aktivität
junger Frauen in sozialen Netzwerken."
Wie
bereits letzte Woche auf dieser Website kritisiert, wird
unverheirateten Frauen oftmals Partnerlosigkeit angedichtet
und mit soziodemografischen Daten untermauert, die dafür
ungeeignet sind. Auch
Medienberichten über Paare mit zwei Wohnungen liegt
oftmals diese unterschwellige neubürgerliche Ideologie
zugrunde, die lediglich der Ehe (trotz hoher
Scheidungsquoten) den "Willen zu lebenslanger Partnerschaft"
zuschreibt (vgl. Anke BRODMERKEL, "Ein Paar, zwei
Wohnungen", Psychologie Heute, 12/2014).
Man hat es hier oftmals
mit Projektionen zu tun, die der Tatsache geschuldet ist,
dass dem Neubürgerlichen die materielle Grundlage für ein
selbstbewusstes Bürgertum fehlt und deshalb Abwertungen als
Kompensation nötig sind. Der Soziologe Heinz BUDE spricht
deshalb von einer Bürgerlichkeit ohne Bürgertum.
2015
PFISTER, Simona (2015): Welches Kunstwerk wären Sie gern?
Gestern war Valentinstag.
Horror für einsame Singles. Heute melden sich wieder viele bei
Partner-Portalen im Internet an. Dort geben sie alles für das
große Glück.l Und verhindern es damit,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 15.02.
AMOJO,
Korede (2015): Allein sein, nein danke.
Hallo? Die Rentnerin Elke
Schilling denkt groß: Mit ihrer Krisenhotline "Silbernetz"
will sie alten Menschen aus der Einsamkeit helfen,
in: TAZ
v. 20.04.
FOCUS-Titelgeschichte:
Single.
Die neue
Lust aufs Leben. So funktioniert der Solo-Lifestyle |
HARTMANN-WOLFF, Elke &
Jennifer REINHARD (2015): Die große Freiheit.
Von wegen traurig und einsam - Forscher beweisen, dass das
Glück nicht vom Beziehungsstatus abhängt. Sechs Singles zeigen
exemplarisch, wie ein erfülltes Leben ohne Partner gelingt,
in: Focus v. 13.06.
Die Focus-Autorinnen
können sich nicht entscheiden über was sie eigentlich
schreiben wollen. In einem Kasten mit der Überschrift Das
Wesen der Singles werden 4 Grafiken präsentiert, deren
Herkunft nur unzureichend gekennzeichnet ist. Sind mit
Singles Einpersonenhaushalte, Alleinlebende oder Partnerlose
gemeint?
Die Überschrift spricht
von 6 Singles, während im Artikel 7 Personen vorgestellt
werden. "Ich bin Teilzeit-Single" wird ein 53jähriger
Partnerloser zitiert. Teilzeit-Single, weil er am Wochenende
mit seinem Sohn zusammenwohnt. Teilzeit-Singles wären aber
doch eher - wenn überhaupt - jene Alleinlebenden, die eine
Wochenendbeziehung führen.
Drei der vier Grafiken
zum Wesen der Singles zielen eindeutig auf
Partnerlosigkeit und nicht auf das Alleinwohnen ab. Die
Grafik Auf Solopfaden untergliedert Singles nach dem
Alter, aber nicht nach dem Geschlecht. Es werden keine
absoluten, sondern lediglich Prozentzahlen angegeben. Nur im
Text ist von 15 Millionen Singles die Rede und zwar für das
Jahr 2014. Mikrozensus-Zahlen gibt es aber bislang nur für
das Jahr 2013.
Die 7 Vorzeige-Singles
des Focus sind zwischen 33 und 57 Jahre alt. Gemäß
Single-Grafik des Focus repräsentieren diese damit
gerade einmal 38 % der Singles, wenn man die Altersgruppe
der 30-59Jährigen betrachtet. Die drei Single-Frauen sind
33, 55 und 57 Jahre, die vier Single-Männer dagegen 36, 42,
50 und 53 Jahre alt. Typischerweise ist das Single-Dasein im
mittleren Lebensalter von 30-49 Jahren männlich, während das
Alter weiblich ist. Dies wird im Artikel verschwiegen. Es
ist nur ersichtlich, dass 46,2 % der Singles gemäß Focus-Grafik
60 Jahre und älter sind.
Dass die Singleforschung
in Deutschland quasi nicht existiert, ist daran zu erkennen,
dass lediglich zwei Soziologen zum Thema zitiert werden: zum
einen der emeritierte Lifestyle-Soziologe Stefan HRADIL,
dessen Single-Studie bereits 20 Jahre zurückliegt, und zum
anderen Stephan BAAS, Mitautor des 2008 erschienenen Buches
Singles im mittleren und höheren Erwachsenenalters.
Und im Grunde recycelt die jetzige Titelgeschichte mehr oder
weniger nur die Titelgeschichte des Jahres 2008. Statt
Online-Partnerbörsen sind nun jedoch Dating-Apps wie
Tinder im Trend. Und natürlich darf der Modebegriff "Mingle"
nicht fehlen, der das "Swinging Single"-Klischee der
1960er/1970er-Jahre zeitgeistig erneuert.
Die exemplarischen
Singles entsprechen mit ihren Berufen dem individualisierten
Akademikermilieu (Kreative, Unternehmensberater usw.) bzw.
dem Bobo-Stereotyp des neuen Bürgertums. Hier gilt:
wenn jemand schon nichts anderes als ein "Angestellter im
öffentlichen Dienst" ist, dann muss er wenigstens in der
Freizeit ein wenig Bohème Glamour ausstrahlen und sei es nur
indem er als Statist am Theater mitwirkt. Das Bauer sucht
Frau, Schwiegertochter gesucht oder Single mit
Kind-Klientel gehört definitiv nicht zur Focus-Zielgruppe.
Die vorgestellten
Single-Frauen sind entweder kinderlos oder haben Kinder, die
bereits ausgezogen sind. Dies entspricht z.B. nicht der
Single-Definition des Buches Singles im mittleren und
höheren Erwachsenenalters, passt aber zum in der
Titelgeschichte verwendeten "Teilzeit-Single"-Begriff, bei
dem sogar das nur zeitweilige Zusammenleben mit einem Kind
den Single-Status "beschädigt". In Zeiten, in denen
Kinderlose zunehmend diskriminiert werden und der in die
Defensive geratene Alleinerziehenden-Verband sich
verzweifelt um Abgrenzung zu Singles bemüht, da wird der
Single-Begriff gesäubert und - zumindest auf rhetorischer
Ebene - auf Kinderfreiheit verengt. Die
Vorzeige-Singlefrauen des Focus sind 33 Jahre alt
oder 55 und 57 Jahre, d.h. zwischen 35 Jahren und 55 Jahren
hat die Akademikerin späte Mutter zu sein und damit
definitiv nicht Single.
Der Mann
dagegen darf sich auch im Familienlebensalter als Single
austoben.
Ein Kasten mit der
Überschrift Was das Solo-Leben leichter macht gibt
Tipps für den "Alltag ohne Partner". So verschwindet
Einsamkeit z.B. durch positives Denken ("Veränderung der
Wahrnehmung") oder Meditation, was der neubürgerlichen Ethik
der Einsamen entspricht:
wer einsam ist, ist
lediglich selber schuld!
HOLLERSEN,
Wiebke (2015): Anleitung zum Alleinsein.
Die Vereinzelung in der Gesellschaft nimmt zu. Kaum ein
Mensch wird dem entgehen. Jedoch kann man lernen, dabei nicht
einsam zu sein,
in: Welt am Sonntag v.
14.06.
"»In unserer
Gesellschaft, die immer mehr Freiheiten bietet und in der
es zugleich weniger Kontinuität gibt, müssen wir uns mehr
mit dem Alleinsein auseinandersetzen«, sagt etwa Dietrich
Munz. Er ist der Vorsitzende der Psychotherapeutenkammer
und hat zusammen mit anderen einen Band über eine
Psychoanalytiker-Tagung zur »Fähigkeit zum Alleinsein«
herausgegeben",
liest man bei Wiebke
HOLLERSEN. Wäre es nicht seriös gewesen zu schreiben, dass
die Tagung bereits im Jahr 2008 statt fand und der Band
2009 erschienen ist und seit 2011 in 2. Auflage
vorliegt?
"In Deutschland leben
16 Millionen Menschen allein. Meistens wird dieser Satz in
einem besorgten Tonfall ausgesprochen. Man stellt sich
Menschen vor, die verhärmt in dunklen Wohnungen sitzen",
heißt es passend zum
Thema Einsamkeit. Im gestrigen Focus heißt es dagegen:
"15 Millionen Singles
hierzulande. Damit lebt jeder Fünfte - in den Großstädten
gar jeder Vierte - nicht in einer Partnerschaft."
Im Mittelpunkt der
Focus-Titelgeschichte stehen nämlich nicht die einsamen
Alleinlebenden, sondern die große Freiheit der Singles.
Die
derzeit aktuellen Zahlen zu Einpersonenhaushalten stammen
aus dem Jahr 2013. Damals gab es in Deutschland 16,176
Millionen Einpersonenhaushalte, aber nur 15,757 Millionen
Alleinlebende, weil zu den Einpersonenhaushalte sowohl
Haupt- als auch Nebenwohnsitze gezählt werden.
Amtsstatistiker und
Haushaltsfetischisten unter den Soziologen und Ökonomen
definieren ein Paar amtsstatistisch durch das gemeinsame
Haushalten, während sich in der Bevölkerung immer weniger
Paare durch einen gemeinsamen Haushalt definieren, obgleich
sie sogar in einer gemeinsamen Wohnung leben, im gleichen
Haus, in der gleichen Stadt oder aber aus beruflichen
Gründen eine Fernbeziehung führen.
NIEJAHR,
Elisabeth & Kolja RUDZIO (2015):
Und jetzt?
Wer nicht mehr arbeitet, ist seine Pflichten los. Das kann
zum Problem werden. Wie man es im Ruhestand schafft, der
Langeweile und der Einsamkeit zu entkommen,
in:
Die ZEIT Nr.31
v. 30.07.
KAMANN, Matthias (2015): Die jungen Alten.
Die Erwerbstätigkeit bei Senioren steigt. Viele pflegen
aufopferungsvoll Angehörige zu Hause. Frauen aber droht
Einsamkeit im demografischen Wandel,
in:
Welt
v. 30.07.
GRASSHOFF,
Friederike Zoe (2015): Leerstelle.
Jeder ist vernetzt, wo soll da noch Platz für Einsamkeit
sein? Nun will ein Autor ein verdrängtes Gefühl wieder
salonfähig machen,
in: Süddeutsche
Zeitung v. 22.08.
FEIX, Thomas (2015): Die Einsamen erkennt man nicht.
Seit Peters Tod ist ihr die Wohnung zu groß, und die Tage
sind es auch. Sie geht raus, damit die Zeit vergeht. Doch
Britta gibt nicht auf,
in:
Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung v. 04.10.
LANGENAU, Lars
(2015): Schriftverkehr.
Im Internet nehmen
sogenannte Love-Scammer einsame Frauen aus und hinterlassen
gebrochene Herzen. Ein Opfer erzählt, wie es auf einen
Betrüger hereinfiel,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 10.10.
PSYCHOLOGIE
HEUTE-Titelgeschichte: Zum Glück allein.
Warum Sie bei sich selbst gut
aufgehoben sind |
NUBER, Ursula
(2015): Editorial,
in:
Psychologie Heute, Dezember
Ursula NUBER setzt
Singles mit Alleinlebenden gleich. Bei aller vorgestellter
Heterogenität wird jedoch die große Zahl der Paare ohne gemeinsamen
Haushalt ignoriert, denn diese moderne, mobile Lebensform passt nicht zum Bild des typischen
Alleinlebens, das ein Produkt der 1990er Jahre ist.
Die Zahlen, die NUBER präsentiert
stammen vom Sommer 2012, d.h. dem Mikrozensus 2011. Das war nicht der letzte
Mikrozensus wie NUBER erzählt, aber es war der Letzte, der die Zahlen
zu Alleinlebenden mundgerecht für Journalisten servierte. Die letzten
verfügbaren Zahlen stammen vom Mikrozensus 2014. Demnach ist der
Anteil der Alleinlebenden fast gleich geblieben: Gab es im Jahr 2011
ca. 19,64 % Alleinlebende, so sind es im Jahr 2014 ca. 19,7 % (Anstieg
von 15,898 auf 15,997 Millionen Alleinlebende). Die Zahlen aus dem
Jahr 2011 sind jedoch nicht zensuskorrigiert.
Seit Mitte der Nuller Jahre hat im
Mainstream der deutschen Gesellschaft ein
Paradigmenwechsel in Sachen Alleinsein bzw. Einsamkeit
stattgefunden. Darauf deutet das Phänomen "Mangel an
Einsamkeitsfähigkeit" hin, das NUBER erwähnt. War in der hysterischen
Debatte um die Single-Gesellschaft in den 1980er/1990er Jahren oftmals Einsamkeit
auf soziale Isolation reduziert worden, so gilt Einsamkeit neuerdings
als selbst verschuldet:
"Situationen des Alleinseins können
auch für Menschen, die in festen sozialen Bindungen leben, eine
Herausforderung sein, die sie nicht immer gut bewältigen.
Alleinsein zu können ist eine Kompetenz, an der es vielen Menschen
mangelt".
Einsamkeit wird zur Ressource bzw. zum Regulationsmechanismus im
Zeitalter des Selbstunternehmers.
HECHT, Martin (2015): Zum Glück allein.
Die Bibel hat recht "Es ist nicht
gut, dass der Mensch allein sei." Einsamkeit ist kein schöner Zustand.
Doch oft gerät in Vergessenheit: Alleinzeiten sind Voraussetzung für
ein erfülltes Leben. Sie sind Oasen in der Wüste der
Dauerverbundenheit,
in:
Psychologie Heute, Dezember
"Sucht man nach einer positiven
Begleitung (...), wird man eher bei der Philsophie als bei der
Psychologie fündig (...). Letztere sah bislang im Menschen in erster
Linie ein Beziehungswesen und stufte einen Mangel an Bindung zu jedem
Lebenszeitpunkt als problematisch ein",
merkt NUBER zum Beitrag von Martin
HECHT an, der sich der Thematik kulturgeschichtlich nähert:
"Einsamkeit wurde ursprünglich
nicht ausschließlich mit einem bedrückenden Zustand in Verbindung
gebracht. Das mag daran liegen, dass die Verlusterfahrung von
Gemeinschaftsformen noch nicht so virulent erlebt wurde wie in der
Gegenwart. Kulturgeschichtlich gerät die Einsamkeit erst mit dem
Beginn der Moderne unter Generalverdacht, und zwar in dem Maß, in dem
die Bande der traditionellen Gesellschaft zerreißen und den Menschen
in Vereinzelung zurücklassen."
Nicht so sehr die Psychologie - wie
NUBER behauptet - , sondern die Soziologie in Verbindung mit der
Psychoanalyse hat das Alleinsein bzw. die Einsamkeit unter
Generalverdacht gestellt. Der Aufstieg und Niedergang der einseitig
wahrgenommenen Individualisierungsthese von Ulrich BECK geht einher
mit der Blickverengung auf die soziale Isolation und die negative
Sicht auf Einsamkeit. Die große Ausnahme war in dieser Zeit der
Beitrag
Solitäre Enklaven von Peter GROSS, der die positive Sicht auf
das Alleinsein/die Einsamkeit hervorhob. Am Beispiel des Alleinreisens
wurde dieser Ansatz hier gewürdigt.
Während Martin HECHT im Jahr 2000
noch dem
Verschwinden der Heimat in der Offline-Gesellschaft
nachtrauerte, muss nun die Online-Gesellschaft als Ursache mangelnder
Einsamkeitsfähigkeit herhalten. Wenn Einsamkeitsfähigkeit jedoch auf
eine psychische Kompetenz bzw. Ressource reduziert wird, dann geraten
die gesellschaftlichen Verhältnisse einer neoliberalen Gesellschaft der
Selbstunternehmer aus dem Blick.
TRÄGER, Eva-Maria (2015): Ich bin nicht allein, ich habe ja mich.
Alleinsein ist für viele ein Übel,
das unbedingt zu meiden ist. Wer den Alleingang scheut, mag sich
sicher fühlen - er nimmt sich damit aber auch die Chance auf wertvolle
(Selbst-)Erfahrungen,
in:
Psychologie Heute, Dezember
Eva-Maria TRÄGER widmet sich der Frage, warum wir so ungern alleine
ausgehen bzw. alleine reisen, obwohl wir uns dadurch wichtige
Erfahrungen entgehen lassen. Welche Ängste halten Singles bzw.
Partnersuchende von Aktivitäten außer Hause ab (mehr auch
hier und
hier)? Befürchten wir das negative Urteil der Anderen zu Recht
oder leiden wir unter Wahrnehmungsverzerrungen?
Verschafft uns das Alleinreisen nicht wichtige neue Erfahrungen?
Liegen die Ursachen unseres Unwohlseins in der Kindheit. Können wir
das Alleinsein erst genießen, wenn unsere Grundbedürfnisse gestillt
sind, wie das z.B. der Psychologe Abraham MASLOW annimmt, oder ist
nicht vielmehr entscheidend, ob unser
Alleinleben als mehr oder weniger
freiwillig erlebt wird?
WELT
AM SONNTAG-Titelgeschichte:
Warum wir so einsam
sind.
Die Furcht
vor dem Alleinsein ist das dominante Gefühl der Zeit.
Bindungsängste und Nomadentum im Job treiben immer mehr Menschen
in die Isolation |
GASCHKE, Susanne (2015):
Zu oft allein.
Weihnachten rückt näher – für alle Einsamen die schrecklichste Zeit
des Jahres. Susanne Gaschke nähert sich einem Leiden, das immer mehr
Menschen in unserer hochmodernen Gesellschaft kennen. Ein bisschen
Hoffnung freilich gibt es,
in:
Welt am Sonntag v. 06.12.
Susanne GASCHKE ("Die
Emanzipationsfalle") liefert einen 08/15-Artikel ab, der ohne
empirische Daten zur Einsamkeit in Deutschland auskommt.
Stattdessen werden US-amerikanische Soziologen wie David RIESMAN ("The
Lonely Crowd") und Richard SENNETT ("Der
flexible Mensch") zitiert. Aus der Entwicklung der Einpersonenhaushalte und der Scheidungsziffern
wird kurzerhand auf Einsamkeit geschlossen. Während im
aktuellen Psychologie Heute-Heft,
Einsamkeit als Mangel an "Einsamkeitsfähigkeit" beschrieben wird,
bleibt GASCHKE dem altmodischen Gemeinschafts-Paradigma der
Soziologie verhaftet. Sowohl die Psychologisierung als auch
die Gleichsetzung von Einsamkeit mit objektiven Indikatoren
blendet die Demographisierung gesellschaftlicher Probleme aus und
die damit verbundene Normierung der Sichtweisen auf
gesellschaftliche Phänomene.
Warum erscheinen gehäuft
Einsamkeits-Artikel vor Weihnachten, obwohl Einsamkeit an keine
bestimmte Zeit gebunden ist, sondern an individuelle Situationen?
Die Familie gilt insbesondere in Zeiten der Demographiepolitik als
Wert, der für alle in Form der
Kernfamilie gelebt werden sollte.
Tatsächlich ist dies ein enger Familienbegriff, der z.B. Freunde
oder andere Wahlfamilien ausschließt. In diesem Sinne wären
solche Artikel über Einsamkeit Teil des Problems: Sie erzeugen
mithin erst Einsamkeitsgefühle.
AUTHALER, Theresa (2015): Hauptsache, nicht allein sein.
Immer mehr Menschen stehen im Alter
ohne Familie da. Die Angst vor der Einsamkeit verschafft Senioren-WGs
großen Zulauf. Auch die Politik hat gemerkt, dass sie sich der neuen
Form des Zusammenlebens annehmen muss,
in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 06.12.
NIEJAHR, Elisabeth
(2015): Helfen statt Heulen.
Alt und Jung: Ein Werbefilm
über einen einsamen alten Mann rührt Millionen. Dabei sind immer
weniger Menschen allein,
in:
Die ZEIT
Nr.50 v. 10.12.
Elisabeth NIEJAHR
erwidert auf den Einsamkeits-Mainstream in deutschen Medien
(mehr hier und
hier):
"Einsamkeit sei das
große Problem der Gegenwart, heißt es derzeit,
Single-Statistiken und
Scheidungsraten gelten als Belege. In der Tat waren
noch nie so viele Menschen gut darin, Einsamkeit zu
überwinden. Sozialwissenschaftliche Studien zeigen: Die
Menschen haben mehr Lust auf Gemeinschaft als früher,
gerade wenn sie alt sind."
Genannt wird eine
"kürzlich" erschienene Studie von Eric KLINENBERG:
Going Solo
aus dem Jahr 2012 und eine Befragung des Gerontologen
Andreas KRUSE. Die Scheidungsrate ist
nach Ansicht von NIEJAHR kein geeigneter Indikator für
Einsamkeit, denn:
"In Deutschland sind
sie seit vielen Jahren nahezu stabil. Das grenzt an ein
Wunder, wenn man bedenkt, dass der gesellschaftliche Druck
zum Heiraten abnimmt, die Suche nach einem neuen Partner
durch das Internet einfacher wird und außerdem die
Lebenserwartung steigt.
Die durchschnittliche Dauer von Ehen fällt daher nicht,
sondern steigt."
Nur Arme und Hochaltrige
kämpften wirklich mit der Einsamkeit, meint NIEJAHR. Zu den
Armen schweigt NIEJAHR, nur Hochaltrigen denkt sie mittels
Internetplattformen wie The Amazings aus ihrer
sozialen Isolation helfen zu können.
SIMON, Felix
(2015): An Weihnachten wird's viral.
Auf die Verpackung kommt es
an: Edeka schenkt sich zum Fest der Liebe einen Werbespot, der
auf Youtube Rekorde bricht. Warum lassen sich plötzlich
Millionen von Reklame zu Tränen rühren?
in:
Frankfurter Allgemeine
Zeitung v. 10.12.
"Für die Kampagnen zum
Fest der Liebe scheinen den Kreativen in den Agenturen
männliche oder weibliche Singles als Werbeträger
ungeeignet. Sie könnten mit Einsamkeit assoziiert werden –
wie »unsexy«",
schrieb Ursula NUBER
im aktuellen Psychologie Heute-Heft.
Der Edeka-Werbespot Heimkommen zeigt dagegen,
dass Einsamkeit durchaus Werbefilm tauglich ist.
"Dass viele Menschen
leiden wie Petra und Torsten, zeigen die heftigen
Reaktionen auf den aktuellen Edeka-Weihnachtswerbespots,
in dem es um einen einsamen alten Mann geht. Das Gefühl
der Verlorenheit prägt unsere Zeit",
meint die ehemalige
ZEIT-Redakteurin Susanne GASCHKE
in der Welt am Sonntag, während Elisabeth NIEJAHR
in der heutigen ZEIT
schreibt:
"Wenn in diesem Jahr
mehr Großeltern Post von ihren Enkeln bekommen und mehr
Gedichte in Altenheimen vorgetragen werden, könnte das
(...) an Edeka liegen."
Dabei denkt sie lediglich
an Fernsehzuschauer und nicht wie Felix SIMON an
Internetplattformen. Nicht Einsamkeit, sondern kein Egoist
sein zu wollen, sei das Motiv, das dem Werbefilm zur
Verbreitung durchs Netz verholfen hat, meint SIMON.
KÖLNER
STADT-ANZEIGER-MAGAZIN-Thema: Einsame
Spitze.
An Festtagen wird Alleinsein oft
als schmerzvoll empfunden - Vielleicht kann man ihm aber auch
etwas Gutes abgewinnen |
FLOSS, Julia
(2015): Urlaub von den Anderen.
Einsamkeit ist Angst und Luxus zugleich - Ein Versuch, ein
ambivalentes Gefühl zu erklären,
in: Kölner
Stadt-Anzeiger Magazin v.
24.12.
2016
WEIDERMANN, Volker (2016): Poesie heilt.
Literatur: Ein Leseprojekt
in Liverpool hilft vielen Kranken und Einsamen. Auf der
Buchmesse in Leipzig präsentiert sich der deutsche Ableger,
in:
Spiegel Nr.11 v.
12.03.
SCHMIDT,
Stephanie (2016): Die Geheimnisse der Einsamen.
Nachlasspfleger müssen über
zahlreiche Fähigkeiten verfügen. Sie fahnden in aller Welt
nach Erben und helfen, Mietverhältnisse abzuwickeln. Sie
werden auch dann aktiv, wenn alleinstehende Menschen sterben -
ein zunehmendes Problem in Großstädten,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 15.04.
Stephanie
SCHMIDT schildert eingangs den Fall eines Mannes, der seit 20
Jahren allein in einer Wohnung in einer Mietskaserne mit 60
Parteien lebte und 6 Wochen tot in der Wohnung lag.
Nachlasspfleger werden gemäß Artikel häufig mit dieser
Situation konfrontiert - Zahlen zur tatsächlichen Häufigkeit
solcher Fälle bleibt der Artikel auf der Immobilienseite der
SZ jedoch schuldet. Es geht SCHMIDT auch nicht um das
einsame Sterben, sondern darum, was ein Vermieter in einem
solchen Fall tun darf bzw. muss.
RÖTZER, Florian (2016): Sterberisiko Einsamkeit.
Soziale Isolation und
Einsamkeit könnten das Schlaganfall- und Herzinfarktrisiko
ähnlich wie Rauchen, Angst oder Stress deutlich erhöhen,
in:
Telepolis v. 21.04.
BISCHOFF, Katrin
(2016): "Mir fehlt nüscht".
Eva Staikowski wagte nach dem Tod
ihres Mannes den Neuanfang. Als es ihr zu einsam wurde, zog sie ins
Seniorenwohnhaus Singerstraße. Dort blüht die 88-Jährige auf,
in:
Berliner Zeitung v. 26.05.
HÖFLINGER,
Laura (2016): Neue Nähe.
Psychologie: Viele Menschen
verbringen mehr Zeit mit ihrem Smartphone, bei Chat und
Spiel, als mit ihrer Familie. Sind wir vernetzt wie nie - und
versinken doch in Einsamkeit? Nein: Es geht uns gut,
in:
Spiegel Nr.27 v.
02.07.
RATZESBERGER, Pia (2016): Das Geld der Einsamen.
Sie fahndet Jahre nach
Menschen, von denen sie nicht einmal weiß, ob es sie
tatsächlich gibt: Sybille Wolf-Mohr ermittelt Erben - aber
nur, wenn es um ein beträchtliches Vermögen geht,
in:
Süddeutsche
Zeitung v. 09.07.
NIEBERDING,
Mareike (2016): Nach zehn Jahren Einsamkeit bin ich wieder
Teil von etwas Größerem.
Hinter jeder Tür tut sich
eine Geschichte auf,
in:
Neon,
August
SCHOBIN, Janosch
(2016): "Armenbestattungen" im modernen Sozialstaat.
Zeitliche Entwicklung,
Ursachen und Probleme des Ordnungsbestattungswesens in
deutschen Groß- und Mittelstädten,
in:
Zeitschrift für
Sozialreform, Heft 3, S.301-329
Der Soziologe Janosch
SCHOBIN beschäftigt sich in dem Beitrag mit den Gründen für
die Zunahme von anonymen Armenbestattungen, die bislang
vorwiegend ein Fall für reißerische Zeitungsberichte über
einsames Sterben oder Berichte über die Kostenexplosion
waren. SCHOBIN zitiert lediglich Zeitungsberichte seit dem
Jahr 2007, obwohl das Thema schon länger akut ist. Peter
Philipp SCHMITT bringt es z.B.
2004
in der FAZ mit Sozialstaatsreformen in
Zusammenhang:
"Eine Beerdigung ist
teuer: Im Schnitt zahlt ein Deutscher 5.000 Euro. Noch in
den achtziger Jahren erhielten Angehörige, die für die
Bestattung aufkamen, mehr als 4.000 Mark von der
Versicherung des Verstorbenen. In den neunziger Jahren
wurde das sogenannte Sterbegeld der gesetzlichen
Krankenkassen mehrfach reduziert. Bis zum vergangen Jahr
waren es dann noch rund 500 Euro. Am 1. Januar 2004 wurde
der Zuschuß endgültig gestrichen. Zugleich stieg die Zahl
der Toten, die von den Kommunen bestattet werden müssen,
deutlich an: In Hamburg waren es 1998 rund 380, im
vergangenen Jahr waren es schon mehr als 800.Und in den
ersten vier Monaten dieses Jahres wurden bereits 265 Tote
ohne Angehörige auf dem dafür zuständigen Friedhof
Öjendorf beigesetzt; allerdings läßt sich die Zahl nicht
einfach mit drei multiplizieren, da in den Wintermonaten
mehr Menschen sterben als im Sommer."
Die Ursachenanalyse zum
Thema stößt jedoch auf ein gravierendes Datenproblem, denn
es gibt keine systematische, und erst Recht keine
bundesweite Erfassung von so genannten Ordnungsbestattungen.
Wenn überhaupt, dann wird lediglich das Geschlecht
festgehalten. Selbst in Großstädten oder gar Metropolen ist
die Erfassung kaum und wenn, nur sehr lückenhaft. Wenig
erstaunlich, dass sich SCHMITT auf Hamburger Zahlen bezieht,
denn Hamburg gilt in Sachen Statistik als Pionier:
"Exemplarisch kann der
zeitliche Verlauf am Fall der Stadt Hamburg erläutert
werden, die Daten zu Bestattungen von Amts wegen schon
seit 1994 erhebt. Es zeigt sich, dass das Problem der
Bestattung von Personen ohne oder ohne bestattungswillige
Angehörige Mitte der 1990er Jahre nahezu unbekannt war.
Die Anzahl der ordnungsamtlichen Bestattungen stieg dann
jedoch rapide an. Um 2004 herum stagnierten die absoluten
Zahlen",
erklärt uns SCHOBIN. Der
Artikel von SCHMITT würde also just in jene Zeit fallen, in
der das Phänomen sich nicht dem Trend folgend ausweitet,
sondern stagniert. Dies hängt jedoch gemäß SCHOBIN damit
zusammen, vor allem damit zusammen dass seitdem jene
Generation stirbt, die viele Kinder geboren haben und eine
geringe Scheidungsrate aufwiesen. Dieser Trend kehrt sich
zukünftig um. Auch SCHOBIN bringt das Phänomen der
Armenbestattungen mit dem Wandel des Sozialstaats zusammen:
"Die Frage lautet nun,
was passiert, wenn die Institutionen eines
gewährleistenden, aktivierenden Wohlfahrtsstaates (Lessenich
2008, Vogel 2007), die ihre Rolle idealiter in der
Mobilisierung und Entwicklung individueller Ressourcen und
der Herstellung eines minimalen Sicherheitsniveaus sehen,
zusehends mit den Anforderungen eines »fürsorgenden«
Sozialstaates konfrontiert werden, der stellvertretend
jenen Platz im Leben der Einzelnen einnehmen soll, den
vorher normativ integrierte soziale Nahwelten wie
Familien, Verwandtschaften und Nachbarschaften ausgefüllt
haben. Die Legitimationslogiken, aber auch die
Rechtspraktiken des aktivierenden, gewährleistenden
Sozialstaats kommen dabei aus offensichtlichen Gründen an
ihre Grenzen. Das Ordnungsbestattungswesen kann demnach
als exemplarischer Ort der Erprobung eines neuen - oder
vielleicht auch eines rückkehrenden - fürsorglichen
Verhältnisses zwischen Staat und Individuum angesehen
werden." (2016, S.302)
Man sollte SCHOBIN hier
nicht missverstehen. Der Soziologe interessiert sich
keineswegs für die Mittellosen, die Dementen oder
Bindungslose, sondern im Gegenteil: Es geht ihm lediglich um
die privilegierte Schicht des individualisierten Milieus,
obwohl diese Gruppe eher nur einen kleinen Teil des
Phänomens zu betreffen scheint - wirkliche Erkenntnisse muss
die Studie aufgrund der Datensituation schuldig bleiben.
SCHOBIN stellt 3 Ursachen heraus, die er anderen Studien
entnimmt:
1) Effekt der
Intersektion von Geschlecht, Armut und Kinderlosigkeit:
"Männer mit niedrigen
Bildungsabschlüssen sind (...) eine der sozialen Gruppen
mit besonders hoher Kinderlosigkeit (Schmitt 2004). Bei
ihnen treten demnach oft zwei Konditionen gleichzeitig
auf, die gute Prädiktoren für soziale Isolation sind und
die zudem systematisch zusammenhängen: Armut und schwache
Familienbindung (...). Zusammengenommen ist daher die
Vermutung triftig, dass Männer verglichen mit Frauen
deshalb so häufig vom Amt bestattet werden, weil sie
häufig zugleich vereinsamt und verarmt sind." (2016,
S.317)
SCHOBIN verweist darauf,
dass bislang in erster Linie Frauen im Fokus der
Einsamkeitsforschung stehen, was im Lichte dieser Erkenntnis
revidiert werden müsste.
2) Scheidungsfolgen:
Männer wurde im Zuge der feministischen Bewegung nach
Scheidungen der Umgang mit Kindern seltener gestattet,
wodurch es zu Entfremdung kommt. Kinder können gemäß SCHOBIN
zwar zur Übernahme der Kosten, aber nicht zur Bestattung
gezwungen werden.
3) Verschiebungseffekt:
Durch die geringere Lebenserwartung von Männern sterben
bereits mehr Männer als Frauen aus den geburtenschwachen
Jahrgängen.
SCHOBIN teilt die von
Armutsbestattung Betroffenen in defizitäre Lebensformen
(Kinderlose, Partnerlose, Geschiedene und sozial Isolierte)
und selbstgewählte Lebensformen ein:
"Hoch individualisierte
Einzelgängerinnen, Freundschaftszentrierte (...) und
queere Menschen (...) etwa, die durchaus Kinder und
Partner haben können, ihnen aber eine weniger prominente
Rolle zuweisen" (2016, S.319).
Lediglich den Problemen
dieser privilegierten Gruppe widmet sich SCHOBIN
ausführlicher, nachdem er vier typische Fälle unterschieden
hat:
1) Der/die Verstorbene
hat keine gesetzlichen Angehörigen
2) Der/die Verstorbene hat Angehörige, aber sie können nicht
rechtzeitig ausfindig gemacht werden
3) Die Angehörigen sind bestattungsunwillig
4) Die Angehörigen sind bestattungsunwillig aber mittellos,
das Sozialamt weigert sich, die Kosten vorzustrecken, (oder
agiert langsam,) und die Bestatter weigern sich, den/die
Verstorbene/-n ohne eine klare Zusage der Übernahme der
Kosten durch das Sozialamt zu bestatten.
Fall 1-3 stellt für
Freundschaftszentrierte, um die sich SCHOBIN besonders
kümmert, kein Problem dar, weil dies in der Regel informell
gelöst werden kann.
"Hochproblematisch sind
(...) Amtspraktiken, die den nicht-verwandten
Hinterbliebenen die Möglichkeit verwehren, der Bestattung
beizuwohnen und auf die Gestaltung der Beerdigung
einzuwirken. Das wird sich häufig mit einsamen, namenlosen
Begräbnissen decken. Der korrekte Grund für den Unmut der
nicht-verwandten Hinterbliebenen ist dann aber nicht die
»sittenlose« Art des Begräbnisses, sondern dass hier die
verfassungs- und gewohnheitsmäßigen Rechte des
Verstorbenen und seiner Hinterbliebenen verletzt wurden",
meint SCHOBIN. Handlungs-
und Empörungsbedarf möchte er hinsichtlich des vierten
Falles wecken, weil das Sozialgesetzbuch Ursache dafür ist,
dass die "bestattungswilligen aber mittellosen Angehörigen
systematisch zwischen Ordnungsbehörde und Sozialamt
»zerrieben«" werden und sich dann mit einer unwürdigen Form
der Bestattung abfinden müssen. Zusammenfassend sieht
SCHOBIN hauptsächlich bei hochindividualisierten
Einzelgängern, Freundschaftszentrierten und Geschiedenen
Passungsprobleme zwischen gesetzlichen Regelungen und
Lebenswirklichkeit.
Fazit: In dem Beitrag
wird eher eine privilegierte Minderheit in den Mittelpunkt
gestellt. Schuld daran hat auch die Datenlage, die eine
systematische Erfassung des Phänomens derzeit unmöglich
macht. Dies ist der eigentliche Skandal. Am ehesten gelangen
Armutsbestattungen als Kostenfaktor in den Blickpunkt.
Daneben haben am ehesten noch die Kirchen ein Eigeninteresse
an dem Phänomen, inwieweit dies jedoch mit den Interessen
der Betroffenen übereinstimmt, ist eine andere Sache.
Kritisch wird das Phänomen von der Bestattungsbranche
gesehen, der es in erster Linie um entgangene Profite geht.
In dieser Sicht laufen Bestrebungen, dass Menschen ihre
Bestattung möglichst frühzeitig selber regeln.
Altersvorsorge ist nicht mehr nur eine Frage der
Versicherungswirtschaft!
CLAUß, Anna/NEZIK,
Anne-Kathrin/OLBRISCH, Miriam (2016): Die Sehnsuchenden.
Liebe: Die Partnerlosigkeit
in Deutschland hat einen neuen Höchststand erreicht. Viele
Singles fühlen sich beziehungsunfähig, doch ihr Problem ist
die übergroße Auswahl - und ihr Selbstmitleid. Echten Grund
zur Sorge hat nur eine Gruppe: Frauen ab Mitte Dreißig,
in:
Spiegel Nr.43 v.
22.10.
Einen stümperhaften
Artikel haben CLAUß/NEZIK/OLBRISCH da zusammengebastelt.
Fakten ist nicht das Ding dieser Autorinnen:
"Die neuesten Zahlen
zur Partnerlosigkeit in Deutschland zeigen (...): In der
Gruppe der 25- bis 35-Jährigen hat sie einen neuen
Höchststand erreicht. (...)
Nach Auswertungen des Heidelberger Soziologen Jan Eckhard
ist die Zahl der Singles in den vergangenen 20 Jahren um
50 Prozent gestiegen. Waren 1993 noch 23 Prozent der
Deutschen ohne festen Partner, gaben 2014 35 Prozent der
Befragten an, in keiner festen Beziehung zu leben."
Wollen die Autorinnen
hier die Gruppe der 25- bis 35-Jährigen beschreiben oder
Deutsche? Welche Deutschen wurden überhaupt befragt? Und wie
ist Partnerlosigkeit definiert? Nichts davon lesen wir,
stattdessen ein Schaubild, das fälschlicherweise mit "Solo"
betitelt ist. In Wahrheit stellt es jedoch lediglich den
Anstieg der Alleinstehenden (Einpersonenhaushalt als
Hauptwohnsitz) dar - was mit Partnerlosigkeit wenig, mit
Paaren ohne gemeinsamem Haushalt jedoch viel zu tun hat.
Dass ein Titel wie
Generation Beziehungsunfähig von Michael NAST 11 Wochen
lang auf der Spiegel-Bestseller-Liste stand, soll von
uns als Qualitätsmerkmal gelesen werden. Es bedeutet jedoch
eher, dass es gut geeignet für Small Talk ist - mit der
Realität in Deutschland hat das eher wenig zu tun.
"Es klingt wie ein Satz
aus Michael Nasts Kolumnensammlung".
Möglicherweise deshalb,
weil die Kolumnensammlung das Auswahlkriterium für die
vorgestellten Singles war?
Fazit: Fakten? Außer den
zitierten, die keinen Aufschluss über Partnerlosigkeit in
Deutschland geben: Keine! Stattdessen werden uns Singles
präsentiert, die den Klischees entsprechen, die seit Ende
der 1990er Jahre über Singles in den Mainstreammedien
gepflegt werden.
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